Das Zeichen der Vier

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Das Zeichen der Vier
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SIR ARTHUR CONAN DOYLE

Das Zeichen der Vier

Der zweite Sherlock-Holmes-Roman

Leipziger Ausgabe

Vollständig neu übersetzt und mit Anmerkungen versehen von

Susanne Luber

neu gefasst und mit Anmerkungen versehen von

Gerd Haffmans

HAFFMANS VERLAG

BEI ZWEITAUSENDEINS

Die englische Originalausgabe The Sign of the Four wurde zuerst im Februar 1890 in Lippincott’s Monthly Magazine veröffentlicht, die Buchausgabe folgte im selben Jahr bei Spencer Blackett in London.

Die deutsche Erstausgabe erschien unter dem Titel Das Zeichen der Vier im Verlag Robert Lutz, Stuttgart 1902.

Weiteres in der Editorischen Notiz am Schluss des Bandes.

1. Auflage, Winter 2021.

Alle Rechte vorbehalten. Alle Rechte an dieser Neuedition & Neuübersetzung vorbehalten.

Copyright © 2021 by Haffmans Verlag

bei Zweitausendeins Versand-Dienst GmbH,

Bahnhofstr. 30, 82340 Feldafing.

Gestaltung & Produktion: Zweitausendeins.

Umschlagsillustration: Christiane Nebel.

ISBN 978-3-96318-136-8

Inhalt

1. Kapitel: Die Kunst der Deduktion

2. Kapitel: Die Darlegung des Falles

3. Kapitel: Auf der Suche nach einer Lösung

4. Kapitel: Die Erzählung des kahlköpfigen Mannes

5. Kapitel: Die Tragödie von Pondicherry Lodge

6. Kapitel: Sherlock Holmes gibt eine Lehrstunde

7. Kapitel: Die Episode vom Fass

8. Kapitel: Die Irregulären von der Baker Street

9. Kapitel: Ein Glied der Kette bricht

10. Kapitel: Das Ende des Insulaners

11. Kapitel: Der grosse Agra-Schatz

12. Kapitel: Die seltsame Geschichte des Jonathan Small

ANHANG

Anmerkungen

Editorische Notiz

Kompendium

Bemerkungen zu Sherlock Holmes von Joachim Kalka

Eine Einführung in den Kriminalroman

Who’s Who

Kleine ACD-Chronik

1. KAPITEL

Die Kunst der Deduktion

Sherlock Holmes langte nach der Flasche vom Kaminsims und entnahm einem zierlichen Saffianleder-Etui eine Spritze. Mit seinen langen, weißen, feinnervigen Fingern setzte er die dünne Nadel auf, dann schob er die Manschette des linken Hemdärmels hoch. Sein Blick ruhte eine Weile nachdenklich auf seinem sehnigen Unterarm und dem Handgelenk, die beide über und über von vernarbten Spuren zahlloser Einstiche bedeckt waren. Dann stieß er die scharfe Nadel in die Haut, drückte den kleinen Kolben nieder und sank mit einem langen Seufzer des Wohlbehagens in die Samtpolster seines Lehnstuhls zurück.

Drei Mal täglich, über viele Monate hinweg, war ich Zeuge dieses Vorgangs gewesen, ohne mich durch die lange Gewohnheit damit abzufinden. Im Gegenteil, mein Verdruss über diese Szene wuchs von Tag zu Tag, und nachts ließ mir mein Gewissen keine Ruhe bei dem Gedanken, dass ich nicht den Mut aufbrachte, dagegen einzuschreiten. Wieder und wieder hatte ich mir geschworen, mir diese Last von der Seele zu reden, aber in der kühlen, nachlässigen Art meines Gefährten lag etwas, das mir deutlich sagte, er sei der Letzte, dem gegenüber man sich auch nur die geringste Freiheit herausnehmen dürfe. Seine enormes Wissen, sein überlegenes Auftreten und die vielen Situationen, in denen ich Zeuge seiner außergewöhnlichen Fähigkeiten geworden war – all dies machte mich ihm gegenüber unsicher und schüchtern und hinderte mich, ihm Widerstand entgegenzusetzen.

An diesem Nachmittag jedoch – ob es der starke Burgunder war, den ich zum Mittagessen getrunken hatte oder ob mich Holmes’ provokantes, planmäßiges Vorgehen besonders gereizt hatte – meinte ich plötzlich, es nicht länger ertragen zu können.

