Venexia

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STEFAN HILDEN


HINTER DEN KULISSEN VON VENEDIG



»Ea morte de Venexia, xe anca ea morte mia« / »Wenn Venedig stirbt, so sterbe auch ich.« Inschrift auf einer Gondel aus dem 18. Jahundert

Ich bedanke mich bei den Künstlern des Künstlerkollektives »Organico« ohne die dieses Buch nicht möglich gewesen wäre:

Federica Montesanto

Giorgia Busato

Silvia Iesse

Stefano Mancini

Besonderer Dank an:

Eckhard Waasmann

Wir danken der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien für die freundliche Unterstützung aus Mitteln des Förderprogramms »Neustart Kultur – Erhaltung und Stärkung der Kulturinfrastruktur und Nothilfen«.

Inhalt

WANDEL – Palazzo Mora

AUFBRUCH – Kunstakademie Venedig

RÜCKZUG – Forte Marghera

HOFFNUNG – Bootsmuseum

PASSION – Lab43

NIEDERGANG – Officina Lampadari

LEIDENSCHAFT – Vetrate artistiche

STILLSTAND – Veneland

ANGST – Psichiatria infantile

BEWAHREN – Antiquariato

OASEN – Gärten und Parks

VERFALL – Ospedale al mare





Wenn man in Venedig lebt, möchte man vor allem eines nicht: fotografiert werden. Jedes bisschen Privatheit muss erkämpft werden. Und doch kriechen die Objektive der Touristen und Fotografen in jeden Winkel. Die einen suchen Erinnerungen, die anderen ein Geschäft. Doch man bleibt sich gegenseitig fremd: Die Gäste interessieren sich nur für die Oberfläche, für das, was sie für typisch venezianisch halten.

Funktionale Stadt oder Attraktion?

Während meiner ersten Fotoarbeiten in Venedig bekam ich im Laufe der Zeit zunehmend die Reserviertheit der Einwohner zu spüren. Ich bemerkte, dass man mit der Kamera eine Grenze übertrat. Irgendwann fühlte es sich nicht mehr richtig an, Venedig und die Venezianer als meine Motive zu benutzen. Also habe ich meine Fotoausrüstung zusammengepackt und das Gespräch mit den Menschen gesucht. Es war interessant zu erfahren, wie sehr sie es schätzen, wahrgenommen zu werden. Wie sehr sie sich wie Tiere im Zoo fühlen, die wieder und wieder fotografiert werden, ohne dass jemand sich für die Hintergründe ihres Lebens interessiert. In Venedig gibt es, wie überall, alltägliche Probleme: Wie lebt es sich in einem Renaissance-Disneyland? Wo kann ich für den täglichen Bedarf einkaufen, wenn es sich für die Ladenbetreiber mehr lohnt, Andenken zu verkaufen? Wo geht mein Kind zur Schule und wie kommt es dahin? Wie finde ich eine Studentenbude, wenn die Vermietung an Touristen ein Mehrfaches einbringt?



Die Antworten fallen unterschiedlich aus. Je mehr Venedig sich an die Touristen verkauft, desto schwieriger wird es, einheitliche Antworten zu finden. Sind die großen Kreuzfahrtschiffe, die auf Steinwurfweite an dem historischen Stadtkern vorbeifahren, um ihren Gästen ein unvergessliches Erlebnis zu bieten, von Übel? Je nachdem, wen man fragt: Die Hausbesitzer hassen sie, da sie die jahrhundertalte Grundstruktur und die Fundamente der Stadt zerstören. Die Taxibootfahrer, Gondolieri und Andenkenverkäufer machen dank ihnen das Geschäft ihres Lebens. Die Hoteliers und Restaurants wiederum verdienen kein Geld mit den Gästen und sind dagegen.

Was fehlt, ist ein runder Tisch. Alle Interessen gehörten gebündelt, und es bräuchte eine Vision für die Zukunft. Was will man sein? Eine funktionale Stadt oder eine Attraktion? Da das seit Jahrzehnten ungeklärt ist, schaffen sich die Menschen ihre eigene Zukunft. Es gab und gibt Pläne verschiedener Gruppen, ein paar umliegende Inseln zu kaufen und dort neu anzufangen. Doch wer darf dort hin? Wird das limitiert? Was, wenn auch Venezia Nuovo in den touristischen Fokus gerät und das große Geschäft winkt? Mitten in Europa haben wir hier also eine sozialpolitische Problemstellung, wie wir sie eher in exotischen Gegenden erwarten würden.

Andere Einheimische weichen dem finanziellen und ökonomischen Druck aus und suchen sich auf dem Festland ihre Nischen. Vor allem Künstler, die sich nicht für die Touristen prostituieren wollen, finden im alten Venedig keine Möglichkeit, sich zu entfalten. Bezahlbaren Wohn- und Arbeitsraum wird man in Venedig nicht finden. Künstler, die an der Accademia Venezia ausgebildet wurden, haben sich nach und nach in einem alten verlassenen Fortezza auf dem Festland ein neues Refugium geschaffen. Was sozusagen als Instandbesetzung begonnen hat, ist mittlerweile ein lebendiges Zentrum mit Gastronomie, Events und einer symbiotischen Beziehung zur Kunstbiennale geworden. Aber auch hier offenbart sich das Dilemma des modernen Tourismus: Wir zerstören, was wir lieben. Denn mit Originalität lässt sich zwar ein gutes Geschäft machen, sobald sie aber kommerzialisiert wird, ist es mit der Individualität vorbei. Die Frage bleibt nur, wohin Vertriebene gehen, wenn sie weiter vertrieben werden.

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