Die Begine und der Siechenmeister

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Die Begine und der Siechenmeister
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Silvia Stolzenburg

Die Begine und der Siechenmeister

Historischer Kriminalroman


Zum Buch

Der Tod geht um Bereits vier Monate sind vergangen, seit Bruder Lazarus nach Rom beordert wurde, um den Oberen des Heilig-Geist-Ordens Rede und Antwort zu stehen. Seine heimliche Liebe, die junge Begine Anna Ehinger, bangt jeden Tag um ihn. Um sich abzulenken, arbeitet sie mehr denn je im Spital. Doch nachdem Lazarus aus Rom zurückgekehrt ist, begegnet er Anna mit einer für sie unbegreiflichen Kälte. Während die Trauer an ihr nagt, sucht eine Reisende Schutz bei den Beginen, deren Zustand sich schnell so verschlechtert, dass sie ins Spital eingeliefert werden muss. Dort verstirbt sie und bereits in der folgenden Nacht verschwindet ihr Leichnam aus der Spitalkapelle. Unterdessen tauchen kopflose Leichen in der Stadt auf, und bald machen Gerüchte über Menschenfresser und Wiedergänger die Runde. Als Anna auf dem Weg zum Funden- und Waisenhaus eine weitere Leiche entdeckt, gerät sie in höchste Gefahr. Denn derjenige, der für die Morde verantwortlich zu sein scheint, sperrt sie ein und fordert ihre Hilfe bei einem dämonischen Ritual …

Dr. phil. Silvia Stolzenburg studierte Germanistik und Anglistik an der Universität Tübingen. Im Jahr 2006 promovierte sie dort über zeitgenössische Bestseller. Kurz darauf machte sie sich an die Arbeit an ihrem ersten historischen Roman. Sie ist hauptberufliche Autorin und lebt mit ihrem Mann auf der Schwäbischen Alb, fährt leidenschaftlich Mountainbike, gräbt in Museen und Archiven oder kraxelt auf steilen Burgfelsen herum – immer in der Hoffnung, etwas Spannendes zu entdecken.

Impressum

Dieses Buch wurde vermittelt durch die

Autoren- und Projektagentur Gerd F. Rumler (München)

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Sina Deter

Herstellung: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung der Bilder von: © Elnur / stock.adobe.com

und https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Rust_tijdens_de_vlucht_naar_Egypte,_Gerard_David,_16de_eeuw,_Koninklijk_Museum_voor_Schone_Kunsten_Antwerpen,_47.jpg

ISBN 978-3-8392-6726-4

Widmung

Für Effan, die beste Hälfte

Prolog

Rom, Anfang September 1412

Obwohl er aus dem winzigen Fenster seiner Zelle kaum etwas sehen konnte, reckte Bruder Lazarus sich an diesem sonnigen Septembermorgen auf die Zehenspitzen, um wenigstens einen Blick auf das glitzernde Wasser des Tibers zu erhaschen. Seit seiner Ankunft in Rom vor mehreren Wochen durfte er sein Gefängnis nur zu den Stundengebeten und Messen verlassen, die in der Hospitalkirche gehalten wurden. Der Komplex des Hospitals Santo Spirito in Sassia war auf einem weiträumigen Grundstück angesiedelt, das Lazarus aus seiner Zeit in Rom gut kannte. Es wurde von vier Straßen und einer Piazza umschlossen, bestand aus einem langgestreckten Bau, zahlreichen Innenhöfen mit Brunnen und kleinen Nebengebäuden. In dem Teil des Gebäudes, in dem Lazarus sich befand, herrschte vollkommene Stille. Nur das Lachen der jungen Männer unter den Zypressen am Ufer des Tibers wurde vom Wind in seine Zelle getragen.

