Das gefallene Imperium 8: Auf Leben und Tod

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Aus der Reihe: Das gefallene Imperium #8
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Das gefallene Imperium 8: Auf Leben und Tod
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Inhalt

  Prolog

  Teil I. Verzweifelter Widerstand

  1

  2

  3

  4

  5

  Teil II. Verzweifelte Taktik

  6

  7

  8

  9

  10

  11

  12

  13

  14

  15

  16

  17

  18

  Teil III. Die Feinde vor den Toren

  19

  20

  21

  22

  23

  24

  25

  26

  27

  28

  29

  30

  Epilog

  Weitere Atlantis-Titel



Eine Veröffentlichung des

Atlantis-Verlages, Stolberg

September 2020


Druck: Schaltungsdienst Lange, Berlin


Titelbild: Giusy Lo Coco

Umschlaggestaltung: Timo Kümmel

Lektorat und Satz: André Piotrowski


ISBN der Paperback-Ausgabe: 978-3-86402-745-1

ISBN der E-Book-Ausgabe (EPUB): 978-3-86402-748-2


Dieses Paperback/E-Book ist auch als Hardcover-Ausgabe direkt beim Verlag erhältlich.


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Prolog

Dunkle Zukunft Samadir Grenzplanet zwischen der Kooperative und der Konföderation demokratischer Systeme 9. Mai 2891

Sergeant Gary Haskel ließ zischend die rechte Armklinge seiner Rüstung ausfahren. Er drehte sich behände um die eigene Achse und erwischte den angreifenden Jackury genau an der Verbindungsstelle zwischen Vorder- und Hinterleib. Der Legionär zerteilte das Insekt mitten im Flug. Die beiden blutigen Bruchstücke setzten ihren Weg ungebremst fort und landeten irgendwo rechts von ihm inmitten der Überreste der bereits verlorenen Schlacht.

Gary ließ sich in die Hocke nieder und nutzte die Rüstungen mehrerer gefallener Kameraden als Deckung. Sein Blick glitt auf der Suche nach weiteren Bedrohungen umher. Gleichzeitig rangen in seinem Inneren Trauer, Fassungslosigkeit und Verzweiflung miteinander.

Die 215. republikanische Legion war vor fünf Tagen als Teil einer multinationalen Streitmacht hier gelandet, um den Planeten gegen den Ansturm des Feindes zu verteidigen.

Die 215. war dabei eine von drei weiteren republikanischen Legionen gewesen. Sie hatten nicht gewusst, worauf sie sich einließen. Wie hätten sie das auch ahnen können? Natürlich hatten sie Gerüchte gehört. Geschichten über grauenvolle Schlachten und Wesen, die man lediglich als albtraumhaft bezeichnen konnte, machten die Runde und wurden bei jeder sich wiederholenden Version weiter aufgebauscht. Gary hatte insgeheim vermutet, diese Schauergeschichten wären stark übertrieben. Er hatte sich grundlegend geirrt.

Kurz nach der Landung hatte es den ersten Feindkontakt gegeben. Die Entsatzstreitmacht für Samadir hatte aus elf Legionen aus drei Sternennationen bestanden. Der Auftrag war einfach genug gehalten: den Verteidigern der Kooperative helfen, die Stellung unter allen Umständen zu halten.

Nun, da Garys Blick über das glitt, was von der 215. und ihren Schwesterlegionen übrig geblieben war, wurde ihm erst so richtig bewusst, wie sinnlos überhaupt der Versuch gewesen war, diese Welt zu verteidigen.

Die republikanischen Truppen hatten dabei eine wirklich beeindruckende Leistung gezeigt. Die Niederlage lag nicht darin begründet, dass die Verteidiger nicht wirklich alles gegeben hätten. Aber die Jackury waren einfach wie eine Naturgewalt über sie hinweggefegt und hatten alles zerstört, mit dem sie in Kontakt traten.

Die Verluste des Feindes waren enorm hoch. Für jeden Legionär waren mindestens fünfzig Jackury gefallen. Das Verhältnis spielte jedoch nur eine untergeordnete Rolle. Egal wie viele sie töteten, es kamen immer noch mehr nach. Eine unaufhaltsame Flut, die schlichtweg nicht einzudämmen war. Ein Insektenvolk wie die Jackury konnte sich solche Verluste leisten – die Menschen nicht.