»Was ist denn heute an der Reihe«, fragte ich, »Morphium oder Kokain?«

Träge hob er den Blick von dem alten Folianten, der aufgeschlagen vor ihm lag.

»Kokain«, sagte er, »eine siebenprozentige Lösung. Möchten Sie probieren?«

»Nein, ganz bestimmt nicht«, antwortete ich barsch. »Ich habe die Folgen des Afghanistan-Feldzugs noch nicht überwunden und kann meiner Konstitution keine zusätzliche Belastung zumuten.«

Er lächelte über meine Heftigkeit. »Vielleicht haben Sie recht, Watson«, sagte er. »Ich vermute, der Physis ist es tatsächlich abträglich. Aber die Wirkung auf den Geist empfinde ich als so überaus stimulierend und erhellend, dass dagegen alles andere von geringem Belang ist.«

»Aber bedenken Sie doch«, mahnte ich eindringlich, »um welchen Preis! Ihre Hirntätigkeit mag ja, wie Sie sagen, angeregt und beschwingt werden, trotzdem ist es ein pathologischer, morbider Prozess, der eine fortschreitende Gewebeveränderung zur Folge hat und zumindest eine bleibende Schwächung zurücklässt. Sie wissen doch selbst, welch schwarze Stimmung Sie danach jedes Mal überkommt. Wahrhaftig, das lohnt sich nicht! Weshalb bloß riskieren Sie um eines bloßen flüchtigen Genusses willen den Verlust jener hervorragenden Fähigkeiten, mit denen Sie begabt sind? Bitte bedenken Sie, dass ich nicht nur als Freund so zu Ihnen spreche, sondern auch als Arzt zu einem Mitmenschen, für dessen Gesundheitszustand er sich in gewissem Maß mitverantwortlich fühlt.«

Er schien nicht beleidigt zu sein. Im Gegenteil, er legte die Fingerspitzen aneinander und stützte die Ellbogen auf die Armlehnen seines Sessels wie jemand, der Lust auf ein gutes Gespräch hat.

»Mein Geist«, sagte er, »rebelliert gegen Stillstand. Geben Sie mir ein Problem zu lösen, geben Sie mir Arbeit, die abstruseste Geheimschrift zu entziffern, die vertrackteste Analyse, dann bin ich in meinem Element. Dann kann ich auf künstliche Stimulantien verzichten. Aber die öde Routine des Daseins ist mir unerträglich. Ich verzehre mich nach geistiger Anspannung. Deshalb habe ich mir auch einen eigenen, ganz speziellen Beruf gewählt oder vielmehr geschaffen – denn ich bin der Einzige meiner Art auf der Welt.«

»Der einzige nicht amtliche Detektiv?« fragte ich ungläubig.

»Der einzige nicht amtliche Beratende Detektiv«, erwiderte er. »Ich bin die letzte und höchste Appellationsinstanz in allen Fragen der Kriminalistik. Wenn Gregson, oder Lestrade, oder Athelney Jones am Ende ihrer Weisheit sind – was beiläufig gesagt ihr Normalzustand ist –, dann wird der Fall mir vorgelegt. Ich prüfe die Fakten auf Basis meines Expertenwissens und gebe ein fachmännisches Urteil ab. Dabei erhebe ich keinerlei Anspruch auf öffentliche Anerkennung. Mein Name erscheint in keiner Zeitung. Die Arbeit selbst, das Vergnügen, ein Betätigungsfeld für mein spezielles Talent gefunden zu haben, ist mein größter Lohn. In dem Jefferson-Hope-Fall hatten Sie ja Gelegenheit, meine Arbeitsmethoden ein wenig kennen zu lernen.«

»Ja, allerdings«, sagte ich mit Nachdruck. »Nie in meinem Leben hat mich etwas derart beeindruckt. Ich habe sogar ein Büchlein darüber publiziert mit dem etwas reißerischen Titel ›Studie in Scharlachrot‹.«

Er wiegte betrübt den Kopf.