Die Burschen wirkten unbeschwert und übermütig und schienen nur mit halbem Eifer bei der Arbeit zu sein. Während sie Netze in ihre Fischerboote warfen, sahen sie einer Gruppe junger Frauen hinterher, die tuschelnd die Köpfe zusammengesteckt hatten. Über ihnen wippten Vögel auf den Ästen der Bäume, die sich in der sanften Brise bewegten. Das Interesse der Frauen galt einer prächtigen Kutsche auf der Piazza, die von vier glänzenden Pferden gezogen wurde. Zwar war das Wappen auf den Türen aus der Entfernung nicht auszumachen, aber Lazarus vermutete, dass es sich um einen Sohn oder eine Tochter aus reichem Hause handelte. Immer wieder beklagten sich die Ordensmitglieder bei der Obrigkeit, dass einige Bürger den gebührenden Respekt in der Nähe der Hospitalkirche vermissen ließen. Doch diese Beschwerden stießen meist auf taube Ohren.

Mit einem Seufzen trat Lazarus vom Fenster zurück und kniete sich vor den kleinen Altar in der Ecke seiner Zelle. Während seine Finger eine Perle seines Rosenkranzes nach der anderen betasteten, flehte er um Vergebung für seine zahllosen Sünden. Die Strafe, die ihn erwartete, fürchtete er nicht so sehr wie den Zorn Gottes. Durch seine Schwäche, seine sündige Begierde für die Begine Anna, hatte er gegen das Gelübde des Gehorsams verstoßen. Als Mitglied des Heilig-Geist-Ordens war es ihm strikt untersagt, der fleischlichen Lust nachzugeben, auf einen Verstoß standen drakonische Strafen.

Die Gefühle, die er für Anna Ehinger hegte, quälten ihn trotz all seines Flehens um Läuterung immer noch. Allein die Erinnerung an ihre Berührung, ihre weichen Lippen, sorgte dafür, dass seine Körpersäfte ins Ungleichgewicht gerieten. Die Angst, die er ausgestanden hatte, als er fürchten musste, sie nie mehr lebend wiederzusehen, hatte ein Loch in sein Herz gefressen, das nicht mehr zu verschließen war. In den Momenten der Schwäche wünschte er sich nichts sehnlicher, als den Orden zu verlassen, um sie zu bitten, seine Frau zu werden.

Aber das war unmöglich.

Er vergrub das Gesicht in den Händen und betete immer verzweifelter. Ein Austritt aus dem Orden war ihm verwehrt, außer er wählte eine Bruderschaft mit strengeren Regeln. Lief er davon, drohten ihm Ächtung und die Exkommunikation durch den Papst. Seine Seele würde für eine solch ungeheuerliche Sünde ewig im Fegefeuer brennen. Wagte er dennoch den törichten Schritt und verließ ohne Erlaubnis den Orden, griff man ihn früher oder später gewiss auf und brachte ihn zurück. Dann erwarteten ihn entweder eine furchtbare Züchtigung, Degradierung oder Kerkerhaft.

»Barmherziger Vater, gib mir die Kraft, diese Prüfung zu bestehen«, flüsterte er. »Lasse Dein Angesicht leuchten über mir und behüte mich vor den Versuchungen Satans. Leite mich zurück auf den rechten Pfad und …« Ein Geräusch, das die Stille durchbrach, ließ ihn innehalten. Deutlich war das Hallen von Schritten im Kreuzgang vor seiner Zelle zu hören.

Lazarus umklammerte den Rosenkranz fester. War jetzt endlich die Zeit gekommen? Wurde heute das Urteil über ihn gefällt? Erwarteten ihn Jahre der Kerkerhaft? Er senkte den Kopf und hoffte, dass all sein Flehen, sein Bitten und seine Buße nicht umsonst gewesen waren. Denn obwohl er versuchte, sich davon zu überzeugen, dass er Anna aus seinem Herzen gerissen hatte, war der Gedanke an sie sein ständiger Begleiter. Was, wenn man ihm verwehrte, nach Ulm zurückzukehren? Oder ihn in ein anderes Land schickte? Als ein Schlüssel ins Schloss gesteckt wurde, bekreuzigte er sich, kam auf die Beine und setzte eine steinerne Miene auf.