Die zerfledderten, zerfetzten Banner der republikanischen Legionen ragten allerorts auf dem Schlachtfeld aus dem Boden. Ein stummes Mahnmal des Scheiterns. Auf einigen war noch das Wappen der 215. zu erkennen und darunter das Motto Ad Mortem. Bis zum Tod. Die Worte klangen nun wie Hohn in Garys Ohren angesichts des Massakers ringsum. Während der Schlacht hatte Garys Helm Schaden genommen. Ein tiefer Riss zog sich quer über die linke Gesichtshälfte.

Dadurch dessen Integrität nicht länger gewährleistet und Rauch sowie Qualm und der unverwechselbare Gestank des Schlachtfelds drangen in seine Nase. Der Legionär verzog das Gesicht. Am schlimmsten war der metallische Geruch menschlichen Blutes.

Gary schlich vorsichtig weiter. Er versuchte, so wenig Aufmerksamkeit wie möglich zu erregen. Die meisten Jackury waren weitergezogen, aber nun streiften die Hinrady – große gorillaähnliche Wesen – über den Schauplatz der gewaltigen Niederlage. Hin und wieder hoben sie ihre hässliche Schnauze in die Luft und nahmen Witterung auf. Sie machten den Eindruck, etwas zu suchen.

Gary umrundete vorsichtig das brennende Wrack eines abgestürzten Gefechtstaxis. Er bemühte sich, die Trümmer zwischen sich und dem nächsten Hinradytrupp zu halten. So etwas wie einen spezifischen Plan hatte er sich noch nicht zurechtgelegt. Sein Hauptaugenmerk lag erst einmal darauf, am Leben zu bleiben. Alles Weitere musste man sehen.

Gary setzte einen Fuß neben den anderen, als er sich seitlich um das Wrack bewegte. Trotz seiner Größe und des Gewichts der Rüstung verursachte er kaum ein Geräusch. Gary sah nach oben. Der Himmel war beinahe frei. Nur einige Hinradyjäger flogen Patrouille.

Der letzte Auftrag, den die 215. erhalten hatte, bevor sie zugrunde gegangen war, lautete, den Vormarsch des Feindes auf den Raumhafen aufzuhalten und so den zivilen Evakuierungstransportern Zeit zur Flucht zu geben. Er rümpfte die Nase. Innerhalb von fünf Tagen hatte sich ihr Kampfauftrag von Verteidigung gewandelt hin zu Evakuierung und Deckungsfeuer für die Zivilisten. Wie hatte es nur so weit kommen können?

Gary richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das Hier und Jetzt. Er durfte sich nicht ablenken lassen. Ablenkung brachte den Tod. Er hatte nicht bis jetzt überlebt, um dann doch noch durch Nachlässigkeit das Zeitliche zu segnen. Die Hinrady hatten ihn bisher nicht entdeckt. So viel Glück war kaum zu fassen.

Und natürlich hielt es nicht an. Gary wandte sich gerade um, als ein Schatten direkt vor ihm aus dem Boden zu wachsen schien. Der Hinrady war nicht weniger überrascht als Gary selbst. Die Kontrahenten überwanden die Schrecksekunde etwa zur selben Zeit.

Der Hinrady war zu nah für Garys Nadelgewehr. Außerdem hätten Schüsse wohl weitere feindliche Trupps angelockt. Gary ließ das Gewehr einfach fallen und fuhr seine beiden Armklingen aus.

 

Die Hinrady führten eine Energiewaffe am Handgelenk, doch auch ihre gewaltigen Pranken und die Hauer, die ihre Eckzähne bildeten, stellten eine nicht zu unterschätzende Bedrohung dar. Der Hinrady schlug zu. Gary wich seitlich aus. Es gelang ihm jedoch nicht völlig, dem Hieb zu entkommen. Der Helm wurde ihm schmerzhaft vom Kopf gerissen.

Der Hinrady schlug erneut zu, diesmal mit einer Links-rechts-Kombination, die Gary an der Brust traf und mehrere Schritte zurücktrieb. Der feindliche Krieger setzte nach.

Garys Fuß stieß gegen etwas und er strauchelte. Aber anstatt gegen den Sog der Schwerkraft anzukämpfen, nutzte er ihn, ließ sich rücklings fallen und rollte sich über die rechte Schulter ab. Die Rüstung stellte dabei kein Hindernis dar. Im Gegenteil. Ihr Gewicht half ihm dabei, seinen Schwerpunkt zu verlagern und anschließend das Gleichgewicht zurückzuerlangen.