»Ich habe es überflogen«, sagte er. »Aber ehrlich gesagt, ich kann Ihnen nicht dazu gratulieren. Kriminalistik ist eine exakte Wissenschaft – oder sie sollte es jedenfalls sein –, und genauso kühl und emotionslos sollte sie dargestellt werden. Sie haben sich aber bemüht, der Sache einen romantischen Anstrich zu geben, und das hat einen ähnlichen Effekt wie die Anreicherung des fünften Postulats der euklidischen Geometrie durch eine Liebes- oder Entführungsgeschichte.«

»Aber es gab doch eine Liebesgeschichte!« protestierte ich. »Ich konnte doch nicht die Tatsachen verfälschen.«

»Manche Tatsachen sollten lieber verschwiegen werden, oder wenn man sie schon nennt, sollte man zumindest das richtige Augenmaß haben. Das einzige wirklich Erwähnenswerte an diesem Fall war die besondere Art der analytischen Schlussfolgerung von den Wirkungen auf die Ursachen, durch die es mir gelungen ist, den Fall zu lösen.«

Ich war verstimmt über diese Kritik an meinem Werk, das ich eigens verfasst hatte, um ihm eine Freude zu machen. Ich gebe auch zu, dass ich über die Selbstgefälligkeit verärgert war, mit der er zu erwarten schien, dass jede Zeile meines Büchleins seinem höchstpersönlichen, speziellen Vorgehen gewidmet sein sollte. Mehr als einmal in all den Jahren, die ich mit ihm in der Baker Street verbracht hatte, kam ich nicht umhin zu bemerken, dass der besonnenen, überlegenen Art meines Gefährten eine gewisse Eitelkeit zugrunde lag. Ich erwiderte jedoch nichts, sondern blieb schweigend im Sessel sitzen und streckte mein lädiertes Bein aus. Es hatte vor nicht allzu langer Zeit eine Jezail-Kugel abbekommen, und wenn die Verletzung mich auch beim Gehen nicht allzu sehr behinderte, bereitete sie mir doch bei jedem Wetterumschwung arge Schmerzen.

 

»Mein Wirkungsfeld hat sich neuerdings auf den Kontinent ausgedehnt«, bemerkte Holmes nach einer Weile, während er seine alte Bruyère-Pfeife stopfte. »Vergangene Woche konsultierte mich François le Villard, der, wie Sie vermutlich wissen, mittlerweile zu den besten Leuten der französischen Kriminalpolizei gehört. Er besitzt ganz die keltische Gabe des raschen, intuitiven Erfassens, aber ihm fehlt das breite Spektrum exakten Wissens, das für die Vervollkommnung seiner Kunst unentbehrlich ist. Der Fall drehte sich um ein Testament und wies einige durchaus interessante Züge auf. Ich konnte ihn auf zwei ganz ähnliche Fälle hinweisen, einer in Riga 1857, der andere in St. Louis 1871, das brachte ihn auf die richtige Spur. Hier ist sein Brief, den ich heute morgen bekam und in dem er sich für meine Hilfe bedankt.«

Mit diesen Worten schob er mir ein zerknittertes Blatt ausländisches Briefpapier herüber. Ich überflog die Zeilen, und eine Fülle bewundernder Ausdrücke stach mir ins Auge: Der Brief wimmelte nur so von magnifiques, coup-de-maîtres und tours-de-force, mit denen der Franzose seine glühende Bewunderung ausdrückte.

»Er spricht wie ein Schüler zu seinem Lehrer«, sagte ich.

»Ach, er bewertet meinen Anteil zu hoch«, sagte Sherlock Holmes leichthin. »Er hat selbst beachtliches Talent. Er besitzt zwei von den drei Fähigkeiten, die ein idealer Detektiv haben muss: die Fähigkeit der Beobachtung und die der Deduktion. Es fehlt ihm lediglich noch an Faktenwissen, aber das kommt mit der Zeit. Jetzt ist er gerade dabei, meine kleinen Schriften ins Französische zu übersetzen.«

»Ihre Schriften?«

»Ach, das wussten Sie nicht?« rief er lachend. »Ja, ich bekenne mich schuldig, Verfasser mehrerer Monographien zu sein. Sie behandeln alle technische Dinge. Dieses Buch zum Beispiel ist meine Abhandlung ›Über die Unterscheidung der Asche verschiedener Tabaksorten‹. Darin spezifiziere ich einhundertvierzig verschiedene Arten von Zigarren-, Zigaretten- und Pfeifentabak, mit Farbtafeln, die die unterschiedlichen Ascherückstände zeigen. Das ist eine Frage, die in Kriminalprozessen immer wieder auftaucht und für die Beweisführung zuweilen von größter Bedeutung sein kann. Wenn man zum Beispiel mit Bestimmtheit sagen kann, dass ein Mord von einem Mann verübt worden ist, der eine indische Lunkah-Zigarre geraucht hat, so engt das die Zielrichtung der Ermittlung natürlich stark ein. Für das geübte Auge unterscheidet sich die schwarze Asche einer Trichinopoly-Zigarre von der weißen, flaumigen Asche von Birds-Eye-Tabak so deutlich wie ein Kohlkopf von einer Kartoffel.«

»Sie haben einen außerordentlichen Sinn für Details«, bemerkte ich.