Kurz darauf erschienen zwei Brüder auf der Schwelle. Schweigend, ganz in Schwarz gekleidet, wirkten sie im schwachen Licht, das durch das Fenster hereinfiel, bleich und leblos. Sie vermieden es, Lazarus direkt anzusehen, und gaben ihm mit einem Zeichen zu verstehen, ihnen zu folgen.

Obwohl ihm beim Gedanken an das, was ihm bevorstand, die Knie weich wurden, straffte er die Schultern, befestigte den Rosenkranz an seinem Gürtel und folgte den Brüdern den Kreuzgang entlang zu einem Teil des Gebäudes, in dem sich die großen Säle befanden. In einem davon erwarteten ihn die Oberen des Heilig-Geist-Ordens, aufgereiht wie schwarze Vögel auf einer Bankreihe am Kopf des Raumes. Die Kälte des Steins spiegelte sich in ihren Gesichtern wieder und Lazarus wagte nicht, auf Milde zu hoffen, als er vor dem großen Kruzifix an der Wand auf die Knie sank.

»Bruder Lazarus«, hob der Älteste der Versammelten an. »Bist du bereit für dein Urteil?«

Kapitel 1

Ulm, Oktober 1412

Die siebzehnjährige Anna Ehinger schlang fröstelnd die Arme um sich, als sie das Hauptgebäude der Beginensammlung in der Frauengasse verließ und in den Hof hinaustrat. Direkt nach dem Stundengebet der Laudes hatte sie ihre Arbeit in der Kräuterküche begonnen, um einen Trank für die Reisende herzustellen, die am gestrigen Abend um ein Lager für die Nacht gebeten hatte. Die Frau litt an einem trockenen Husten und war so schwach, dass sie kaum die Suppe hatte löffeln können, die die Beginen ihr zur Stärkung vorgesetzt hatten. Außerdem schien sie bei jeder Bewegung Schmerzen zu haben. Auf Fragen nach ihrer Herkunft hatte sie unzusammenhängend geantwortet und Anna hoffte, an diesem Morgen mehr zu erfahren.

Sie drückte den Korb, in dem sich die Arzneien befanden, an ihre Brust und machte sich auf den Weg über den Hof, von dem kaum etwas zu erkennen war. Seit der Herbst Einzug gehalten hatte, waberte der Nebel in dichten Schwaden durch die Straßen und Gassen der Stadt und die Feuchtigkeit lag greifbar in der Luft. Obwohl Anna eine Kerzenlampe trug, reichte der schwache Schein nicht weit. Von den Ställen und Wirtschaftsgebäuden war kaum etwas zu erkennen, selbst die hell erleuchtete Schreibstube der Meisterin war nicht mehr als ein verwaschener Lichtkegel. Die Herberge der Sammlung, in der die reisenden Frauen untergebracht waren, lag noch völlig im Dunkeln. Zwar konnte es nicht mehr lange dauern, bis die Sonne aufging, doch Anna bezweifelte, dass sich der Nebel mit Anbruch des Tages lichten würde. Seit fast einer Woche lag er wie ein erstickendes Tuch über der Stadt und sorgte dafür, dass die Gassen in einigen Gegenden noch unsicherer wurden. Erst gestern hatte sie von einer anderen Schwester gehört, dass ein reicher Kaufmann überfallen und halb totgeschlagen worden war.

 

Vorbei an zwei Mägden, die aus dem Zugbrunnen Wasser schöpften, eilte Anna zur Herberge und betrat diesen Teil des Gebäudekomplexes. Trotz der geschlossenen Fensterläden war es kalt und zugig in dem langen Korridor, von dem mehrere Türen abgingen. Obgleich sich die Frauen die Kammern normalerweise zu dritt oder zu viert teilten, war zurzeit genügend Platz vorhanden, da das Reisen im Herbst und im Winter für die meisten zu gefährlich war. Schon aus diesem Grund hatte die Ankunft der Frau die Beginen verwundert, fehlten ihr die sonst üblichen Begleiterinnen.

