Mord im Parkhotel

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Mord im Parkhotel
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Silvia Götschi, 1958 in Stans geboren, zählt heute zu den erfolgreichsten Krimiautorinnen der Schweiz. Mit „Einsiedeln“ und „Bürgenstock“ landete sie in der ersten Woche nach Erscheinen auf dem ersten Platz der Schweizer Bestsellerliste (Taschenbücher). Sie erhielt je einen GfK No 1 Book Award.

Nach ihrer ersten Veröffentlichung „Am Anfang ist die Sehnsucht“ 1999, erschienen zwei Romane „Und trotzdem nicht Olivia“ und „Sonnensturm“. „Mord im Parkhotel“ war ihr erster Kriminalroman im Verlag Literaturwerkstatt. Im Cameo Verlag erscheint er in überarbeiteter Form und in Neuauflage.

Seit ihrer Jugend zählen Schreiben, Fotografieren und Psychologie zu Götschis Leidenschaften. Nach der Handelsschule und dem Abschluss der Kaufmännischen Berufsschule, arbeitete sie während längerer Zeit in der Hotellerie und Gastronomie. Seit 1998 ist sie freischaffende Schriftstellerin und Mitinhaberin einer Werbeagentur. Götschi hat drei Söhne und zwei Töchter und lebt heute mit ihrem Mann in der Nähe von Luzern.

www.silvia-goetschi.ch

Silvia Götschi - Mord im Parkhotel

Silvia Götschi

Mord im Parkhotel

Kriminalroman

Für Silvan, Melanie, Graziella, Reto und Andrea

– meine Söhne und Töchter

Samstag, 2. August 2003

Der erste Schlag kam so schnell, dass ich ihn kaum spürte.

Rasch schlug meine Überraschung in Wut und Bestürzung um. Eine Irrfahrt aufgewühlter Sinneswahrnehmungen. Das Wechselbad durchlebter Emotionen. Im Empfinden, meine tiefsten Gefühle ihr gegenüber in diesem Moment aufzuspalten. Zu verlieren.

Sie schlug ein zweites Mal zu, was mich mehr schmerzte. Genauso unerwartet, mit einem stumpfen Gegenstand, den ich nicht zu identifizieren vermochte. Warm rann es mir über die Wangen. Bis ich merkte, dass es mein eigenes Blut war, bildete sich vor mir ein roter See, als hätte jemand versehentlich einen Kübel Ölfarbe auf den Teppich gegossen. Dieser Vergleich schien mir allerdings unangebracht im Angesicht des Todes, den zu realisieren ich noch im Hinfallen imstande war. Wieder schlug sie zu. Emotionslos. Eiskalt. Ich war unfähig, mich von der Stelle zu rühren und aus ihrem Blickfeld zu gehen. Ich begriff nicht, wie sie mir das antun konnte. Die Frau, die ich liebte, die ich begehrte. Sie, deretwegen ich meine Persönlichkeit aufzugeben bereit war, deren Abwesenheit mir als irrationaler Entzug in meiner Körperlichkeit erschien. Wurde mir dies erst jetzt bewusst?

Ob sie meine Angst spürte? Ich sah sie durch einen Schleier von Tränen an. Ihre Augen waren leer, ausgehöhlt, der Glanz war verschwunden. Sie hatten etwas Raubtierhaftes an sich. Etwas Bedrohliches.

Wieder schlug sie mich. Ein schreckliches Geräusch, als trennte jemand einen Fetzen Stoff durch. Ein messerscharfes Zischen, das Bersten von Haut. Ich spürte, wie es mir die Schädeldecke aufriss und noch mehr Blut herausströmte.

Brennend, glühend wie der Strom heisser, klebriger Lava ...