»Ich weiß um ihre Bedeutung. Dies hier ist meine Monographie über das Lesen von Fußspuren, mit Bemerkungen über die Verwendung von Gips als Mittel, die Abdrücke zu konservieren. Und das ist eine interessante kleine Arbeit über die Auswirkungen des Berufsstandes auf die Form der Hand, mit Lithographien, die die Hände von Dachdeckern, Seeleuten, Korkschneidern, Schriftsetzern, Webern und Diamantschleifern zeigen. Das ist von großem praktischen Nutzen für den wissenschaftlich arbeitenden Detektiv – insbesondere in Fällen, wo es darum geht, eine Leiche zu identifizieren oder das Vorleben eines Verbrechers zu rekonstruieren. Aber ich langweile Sie gewiss mit meinem Steckenpferd.«

»Absolut nicht«, erwiderte ich aufrichtig. »Es ist mir von höchstem Interesse, insbesondere seit ich Gelegenheit hatte, Ihre praktische Anwendung dieser Kenntnisse mitzuerleben. Aber Sie sprachen gerade von Beobachtung und Deduktion. Ist es nicht so, dass das eine gewissermaßen das andere impliziert?«

»Schwerlich«, antwortete er, lehnte sich behaglich in seinem Lehnstuhl zurück und schickte aus seiner Pfeife dicke blaue Wolken zur Decke. »Die Beobachtung zeigt mir zum Beispiel, dass Sie heute Vormittag auf dem Postamt in der Wigmore Street waren, aber die Deduktion sagt mir, dass Sie dort ein Telegramm aufgegeben haben.«

»Das ist richtig!« rief ich. »Beides stimmt! Aber ich weiß beim besten Willen nicht, wie Sie darauf gekommen sind. Es war ein spontaner Entschluss, und ich habe es keiner Seele gegenüber erwähnt.«

»Es ist die einfachste Sache der Welt«, meinte er und schmunzelte über meine Verblüffung, »so lächerlich einfach, dass sich eine Erklärung eigentlich erübrigt. Aber sie mag dazu dienen, die Grenzen der Beobachtung und der Deduktion aufzuzeigen. Die Beobachtung zeigt mir einen kleinen Klumpen rötlicher Erde am Oberleder Ihres Schuhs. Nun ist vor kurzem direkt vor dem Postamt in der Wigmore Street das Pflaster aufgerissen und ein Schacht ausgehoben worden, und es lässt sich kaum vermeiden, in die aufgeworfene Erde hineinzutreten, wenn man in das Gebäude hinein will. Die Erde dort hat einen speziellen rötlichen Farbton, der, soweit ich weiß, sonst nirgends in der Gegend vorkommt. So weit die Beobachtung. Der Rest ist Deduktion.«

»Und wie kamen Sie auf das Telegramm?«

»Nun, ich wusste natürlich, dass Sie keinen Brief geschrieben hatten, denn ich saß Ihnen ja den ganzen Vormittag gegenüber. Außerdem kann ich in Ihrem offen stehenden Schreibtisch einen Bogen Briefmarken und ein dickes Bündel Postkarten erkennen. Weshalb sollten Sie also ins Postamt gegangen sein, außer um ein Telegramm aufzugeben? Wenn man alle anderen Eventualitäten ausschließt, muss das, was übrig bleibt, die Wahrheit sein.«

»In diesem Fall trifft das sicherlich zu«, pflichtete ich ihm nach kurzem Nachdenken bei. »Allerdings lag dieser Fall, wie Sie selbst sagen, sehr einfach. Würden Sie es für unverschämt halten, wenn ich Ihre Theorie auf eine härtere Probe stelle?«

»Ganz im Gegenteil«, antwortete er, »es würde mich davon abhalten, eine zweite Dosis Kokain zu nehmen. Es ist mir ein Vergnügen, mich jedem Problem zu widmen, das Sie mir vorlegen.«