Wer sie wohl war?

Nachdem Anna geklopft hatte, betrat sie den kleinen Raum, in dem es nach feuchter Kleidung und zu lange getragenen Schuhen roch. Die Reisende hatte bereits eine Kerze entzündet, und war dabei, sich anzuziehen. Mit einem erschrockenen Einatmen sah Anna, dass ihr Untergewand blutverschmiert war, obwohl die Frau sich hastig abwandte.

»Du bist verletzt!«

Die Fremde schüttelte schwach den Kopf. »Es ist nichts.«

Anna überwand ihren Schrecken, stellte Korb und Kerzenlampe ab und trat auf die Frau zu. »Lass mich einen Blick darauf werfen«, bat sie. »Die Wunde muss verbunden werden.«

Einen Augenblick sah es so aus, als ob die Frau protestieren wolle, doch dann hob sie mit einem Seufzen die Arme und ließ zu, dass Anna ihr Untergewand nach oben schob.

»Gütiger Himmel!«, entfuhr es Anna.

Unter den Rippen der Frau klaffte eine hässliche Wunde, außerdem entdeckte Anna Spuren von alten Verletzungen. »Wie ist das passiert?«, wollte sie wissen.

»Ich bin gestürzt«, war die Antwort. »Dieser Nebel …«

Obwohl die Erklärung einleuchtend war, läuteten in Annas Kopf Alarmglocken. Sie hatte den Eindruck, dass die Wahrheit eine ganz andere war. Woher stammten all die Narben und Striemen am Körper der Frau? War sie eine flüchtige Verbrecherin? Hatte man sie für irgendetwas körperlich gezüchtigt? »Woher kommst du?«, erkundigte sie sich.

»Aus einer anderen Stadt«, wich die Fremde aus. »Ich bin auf der Durchreise.«

Etwas in ihrem Tonfall ließ Anna vermuten, dass es sich bei dieser Behauptung nicht um die Wahrheit handelte. »Wie ist dein Name?«

»Gertrud«, erwiderte die Reisende. Sie strich ihr Untergewand glatt und schlüpfte in das zerschlissene Kleid, in dem sie angekommen war. Es war aus grober Wolle, mehrfach geflickt und wirkte, als habe es schon bessere Zeiten gesehen. Als sie sich nach ihren Schuhen bückte, fasste sie sich mit einem erstickten Laut an den Kopf.

Anna konnte ihr gerade noch unter die Arme greifen, sonst wäre sie zu Boden gesunken.

»Mir ist schwindlig«, murmelte Gertrud. »Ich …« Ein Husten unterbrach sie, sodass es ihren mageren Körper schüttelte.

»Du bist krank«, stellte Anna fest, nachdem sie ihr an die Stirn gefasst hatte. Sie glühte vor Fieber.

»Es geht mir gut«, widersprach die Reisende. Sie machte Anstalten, sich aufzusetzen, allerdings schien ihr die Kraft zu fehlen.

»Deine Wunde ist entzündet. Wir sollten den Wundarzt holen, damit er sich darum kümmern kann.«

»Ich will keinen Arzt!« Gertrud griff nach Annas Hand und drückte sie so fest, dass Anna die Luft einzog. »Versprich mir, dass du keinen Arzt holst!«

»Warum?«

»Versprich es mir!«

Da Anna fürchtete, dass Gertrud sonst etwas Unüberlegtes tun könnte, nickte sie widerstrebend. »Ich kann dir eine Salbe besorgen«, sagte sie. »Aber zuerst solltest du diese Arznei trinken und dich weiter ausruhen. Ich sage einer der Mägde Bescheid, damit sie dir Frühstück bringt.«

Gertrud ließ ihre Hand los. »Danke«, murmelte sie. »Du bist ein guter Christenmensch.«