Das Manöver überraschte den gegnerischen Krieger. Dieser stutzte für einen Moment, grunzte etwas, was sich beinahe nach einer Art Sprache anhörte – und griff erneut an. Dieses Mal war Gary jedoch gut vorbereitet.

Er duckte sich unter dem ersten Prankenhieb. Die Aktion war nicht ungefährlich. Er hatte gesehen, wie Hinradykrieger während der Schlacht Legionären die Rüstung mit bloßen Händen und Klauen eingedrückt oder sogar aufgerissen hatten.

Garys rechte Klinge kam hoch und schlitzte die Panzerung am linken Schenkel auf. Die speziell gehärtete Spitze drang tief in das Fleisch darunter. Blut spritzte und besudelte Garys Gesicht und Rüstung. Der Hinrady brüllte – und schlug erneut zu. Gary duckte sich abermals und vollführte dieselbe Attacke auf das rechte Bein des Gegners. Der Hinrady kreischte erneut, diesmal vor echtem Schmerz. Beide Beine des Primaten knickten ein. Er sank vor Gary auf die Knie.

Der Legionär ragte über seinem gestürzten Gegner auf. Ihre Blicke kreuzten sich. Unheilvolle Intelligenz funkelte in den Augen des Hinrady. Und noch etwas anderes. Stolz vielleicht? Gemischt mit Trotz? Gary ballte die rechte Hand zur Faust. Sie beide wussten, was nun folgte.

Der Hinrady hatte keine Chance. Dennoch versuchte er es. Seine rechte Pranke mit der daran befestigten Energiewaffe kam hoch. Aber Garys Armklinge war schneller. Ein mittels seiner Rüstung verstärkter Hieb trennte den Kopf des Hinrady sauber vom Rumpf. Das Haupt des gefallenen Gegners kullerte über den Boden und kam neben der Leiche eines Legionärs zum Stillstand. Der Rumpf des Kriegers blieb noch einen Moment aufrecht stehen, als würde sich der Hinrady immer noch weigern, klein beizugeben. Dann fiel er beinahe in Zeitlupe zur Seite.

Gary keuchte. Sein Atem ging nur noch stoßweise. Er sah sich vorsichtig um. Der kurze Zweikampf schien keine Aufmerksamkeit auf sich gezogen zu haben. Zum Glück! Er war kaum in der Verfassung, sich einem weiteren Schlagabtausch dieser Art zu stellen.

Gary torkelte erschöpft weiter. Sein Ziel lag klar vor ihm: erst mal vom Schlachtfeld entkommen. Er schaffte es nicht weit. Der Boden gab plötzlich unter ihm nach und er stürzte in einen schwarzen Abgrund. Der Fall dauerte lediglich Sekundenbruchteile. Ihm kam es jedoch vor wie eine Ewigkeit.

Gary spürte mit einem Mal kalten Stahl an der Kehle. Er hielt inne. Ohne Helm verfügte er nicht über ein Nachtsichtgerät. Er wusste nicht – er konnte nicht wissen –, welchem Gegner er dieses Mal gegenüberstand.

»Lass ihn!«, hörte er unvermittelt eine menschliche Stimme sagen. »Das ist einer von uns.«

Die Klinge wurde von seinem Hals genommen und Gary richtete sich zögernd auf. Die Nachtsicht seiner Augen stellte sich für sein Empfinden quälend langsam ein. Dennoch gelang es ihm bald, einzelne Umrisse zu erkennen. Er befand sich in einem Erdloch, das aussah, als sei es von den Jackury gegraben worden. Vermutlich handelte es sich um einen Verbindungskorridor zwischen zweien ihrer Nester. In dieses Loch kauerten sich etwas mehr als zwanzig Legionäre.

Gary gelangte endlich in eine sitzende Position. Einer der Legionäre reichte ihm einen Helm und er setzte ihn dankbar auf. Gary rümpfte die Nase. Das Innere roch ekelerregend nach Blut und den Resten von Gehirnmasse. Der frühere Besitzer würde den Helm wohl nicht länger brauchen.

Die Verbindungssegmente zu seiner Rüstung rasteten ein und das Nachtsichtgerät wurde aktiviert. Gary sah sich abermals um. Die Männer, die sich dieses eher ungewöhnliche Versteck ausgesucht hatten, gehörten alle zur zwo eins fünf. Gary atmete erleichtert auf.