»Ich habe Sie einmal behaupten hören, dass es kaum möglich sei, einen Gegenstand täglich in Gebrauch zu haben, ohne ihm den Stempel der eigenen Persönlichkeit aufzudrücken, so dass ein geübter Beobachter daraus auf den Charakter des Besitzers schließen kann. Nun habe ich hier eine Uhr, die erst kürzlich in meinen Besitz gelangt ist. Würden Sie wohl die Freundlichkeit haben, mir Ihre Meinung über den Charakter und die Gewohnheiten des früheren Eigentümers mitzuteilen?«

Ich reichte ihm die Uhr, nicht ohne ein Gefühl innerer Belustigung, denn diese Aufgabe war, wie ich glaubte, unlösbar, und ich wollte ihm wegen des rechthaberischen Tons, den er zuweilen anschlug, eine kleine Lehre erteilen. Er wog die Uhr in der Hand, musterte eingehend das Zifferblatt, dann öffnete er das Gehäuse und untersuchte das Uhrwerk, erst mit bloßem Auge, dann mit einem starken Vergrößerungsglas. Als er die Uhr endlich wieder zuschnappen ließ und sie mir mit enttäuschtem Gesichtsausdruck zurückgab, konnte ich mich eines Lächelns kaum erwehren.

»Es gibt nur sehr wenige deutliche Fakten«, sagte er. »Die Uhr ist vor kurzem gereinigt worden, das beraubt mich der wichtigsten Anhaltspunkte.«

»Richtig«, sagte ich. »Sie ist gereinigt worden, bevor man sie mir übersandt hat.«

Insgeheim machte ich meinem Gefährten den Vorwurf, sein Nichtwissen mit einer höchst lahmen und schwachen Ausrede zu bemänteln. Welche Anhaltspunkte erwartete er denn von einer Uhr, die nicht gereinigt worden war?

»Obgleich wenig befriedigend, war meine Untersuchung doch nicht gänzlich fruchtlos«, fuhr er fort, während er mit verschleierten Augen träumerisch zur Decke blickte. »Ihre Richtigstellung vorbehalten, würde ich sagen, dass die Uhr Ihrem älteren Bruder gehört hat, der sie von Ihrem Vater geerbt hat.«

»Das schließen Sie zweifellos aus dem H. W. auf der Rückseite?«

»Genau. Das W. deutet auf Ihren eigenen Namen hin. Das Datum auf der Uhr reicht beinahe fünfzig Jahre zurück, und das Monogramm stammt aus der gleichen Zeit wie die Uhr. Sie ist also für die vorige Generation angefertigt worden. Nun ist es üblich, dass Wertgegenstände an den ältesten Sohn vererbt werden, und der trägt mit großer Wahrscheinlichkeit den Vornamen des Vaters. Ihr Vater ist, soviel ich weiß, seit vielen Jahren tot. Die Uhr muss demnach aus dem Besitz Ihres ältesten Bruders stammen.«

»Das ist soweit richtig«, sagte ich. »Können Sie sonst noch etwas sagen?«

»Er war nachlässig in seinen Gewohnheiten – sehr nachlässig und liederlich. Als Erbe hatte er gute finanzielle Aussichten, aber er vergab alle Chancen, lebte längere Zeit in Armut, unterbrochen von kurzen Intervallen von Wohlstand, verfiel schließlich dem Trunk und starb. Das ist alles, was ich folgern kann.«

Ich sprang vom Sessel auf und humpelte erregt im Zimmer umher, mit einem bitteren Gefühl im Herzen.

»Das ist Ihrer unwürdig, Holmes!« rief ich. »Ich hätte nicht geglaubt, dass Sie so tief sinken können. Sie haben Erkundigungen eingezogen über das Leben meines unglücklichen Bruders, und jetzt geben Sie vor, Ihr Wissen auf phantastische Art zu deduzieren. Sie können mir unmöglich zumuten zu glauben, Sie hätten das alles von der alten Uhr abgelesen! Das ist herzlos, und offen gesagt, es grenzt an Scharlatanerie.«

»Mein lieber Doktor«, erwiderte er freundlich, »ich bitte Sie aufrichtig um Verzeihung. Ich hatte die Sache als abstraktes Problem betrachtet und dabei vergessen, das es für Sie persönlich schmerzlich sein muss. Aber ich versichere Ihnen: Bevor Sie mir die Uhr gezeigt haben, wusste ich nicht einmal, dass Sie überhaupt einen Bruder hatten.«

»Aber wie in aller Welt haben Sie dann all diese Dinge herausbekommen? Es stimmt alles ganz haargenau – in allen Einzelheiten!«