Anna seufzte. Wenn sie das nur wäre! Dann würden ihre Gedanken nicht jedes Mal, wenn sie ins Heilig-Geist-Spital ging, zu Lazarus abschweifen. Seit Monaten hatte sie nichts von ihm gehört und auch im Spital schien niemand zu wissen, wie sein zukünftiges Schicksal aussehen würde. Am Ende des Sommers war ein neuer Siechenmeister bestellt worden, ein alter, weißhaariger Mönch, der zwar sanft und gütig war, Lazarus jedoch nicht ersetzen konnte. Zu oft irrte er sich bei der Verabreichung von Arzneien und überließ die Behandlung der Kranken fast ausschließlich dem Wundarzt.

Zu ihrem Verdruss spürte Anna, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Trotz all der Buße, die sie getan hatte, ließen sich die Gefühle für Lazarus nicht einfach ausreißen wie ein dürres Pflänzchen. Er hatte alles riskiert, um ihr das Leben zu retten, und bezahlte jetzt einen furchtbaren Preis dafür. Im Spital war lange Zeit gemutmaßt worden, welche Strafe ihn in Rom erwartete. Einige der älteren Brüder hatten den Spitalmeister dazu gedrängt, ein gutes Wort für ihn einzulegen, doch niemand wusste, ob der Magister Hospitalis dieser Bitte nachgekommen war. Das Gegenteil könnte der Fall sein.

Da Anna sich vor Gertrud den eigenen Kummer nicht anmerken lassen wollte, kehrte sie ihr hastig den Rücken und verließ die Kammer, um Salbe und Binden zu holen. In der Kräuterküche angekommen, suchte sie nach einem Tiegel mit Schafgarbensalbe und bereitete einen Aufguss aus den Blättern derselben Pflanze zu. Dann mischte sie noch eine Tinktur aus zerstoßenen Blüten der Akelei, gab etwas Honig hinzu und brachte alles zu Gertrud in die Herberge.

»Trink das«, sagte sie und wartete, bis der Becher geleert war. Schließlich bat sie Gertrud, ihr Untergewand hochzuziehen und trug die Salbe auf die Wunde auf. Dabei fielen ihr runde Male auf, die aussahen, als ob jemand die Frau gebrandmarkt hätte. Obwohl ihr zahllose Fragen auf der Zunge lagen, zügelte sie ihre Neugier. Es geht dich nichts an, appellierte sie an ihre Vernunft. Wenn sie nicht wieder in Schwierigkeiten geraten wollte, musste sie lernen, ihre Wissbegier zu zügeln.

»Neugier ist eine Versuchung, der ein frommer Geist widerstehen muss«, hatte die Beginenmeisterin Anna gescholten, nachdem sie wohlbehalten von der Vorladung vor den Rat zurückgekehrt war. Mit einem Schaudern erinnerte sie sich daran, wie knapp Lazarus und sie einer Anklage entronnen waren. Hätte Annas Bruder Jakob nicht ein gutes Wort für sie eingelegt, säße sie jetzt vermutlich nicht an Gertruds Bett.

Ein Schmerzenslaut und ein Zucken ließen sie die Gedanken an das, was passiert war, vergessen. »Entschuldigung«, murmelte sie zerknirscht und drückte vorsichtig eine Kompresse auf die Wunde. Dann verband sie Gertrud und half ihr, das Untergewand wieder über die Hüften zu ziehen. Da sie die Kerzenlampe auf einem kleinen Tischchen neben dem Bett abgestellt hatte, fiel der Lichtschein auf Gertruds Gesicht, als sie den Kopf in den Kissen wandte. Dabei fiel Anna auf, dass sich hinter ihrem Ohr ebenfalls eine verschorfte Wunde befand. Ohne nachzudenken, streckte sie die Hand aus, um Gertruds Haar zur Seite zu schieben. »Was ist das?«, fragte sie.