Der Name des Soldaten, der ihm die Klinge an die Kehle gehalten hatte, war Lance Corporal Viktor Tassarow von der Sturmkohorte der zwo eins fünf.

Tassarow nickte ihm schmunzelnd zu, während er seine vor Schmutz starrende Klinge an einem Stück Stoff säuberte. »Hast noch mal Glück gehabt. Um ein Haar hätte ich dich erledigt.«

»Sehe ich etwa aus wie ein Hinrady? Oder vielleicht wie ein Jackury?«

Tassarow zuckte mit den Achseln. »Wenn jemand einfach so von oben durch die Decke fällt, dann denke ich über so was nicht nach. Lieber mache ich einen Fehler, als zu verrecken.«

Gary ließ das mal so stehen und begutachtete lieber seine Leidensgenossen. »Also?«, fragte er in die Runde. »Was habe ich verpasst?«

Allgemeines Grunzen bis hin zum Kichern war die Antwort. Gary entspannte sich etwas, nun, da er nicht länger allein den Unbilden dieser Schlacht allein ausgeliefert war.

Gary wurde jedoch schnell wieder ernst. »Weiß jemand, was aus General Laroque geworden ist?«

»Tot«, kommentierte Tassarow gelassen, während er weiterhin seine Armklinge säuberte. »Ein paar Jackury haben ihn davongeschleift.«

Trauer überkam Gary. Laroque war ein guter Mann gewesen. Er hätte etwas Besseres verdient gehabt. Gary hob den Blick. Aber das traf auf alle anderen auch zu, die am heutigen Tag den Tod gefunden hatten.

»Und der Rest der Legion?«

Einer der anderen beugte sich vor. »Teile der Sturmkohorte und beider Kampfkohorten konnten sich mit den letzten Zivilisten absetzen. Ich habe ihren Transporter abheben und in den Wolken verschwinden sehen. Vielleicht haben es auch noch andere Einheiten vom Planeten geschafft.«

Gary merkte auf. »Ganz sicher?«

Der andere Legionär nickte.

Garys Körper sackte leicht nach hinten. »Dann ist die Evakuierung also erfolgreich verlaufen. Die Legion hätte sich nicht zurückgezogen, solange der Auftrag nicht erledigt wäre.«

Tassarow schnaubte. »Das hilft uns aber nicht viel weiter. Uns haben sie hier im Dreck zurückgelassen.«

»Sie konnte ja wohl schwerlich jeden versprengten Soldaten suchen«, verteidigte Gary deren Vorgehen. Neue Energie durchströmte ihn. Er hatte bis gerade eben angenommen, die komplette Einheit sei ausradiert worden. Dies war nun ganz offensichtlich nicht der Fall. Dass Teile der zwo eins fünf entkommen waren, fühlte sich irgendwie tröstlich an. Die Einheit hatte überlebt und ihren Auftrag ausgeführt. Gary sah sich in dem engen Erdloch um. Es führten schmale Korridore nach Norden und Westen. Er erhob sich, so weit es ihm möglich war, und verharrte in gebückter Haltung.

»Nun, Gentlemen? Will mich jemand begleiten, wenn ich mir einen Weg aus diesem Schlamassel suche?« Sein Blick glitt der Reihe nach von einem zum anderen. »Oder zieht ihr es vor, hier zu verweilen, bis zufällig ein Jackury vorbeikommt und über euch stolpert?«

Das brachte tatsächlich Leben in die Legionäre. Sie erhoben sich und das mechanische Knacken durchgeladener Nadelgewehre erfüllte die Luft.

»Und wo soll’s hingehen?«, wollte Tassarow wissen.

»Erst mal weg von hier«, kommentierte Gary. Er setzte sich in Bewegung und nahm den Korridor nach Norden. Eine Richtung war im Moment so gut wie die andere. Sein Blick fiel auf einen am westlichen Korridor am Boden liegenden Gegenstand. Er bückte sich und hob ihn auf.

Es handelte sich um ein halb im Dreck verschüttetes Banner der 215. Legion. Das Banner war sogar noch in recht gutem Zustand.

»Lass es liegen«, meinte Tassarow abfällig. »Es hält dich nur auf.«

Im ersten Moment war Gary tatsächlich versucht, Tassarows Ratschlag zu befolgen. Aber etwas hielt ihn zurück. Er musterte das Wappen seiner Legion: einen Zerberus. Der linke und rechte Kopf des mythologischen Tieres war tot. Der mittlere aber hatte kampflustig den Kopf gesenkt und drohte mit hochgezogenen, blutverschmierten Lefzen irgendeinem Gegner.