»Oh, da hatte ich Glück. Ich konnte nur durch Abwägung der Wahrscheinlichkeiten zu einem Ergebnis kommen. Ich hatte nicht erwartet, es so genau zu treffen.«

»Aber Sie haben nicht einfach nur geraten?«

»Nein! Ich rate niemals. Raten ist eine abscheuliche Angewohnheit – es schadet dem logischen Denken. Die Sache erscheint Ihnen nur deshalb so rätselhaft, weil Sie weder meinem Gedankengang folgen noch jene kleinen Details wahrnehmen, die zu wichtigen Schlussfolgerungen führen können. Beispielsweise habe ich mit der Feststellung begonnen, dass Ihr Bruder nachlässig war. Wenn Sie den unteren Teil des Uhrgehäuses betrachten, werden Sie bemerken, dass es nicht nur an zwei Stellen eingebeult ist, sondern überall Kratzer und Schrammen aufweist – eine Folge der Gewohnheit, die Uhr zusammen mit anderen harten Gegenständen wie Münzen oder Schlüsseln in der Tasche zu tragen. Es ist sicherlich keine Meisterleistung zu folgern, dass ein Mann, der so achtlos mit einer Fünfzig-Guineen-Uhr umgeht, ein nachlässiger Mensch sein muss. Ebenso ist die Schlussfolgerung nicht weit hergeholt, dass jemand, der einen so wertvollen Gegenstand erbt, auch anderweitig gut versorgt sein dürfte.«

Ich nickte zustimmend, um zu zeigen, dass ich seiner Argumentation folgte.

»Nun pflegen Pfandleiher in England bei versetzten Uhren die Nummer des Pfandscheines mit einer feinen Nadel in die Innenseite des Gehäuses zu ritzen«, fuhr Holmes fort. »Das ist praktischer als ein Etikett, denn so kann die Nummer nicht verloren gehen oder verwechselt werden. Mit meiner Lupe konnte ich im Innern des Uhrgehäuses nicht weniger als vier solcher Nummern erkennen. Daraus folgt: Ihr Bruder steckte des Öfteren in einer finanziellen Klemme. Zweite Schlussfolgerung: Er kam zeitweise wieder zu Wohlstand, sonst hätte er das Pfand nicht wieder einlösen können. Betrachten Sie schließlich noch den Uhrdeckel mit dem kleinen Schlüsselloch. Sehen Sie die tausend winzigen Schrammen rund um das Schlüsselloch, wo der Schlüssel immer wieder abgerutscht ist? Kein nüchterner Mensch würde solche Kratzer hinterlassen. Aber auf der Uhr eines Trinkers findet man sie regelmäßig. Er zieht sie nachts auf und hinterlässt diese Spuren seiner unsicheren Hand. Was ist an alledem so rätselhaft?«

»Es ist klar wie der helle Tag«, antwortete ich. »Verzeihen Sie, dass ich Sie zu Unrecht so angefahren habe. Ich hätte mehr Vertrauen in Ihre fabelhaften Fähigkeiten setzen sollen. Darf ich fragen, ob Sie gegenwärtig mit der Untersuchung eines Falles befasst sind?«

»Leider nicht. Daher das Kokain. Ich kann nicht leben ohne geistige Anstrengung. Wofür soll man sonst leben? Kommen Sie einmal hierher ans Fenster. Gab es jemals etwas Trübseligeres, Schaleres, Sinnloseres als diese Welt? Sehen Sie nur, wie die gelben Nebelwolken durch die Straße treiben und an den fahlbraunen Häusern vorüber ziehen. Was könnte hoffnungsloser prosaisch und materialistisch sein? Was nützt es denn, Doktor, Talent zu haben, wenn man es nicht anwenden kann? Verbrechen ist banal, das Dasein ist banal, und nur banale Fähigkeiten gelten etwas in dieser Welt.«

 

Ich wollte gerade meinen Mund zu einer Entgegnung auf seine Tirade öffnen, als ein kurzes Klopfen an der Tür ertönte und unsere Hauswirtin eintrat, ein Messingtablett mit einer Visitenkarte in der Hand.

»Eine junge Dame wünscht Sie zu sprechen, Sir«, sagte sie zu meinem Gefährten.

»Miss Mary Morstan«, las er laut. »Hm – der Name sagt mir nichts. Bitten Sie die junge Dame herauf, Mrs Hudson. Gehen Sie nicht, Doktor. Es wäre mir lieb, wenn Sie hier blieben.«