Doch Gertrud hielt sie mit einem Griff ans Handgelenk zurück. »Nichts«, log sie. »Ich danke dir für alles, aber ich bin furchtbar müde.«

Anna erschrak über die Kälte ihrer Hand.

Sie zitterte.

Obwohl sie am liebsten weiter in Gertrud gedrungen wäre, wusste sie, dass sie die Frau schlafen lassen musste. Wenn sie sich nicht innerhalb eines Tages erholte, würde Anna die Meisterin bitten, nach dem Wundarzt zu schicken. Ganz gleich, was sie versprochen hatte, sie würde diese Frau ganz gewiss nicht sterben lassen!

Kapitel 2

Nachdem Anna Gertruds Kammer verlassen hatte, machte sie sich auf zum Gemeinschaftsraum der Beginen, um mit den anderen Schwestern ein einfaches Mahl einzunehmen. Obwohl sie jeden Tag dankbar dafür war, eine der zwölf Frauen zu sein, die in dem großen Anwesen in der Frauengasse lebten, fragte sie sich, wie lange sie sich noch hinter den Mauern der Sammlung verstecken konnte. Nach allem, was mit dem Sohn des zweiten Bürgermeisters passiert war, würde ihr Bruder vermutlich eine Weile Ruhe geben. Doch Anna war sicher, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis er ihr erneut eine Ehe mit einem der reichen Patriziersöhne ans Herz legte. Als Pfleger des Heilig-Geist-Spitals war es hinderlich für ihn, dass seine Schwester einer Vereinigung angehörte, die vom Papst verboten worden war und von vielen Geistlichen als ketzerisch angesehen wurde. Nicht nur die Zisterziensermönche des gegenüberliegenden klösterlichen Pfleghofes bedachten die Beginen mit abfälligen Blicken. Zwar hatten sich die Frauen nach dem Konzil von Vienne den Barfüßermönchen angeschlossen und sich den Regeln dieses Ordens unterstellt, trotzdem wurden auch in Ulm immer öfter Rufe nach einer Schließung des Beginenhofes und einer Beschlagnahmung aller Besitztümer der Frauen laut.

»Das sind Bräute des Teufels«, hatte Anna schon öfter auf ihrem Weg zum Heilig-Geist-Spital gehört. Jetzt, wo der Mann, der sie fast getötet hatte, den Posten des zweiten Bürgermeisters erhalten hatte, würden die feindlichen Stimmen vermutlich immer mehr Gewicht gewinnen.

Sie zog schaudernd die Schultern hoch, da der Gedanke unweigerlich andere Erinnerungen mit sich brachte. In manchen Nächten wachte sie immer noch schweißgebadet auf, weil sie sich im Traum wieder in dem Kellerloch befand, in dem sie auf den sicheren Tod gewartet hatte. Hätte sie ihre Nase nicht in Angelegenheiten gesteckt, die sie nichts angingen, wäre all das Furchtbare nie geschehen. Mit einem Seufzen betrat sie das Hauptgebäude und erklomm die Treppe ins erste Obergeschoss, wo sich der Gemeinschaftsraum der Beginen befand. Nahezu alle Schwestern waren bereits um den langen Tisch versammelt, an dessen Kopfende die Meisterin aus einem Buch las. Die Kornmeisterin, die Kellerin, die Zinsmeisterin und die Schreiberin saßen ebenfalls am oberen Ende der Tafel und bedachten Anna mit tadelnden Blicken.

Nachdem sie eine Entschuldigung gemurmelt hatte, nahm sie Platz und fiel in das Gebet mit ein, das die Meisterin in diesem Moment begann. Mit gesenktem Kopf löffelte sie den lauwarmen Brei, während ihre Gedanken wieder auf Wanderschaft gingen.