Das Banner stand für etwas. Die zwo eins fünf war immer noch am Leben und aktiv. Das Banner zurückzulassen, erschien ihm nicht richtig. Im Übrigen hatte er das Gefühl, es wäre ein Zeichen. Das Banner hatte in den westlichen Korridor gedeutet. Es war verrückt und entbehrte jeder vernünftigen Grundlage, aber Gary deutete in das dunkle Loch, das ihnen entgegengähnte. »Wir gehen dort entlang.«

Tassarow wirkte nicht überzeugt. »Hat das auch einen bestimmten Grund?«

Gary lächelte geheimnisvoll. »Nicht wirklich. Ist nur so eine Ahnung.«

Er ging voran, das Banner fest mit den Händen umklammert. Nacheinander folgten ihm die überlebenden Legionäre hinein in die Dunkelheit.

Teil I. Verzweifelter Widerstand

1

Perseus

Hauptwelt der Terranisch-Republikanischen Liga

21. Mai 2891

»Ist er es wirklich?«, fragte Carlo Rix, während er aus einer kleinen verglasten Aussichtslounge fassungslos hinunter in die Quarantänezelle starrte. »Kann er es denn sein?«

Professor Nicolas Cest humpelte langsam und mit unregelmäßigem Tritt näher, bis er mit Carlo Rix auf gleicher Höhe stand. Der alte Mann stützte sich dabei schwer auf einen alten Gehstock mit Elfenbeingriff. Carlo schmerzte es, seinen alten Freund und Weggefährten auf diese Weise sehen zu müssen. Cest war nur ein paar Jahre älter als Carlo, aber die Zeit war wesentlich ungnädiger mit dem Professor umgegangen als mit dem ehemaligen Legionär und General.

Cest fixierte durch das einseitig durchsichtige Glas den Mann unter ihnen. Der Häftling, der von sich behauptete, Daniel Red Cloud zu sein, tigerte in der Zelle auf und ab. Er wirkte von Kopf bis Fuß wie der Soldat, der sie kurz nach dem Ende des Drizilkrieges verlassen hatte. Und dennoch fiel es jedem schwer, dies auch nur ernsthaft in Betracht zu ziehen.

»Die Gentests sprechen eine eindeutige Sprache«, meinte Cest schließlich. »Es ist Daniel Red Cloud. Genetisch gesehen.«

Der letzte Einwand veranlasste Carlo, sich dem Professor zuzuwenden. Er runzelte die Stirn. »Sie haben Zweifel?«

»Sie nicht?«, fragte Cest, ohne Carlos Blick zu erwidern. Die Augen des wissenschaftlichen Genies blieb weiterhin fest auf den Mann unter ihnen gerichtet. »Faszinierend«, erklärte Cest schließlich nach einigen Augenblicken. Er sprach in so sanftem Tonfall, dass Carlo schnell klar wurde, dass der Mann nicht länger zu ihm redete, sondern vielmehr Selbstgespräche führte, um seine Gedanken in eine für ihn selbst verständliche Form zu bringen. »Hier haben wir ein äußerst spannendes Rätsel. Eines, wie ich es schon sehr lange nicht mehr entschlüsseln durfte. Ein Mann, der vor über dreißig Jahren verschwunden ist und nun in einem Jäger des Feindes zurückkehrt.« Cest wandte sich endlich Carlo zu. »Einem gestohlenen Jäger, wie er selbst behauptet.«

Carlo nickte nachdenklich. »Wo war er all die Jahrzehnte? Was hat er getan? Warum kommt er ausgerechnet jetzt zurück? Und warum ausgerechnet in einem Hinradyjäger?«

»Das sind die Fragen, die es zu ergründen gilt«, stimmte Cest zu.