Seit den Vorkommnissen im Frühjahr und Sommer schien die Meisterin sie mit einem noch strengeren Auge zu beobachten, weshalb Anna ihr so oft wie möglich aus dem Weg ging. Sie wusste, dass sie dankbar sein sollte, ein Leben führen zu dürfen, das sich nur Frauen aus wohlhabendem Haus leisten konnten. Doch seit sie Lazarus’ Lippen auf ihren gespürt hatte, nagte eine sündige Unzufriedenheit an ihr. Warum hatte Gott sie die Wege kreuzen lassen? Weshalb quälte Er sie so? War das der Preis, den sie für ihr sündiges Verlangen bezahlen musste? Sie trank ihre Milch aus, schob die leere Schale von sich und starrte blicklos auf den kleinen Kreis aus Feuchtigkeit, den ihr Becher auf dem Tisch hinterlassen hatte.

»Schwester Anna, auf ein Wort«, schreckte die Stimme der Meisterin sie auf.

Sie hatte nicht bemerkt, dass auch die anderen Schwestern ihr Frühstück beendet hatten und Anstalten machten, den Gemeinschaftsraum zu verlassen.

Sie erhob sich hastig und strich ihre Röcke glatt.

»Wie geht es der Reisenden?«, erkundigte sich die Meisterin. »Hast du nach ihr gesehen?«

Anna nickte. »Sie ist sehr schwach und hat hohes Fieber. Außerdem ist sie verletzt.«

Die Meisterin sah sie fragend an.

Anna beschrieb ihr die Wunde und die verheilten Verletzungen, die sie entdeckt hatte. »Sie behauptet, sie sei gestürzt, aber es sieht eher aus, als ob sie jemand furchtbar verprügelt hätte. Die Wunde ist entzündet. Wenn es ihr morgen nicht besser geht, sollten wir den Wundarzt holen.«

Die Meisterin nickte. »Ich gehe zu ihr. Vielleicht vertraut sie sich mir an.« Sie wandte sich zum Gehen.

 

Anna sah ihr nach und fragte sich, ob sie Gertrud zum Reden bringen konnte. Sie war sicher, dass die Kranke irgendetwas verbarg, doch es stand ihr nicht zu, sie weiter zu bedrängen. Mit gemischten Gefühlen verließ sie den Raum und ging zurück in den Hof, der immer noch in dichtem Nebel lag. Zwar hatte die Sonne inzwischen den Horizont erklommen, doch die schwachen Strahlen drangen kaum durch. Begleitet vom Klappern der Milchkannen und dem Schimpfen der Knechte, betrat sie einen Arkadengang, der sie zur Kräuterküche führte. Da der Raum nur zwei winzige Fenster besaß, entzündete sie ein halbes Dutzend Talglichter und entfachte ein Feuer in der gemauerten Kochstelle, über der ein Funkenhut hing. Schlichte Regale, bis obenhin gefüllt mit Behältnissen aller Art, säumten zwei der Wände. Auf einem kleinen Tisch lagen etwa ein halbes Dutzend Bücher. Außerdem befanden sich mehrere Zuber, Kessel, Schüsseln, Mörser und ein großer Hacktisch im Raum. Weil Anna an diesem Tag nach den Pfründnern, den Alten im Spital, sehen wollte, bereitete sie Wacholderelixier gegen Atembeschwerden zu. Dafür kochte sie Wacholderbeeren, Königskerzenblüten und Bertramwurzelpulver in Wein auf und siebte es ab. Außerdem mischte sie Hirschzungenelixier aus getrocknetem Hirschzungenfarnkraut, Wein, Honig, langem Pfeffer und Zimtrinde. Auch diese Zutaten wurden in Wein aufgekocht und durch ein Sieb gestrichen. Den beiden Arzneien folgten Heckenrosenelixier, eine Mischung aus Pfennigkraut, Eisenkraut und Steinbrechsamen gegen Gallenbeschwerden, Quendelsalbe gegen Hautekzeme und Bernsteinwasser gegen Magen-Darm-Beschwerden.

Sobald alles fertig war, packte sie die Flaschen und Tiegel in einen Korb und steuerte auf das große Tor des Beginenhofes zu. Als sie die schützenden Mauern verließ, umhüllte sie der dichte Nebel. Die Geräusche der Stadt wirkten gedämpft, selbst das Schlagen der Zimmermannshämmer drang kaum von der Münsterbaustelle in die Frauengasse. Mit einem Gefühl der Beklemmung sah Anna sich um und eilte nach Süden, bis sie das Ende der Frauengasse erreichte. Beim Ochsenbergle wandte sie sich nach Osten und begab sich vorbei am Predigerkloster der Dominikaner zum Heilig-Geist-Spital, vor dem wie immer großer Andrang herrschte. Nicht nur Bedürftige und zerlumpte Kinder warteten vor dem Tor, auch Handwerker, Fuhrleute, Mägde und Knechte harrten geduldig aus, bis der Beschließer sie einließ.

»Hast du schon gehört, was der Metzgerstochter passiert ist?«, hörte Anna eine der Mägde tuscheln.

Die Frau neben ihr zuckte mit den Schultern. »Was denn? Hat sie schon wieder einen anderen?«

»Was redest du da? Sie hat im Frühjahr geheiratet.«

»Ach? Was interessiert’s mich? Der Kerl muss schön dumm sein, wenn er sich mit diesem losen Weib abgibt. Ich will nicht wissen, wie viele Pfaffen ihretwegen den Hurenzins zahlen.« Die Frau lachte verächtlich.

»Interessiert dich auch nicht, dass ihr Mann verschwunden ist?«

Anna spitzte die Ohren.

»Verschwunden?« Die andere Magd lachte. »Gott wird ihn der Hure genommen haben. Oder er ist abgehauen. Wäre nicht der erste.«

»Warum sollte er abhauen? Sie ist doch jung und willig.«

»Woher weißt du überhaupt davon?«

»Die Hebmagd hat es mir erzählt.«

»Die wird dir einen Bären aufgebunden haben«, schnaubte die Frau und schob ihre Begleiterin nach vorn, als zwei der Fuhrwerke vom Beschließer durchgewunken wurden. Kurz darauf war die Reihe an Anna, die wenig später den kleineren der beiden Spitalhöfe betrat. Trotz der dichten Schwaden war zu erkennen, wie weitläufig das Gelände war. Zu ihrer Rechten befanden sich die Ställe, Scheunen und Fruchtkästen, zu ihrer Linken ragte die Spitalkirche in den Himmel. Die Spitze des Turms wurde vom Nebel verschluckt. Eine Schmiede, eine Bäckerei und mehrere Wirtschaftsgebäude schlossen an die Kirche an. Gegenüber dem Tor zeichneten sich die Umrisse der Dürftigenstube ab, hinter welcher einer der Türme der Stadtbefestigung aufragte. Durch einen Bogengang neben der Kirche gelangte man in einen zweiten, größeren Hof, in dessen Mitte sich ein Ziehbrunnen befand. In der Nähe des Brunnens waren die größeren landwirtschaftlichen Geräte und Fuhrwerke des Ordens abgestellt. Östlich der Kirche verbarg sich das stattliche Haus des Spitalmeisters mit einer Kapelle im Nebel. Den Abschluss des größeren Hofes bildeten die Häuser für die Pfründner, eine Badestube und ein Speisesaal. Am Fuß der Stadtmauer gab es einen kleinen Friedhof und einen Kräutergarten.

Trotz des Wetters herrschte reger Betrieb in den Höfen, da zahlreiche Bedürftige und Kranke im Spital wohnten. Dutzende von Ordensbrüdern kümmerten sich um die männlichen Insassen, wohingegen die Wöchnerinnen und weiblichen Kranken von der Meisterin, einer Milchmutter und zwei im Spital wohnenden Schwestern versorgt wurden.

Mit schwerem Herzen, weil die Erinnerungen an Lazarus überall lauerten, machte Anna sich auf den Weg zur Dürftigenstube, um zuerst diejenigen zu versorgen, die ihre Hilfe am dringendsten benötigten.