Carlo straffte seine selbst im Alter noch muskulöse Gestalt. »Ich will mit ihm sprechen.«

Cests Kopf zuckte so ruckartig zu ihm herum, dass Carlo sich einbildete, die Nackenwirbel des Wissenschaftlers knacken zu hören. »Das halte ich für eine schlechte Idee. Wir haben keine Ahnung, wer – oder was – das dort unten ist.«

»Ein Grund mehr, mit ihm zu sprechen.«

Cests Miene verkrampfte. »Er könnte ein Spion sein. Oder schlimmer noch: ein Attentäter. Nach allem, was wir über die Nefraltiri wissen, ist es sehr gut möglich, dass er nicht einmal selbst weiß, zu welchem Zweck er zu uns geschickt wurde.«

Carlos Miene verdüsterte sich. »Sie glauben also, dass die ihn uns zurückgeschickt haben.«

»Es gibt dafür keinerlei Beweise, aber … ja, mein Gefühl sagt mir, dass unsere Widersacher dahinterstecken. Es ist das Einzige, was wirklich Sinn ergibt. Und das Timing ist sehr verdächtig.«

»Ein Grund mehr, um mit ihm zu sprechen.«

Cest öffnete den Mund, um aufzubegehren. Carlo erstickte jedoch jeden Einwand bereits im Keim, indem er schlicht die Hand hob. »Falls er als Attentäter hier ist, dann sicher nicht, um mich umzubringen. Für die Kriegsanstrengungen bin ich nicht nur entbehrlich, sondern sogar völlig unwichtig.«

 

Ohne ein weiteres Wort drehte sich Carlo um und stapfte durch die Tür. Bevor er sie hinter sich schloss, hörte er noch Cests Stimme. »Sie haben Ihren Wert schon immer unterschätzt, alter Mann.«

Die Bemerkung zauberte ein schmales Lächeln auf sein Gesicht. Carlo schritt die Treppe hinab, bis er vor einer verstärkten Stahltür stand. Vor dieser hielt ein Feuertrupp der 18. Gardelegion in voller Kampfmontur stille Wacht.

Carlo nickte dem Truppführer zu. Dieser öffnete nach kurzem Zögern die Tür. Er erlaubte dem ehemaligen Legionsgeneral allerdings erst dann, die Quarantänezelle zu betreten, nachdem sein kompletter Feuertrupp bereits eingetreten war.

Carlo folgte in einem entsprechenden Sicherheitsabstand. Ihm fiel auf, dass die Legionäre ihre Waffen entsichert hatten. Fünf Nadelgewehre zielten auf Daniel Red Clouds Kopf und Brust. Ganz egal, wer oder was er war beziehungsweise aus welchem Grund er gekommen war, diese Feuerkraft würde der Mann nicht überleben, falls er sich irgendwelche Schwachheiten einbildete.

Bei seinem Eintreten hatte sich Daniel Red Cloud bereits der Tür zugewandt. Sobald er Carlo Rix erkannte, stand er stramm und salutierte mit einem Schlag der geballten rechten Faust auf die linke Brustseite. Ein fast unmerkliches Lächeln zog die Mundwinkel des ehemaligen Legionärs nach oben.

Carlo blieb im Türrahmen stehen und musterte sein Gegenüber eingehend. Seine Miene blieb ernst, auch wenn sein Herz beim Anblick des Mannes vor ihm zu jubilieren begann. Es war schwer, sich der Magie dieses Augenblicks zu erwehren. Hier stand ein Mann, den er lange gekannt und mit dem er einen langen Weg zurückgelegt hatte.

Ganz egal, wer ihn geschickt hatte und zu welchem Zweck, ihm gegenüber stand Daniel Red Cloud. Carlo erinnerte sich noch gut an die Schlachten, die sie zusammen geschlagen hatten. Sein Herz wurde schwer vor Trauer. Gut möglich, dass die Nefraltiri ihn gerade deshalb wieder zurückgeschickt hatten. Um nostalgische Gefühle bei den Menschen auszulösen, die Daniel Red Cloud gekannt hatten. Wer ihn kannte, würde vielleicht zögern abzudrücken, sodass Daniel zuerst zuschlagen konnte.

Carlo stutzte innerlich. Instinktiv hatte er gerade die Frage, die er Cest gestellt hatte, selbst beantwortet. Im Prinzip glaubte er nicht daran, dass hier wirklich Daniel vor ihm stand. Die Nefraltiri nutzten alle Waffen, die sie besaßen. Und menschliche Gefühle gehörten dazu. Sie wussten vielleicht selbst nicht viel mit ihnen anzufangen, aber sie verstanden sich darauf, sie zu manipulieren. Carlos Miene versteinerte. Nein, hier stand nicht Daniel Red Cloud vor ihm. Es war ihm egal, was die Gentests über die DNS des Wesens aussagten, das sich im selben Raum mit ihm befand. Die Nefraltiri besaßen sicherlich die Möglichkeit, derartige Tests zu verfälschen. Das war nicht Daniel Red Cloud. Er konnte es nicht sein. Es war schlichtweg unmöglich. Unter dieser neuen Prämisse näherte sich der Exgeneral dem Häftling. Trauer drohte für einen Augenblick ihn fortzuspülen, denn im Umkehrschluss bedeutete dies, dass Daniel tot war.

Carlo schluckte. Es hätte nicht viel gefehlt und er hätte in diesem Moment den Feuerbefehl gegeben, damit die Legionäre das Wesen vor ihm einfach niederstreckten. Die Versuchung war groß. Stattdessen zwang er sich zu einem freundlichen Lächeln. »Bitte lassen Sie uns allein.«

»Sir? Sind Sie sicher?« Der Truppführer der Gardelegionäre wandte sich ihm zu. Der Helm war geschlossen, sodass Carlo dessen Mimik nicht sehen konnte, aber die Stimme verriet genug. Der Mann war überzeugt, Carlo würde einen Fehler machen. Vielleicht hatte er recht.

Carlo nickte. »Schließen Sie bitte die Tür hinter sich«, wies er die Legionäre abschließend an. Die Männer zögerten immer noch. Es war ihnen zuwider, einen Mann, den sie für eine lebende Legende hielten, mit einer potenziellen Bedrohung allein zu lassen. Sie hatten aber einen eindeutigen Befehl erhalten. Langsam und gemächlich zogen sie sich aus dem Raum zurück. Die Tür blieb jedoch unverschlossen und lediglich angelehnt. Es würde ein Ruf genügen und die Legionäre stünden wieder im Raum, um das Wesen mit Projektilen zu spicken. Der Gedanke war beruhigend. Auch wenn sich Carlo sicher war, dass für ihn im Bedarfsfall jede Hilfe zu spät kommen würde.

»General«, grüßte Daniel, den Kopf respektvoll neigend.

»Nur Carlo«, bot der ehemalige General an. »Meine Militärzeit ist lange vorbei.« Er deutete auf eines der bequemen Sofas, mit denen die Quarantänezelle ausgestattet war. »Wollen wir uns setzen?«

Daniel nickte und setzte sich auf eines der Möbelstücke, Carlo auf das diesem gegenüberstehende. Auch nachdem er sich gesetzt hatte, kam er nicht umhin, das Gesicht seines Gesprächspartners eindringlich zu mustern. Er suchte nach Anzeichen des Mannes, den er vor so langer Zeit gekannt hatte. Irgendeinem Anzeichen. Carlo lehnte sich zurück. Er fand zu viele davon. Das war das Problem.

»Ich bin es«, erklärte der Mann schließlich nach einer gefühlten Ewigkeit.

Carlo machte eine verkniffene Miene. »Das würde ich zu gerne glauben.«

Daniel senkte den Blick. »Ich kann Ihr Misstrauen sehr gut nachvollziehen. Gibt es eine Möglichkeit, meine ehrenvollen Absichten zu beweisen?«

Carlo rutschte auf dem Möbelstück unbehaglich hin und her. »Nun, Sie könnten damit anfangen, mir von Ihrer Reise zu berichten. Was haben Sie erlebt?« Seine Stimme wurde eindringlicher. »Was haben Sie gesehen

Daniels Blick wanderte in weite Ferne. Vor dessen inneren Auge geisterten Dinge umher, die vermutlich schon seit Urzeiten kein Mensch mehr zu Gesicht bekommen hatte. Carlo wartete gespannt.

»Was ich gesehen habe?«, wiederholte Daniel. »Unglaubliche Dinge, die Sie nie für möglich halten würden.«

»Versuchen Sie es«, bohrte Carlo weiter.

»Ich wanderte über Jahre hinweg ziellos durch den Raum«, begann Daniel zu erzählen. »Ich war ganz allein in dem kleinen Schiff, das ich mitgenommen hatte. Und es war schwer, nicht zu verzweifeln. Ich stand kurz davor, die Hoffnung zu verlieren, aber dann passierte etwas.«

Carlo kniff die Augen zusammen. »Was?«

»Ich begegnete in der Randzone einem Hinradyschiff. Ich denke, es handelte sich um einen Aufklärer. Ich beschloss, ihm zu folgen. Er führte mich zu einem kleinen Riss, und als der Aufklärer hindurchflog, blieb ich an ihm dran.« Daniel presste für einen Moment die Lippen aufeinander. »Ich war unglaublich naiv und stellte mir alles so einfach vor. Nach all diesen Jahren brannte ich darauf, endlich Ergebnisse zu erzielen.« Er schüttelte den Kopf und ließ die Schultern hängen. »Ich hätte nie fortgehen … nie diesen Riss durchfliegen sollen.« Daniel seufzte. »Es dauerte nicht lange und sie nahmen mich gefangen. Der Aufklärer hatte die ganze Zeit gewusst, dass er verfolgt wurde. Es war eine Falle. Sie brachten mich auf einen Planeten, den die Nefraltiri bevölkerten. Ich denke, man könnte sagen, es handelt sich um ihren neuen Heimatplaneten, nachdem sie unsere Galaxis verlassen hatten. Und dort begegnete ich ihnen zum ersten Mal in der Realität.« Daniels Augen wurden groß. »Es sind wahrhaft majestätische Wesen. Man spürt ihre Erhabenheit, wenn man sich in ihrer Nähe aufhält.«

Carlo lief bei der Beschreibung der Geschehnisse ein eiskalter Schauder über den Rücken. Vor allem, als Daniel beschrieb, wie er sich in Anwesenheit der Nefraltiri gefühlt hatte.

»Sprechen Sie weiter«, forderte er Daniel auf.

»Sie behielten mich über mehr als zwei Jahrzehnte unserer Zeitrechnung bei sich.«

»Als Gefangenen?«

Daniel neigte leicht den Kopf zur Seite. »Nicht so, wie Sie und ich dieses Wort verstehen.« Er schnaubte entschuldigend. »›Haustier‹ wäre das Wort, das mir am ehesten dazu einfällt.«

Carlo hob eine Augenbraue, erwiderte jedoch nichts. Daniel stieß einen Schwall Luft zwischen den Vorderzähnen aus. »Ja, ich denke, ›Haustier‹ ist der passende Begriff. Sie müssen verstehen, die sind im Prinzip genau wie wir. Sie wissen von uns und wollten Informationen.«

Eine dunkle Vorahnung ergriff von Carlo Besitz. »Über was genau?«

»Unsere Spezies, die Drizil, unsere Gesellschaft …«

»… unser Militär«, vollendete Carlo den Satz.

Daniel zögerte, schlug dann aber den Blick nieder. »Ja, auch das. Aber Sie müssen verstehen, ich hatte keine Wahl. Die Nefraltiri sind Telepathen. Sie haben nach den Informationen nicht gefragt. Sie zogen sie einfach aus meinem Kopf.« Daniels Stimme stockte. »Es … es tut mir leid.«

Carlo seufzte. »Die Schwarmschiffe sind uns so haushoch überlegen, dass es eigentlich keine Rolle spielt, was die wussten oder nicht wussten. Erzählen Sie weiter.«

»Ich konnte fliehen. Die Nefraltiri waren so von der Invasion abgelenkt, dass es mir gelang, einen Jäger zu stehlen. Ich wollte – nein, ich musste – in meine Heimat zurück.«

»Sie konnten fliehen«, meinte Carlo zweifelnd. »Einfach so. Nach Jahrzehnten der Gefangenschaft.«

»Nein, nicht einfach so«, begehrte Daniel auf. Dessen Stimme wurde nun geprägt von einer unterschwelligen Aggression. Carlo hob warnend das Kinn und Daniel beruhigte sich wieder. Beiden war klar, dass die Legionäre vor der Tür jedes Wort mithörten, und diese würden im Zweifelsfall eher schießen als Fragen stellen.

Daniel zwang sich zur Ruhe und bemühte sich um ein Lächeln. Es misslang jedoch. »Tut mir leid, Carlo. Tut mir wirklich leid. Ich bin den Umgang mit Menschen nicht mehr gewohnt.«

»Verständlich«, erwiderte er »Über Ihre Flucht reden wir zu gegebener Zeit noch einmal.«

Daniels Blick zuckte hoch. Die Pupillen funkelten unheilvoll. Carlo war sofort alarmiert.

»Es gibt Wichtigeres, über das wir sprechen müssen«, gab Daniel zurück.

»Und das wäre?«

»Während die Nefraltiri mich studierten, habe ich sie studiert und einige Erkenntnisse gewonnen, die kriegsentscheidend sein könnten.«

Carlo wusste nicht recht, was er von seinem Gegenüber halten sollte. Aber da er sich nun bereits im Dialog mit diesem befand, konnte er genauso gut weiter zuhören. Er beugte sich neugierig vor. Mit einem Nicken forderte er Daniel zum Weiterreden auf.