Weshalb ich erwachte, wusste ich nicht genau. Von draussen vernahm ich den Schrei einer liebeskranken Katze. Es hörte sich wie das Wimmern eines Kindes an. War es dieser Laut, der mich aufgeweckt hatte? Ich drehte mich auf die andere Seite und versuchte, wieder in die Abgründe zurückzukehren, aus denen ich schweissgebadet aufgewacht war, um die Antwort auf das Erlebte zu finden. Es gelang mir nicht, zu aufgewühlt war ich. Ich hatte schlecht geträumt. Das war alles. Ich träumte selten. Oder zumindest nicht so, dass ich mich am Morgen danach erinnerte. Dennoch sass der Schreck der letzten zwei, drei Minuten an der Oberfläche meines Unterbewusstseins. Vielleicht deshalb diese Unruhe? Mechanisch griff ich in mein Gesicht, fühlte die wuchernden Bartstoppeln. Mein Kopf war unversehrt. Hatte sie mir nicht eines über den Schädel gezogen? Lächerliches Unbehagen.

Ich stand auf, ging auf den Balkon und zündete eine Zigarette an.

Die Stadt schlüpfte aus einem unruhigen Schlaf. Irgendetwas von ihrem schweren, abgasgeschwängerten Körper war immer in Bewegung. Lichtströme von Autoscheinwerfern, die durch ihre Adern pulsierten. Ich lauschte in den frühen Morgen hinein. An die Geräusche um mich hatte ich mich so gewöhnt, dass ich sie kaum noch wahrnahm. An die metallenen Schläge von der Güterabfertigung gegenüber meiner Strasse, wenn Waggons aneinandergekoppelt wurden. An die gurrenden Laute einzelner Tauben auf dem Dach, die sich ins Quartier verirrt hatten. Oder an das Liebesgestöhn aus der Wohnung unter mir. Morgens um sechs. Nichts war mehr fremd, was mich nach diesem Albtraum mit Genugtuung erfüllte.

Langsam verwischte die Dämmerung. Zaghaft überflutete warmes Licht die Hausdächer und Fassaden. Weiter hinten die Schienen des Hauptbahnhofes. Wie riesige Schlangen krochen die Züge aus dem Schoss der Stadt. Vom Pilatus aus ging ein Glanz, der mir fast unwirklich vorkam. Die Felsen flammend rot. Der Ort zu ihren Füssen glitzerte im Licht der aufgehenden Sonne als flüssiges Gold oder von Feuer durchbrochene Kristalle.

Ich warf schnell die Zigarettenkippe über die Balkonbrüstung. Mit dem Tageslicht kam auch der Wind auf. Er stiess schon jetzt seinen heissen Atem aus. Ich blieb noch eine Weile draussen. Beobachtete, wie das Morgenlicht die letzten Geheimnisse der Nacht wegwischte. Ich hörte den Glockenschlag einer Kirche, von der ich nicht wusste, wo sie stand. Von irgendwoher das Martinshorn eines Polizeiwagens. Als das Telefon klingelte, kehrte ich ins Wohnzimmer zurück. Ich nahm den Hörer zur Hand.

»Walker«, brummte ich, weil ich so früh keinen Anruf erwartet hatte.

Korners Stimme: »Wir haben eine Tote vor der Zentralbibliothek.« Es kam selten vor, dass mich der Boss persönlich anrief. »Beeilen Sie sich! Ich brauche Sie.«

»Soll ich gleich in die Zentrale kommen?« Ich wartete, bis Korner etwas hinzufügte. Aber es war, als spräche er gleichzeitig mit mehreren Personen, wobei er mich nicht mehr wahrzunehmen schien. Im Hintergrund hörte ich unbekannte Stimmen. Ein Knacken. Ein Schleifen, als schöbe jemand Stühle über einen Parkettboden. Dann Korner: »Bringen Sie Betschard mit und fahren Sie danach zur Zentralstrasse.«

Ich wollte etwas sagen, doch Korner hatte schon aufgelegt. Das war typisch für ihn. Bevor man merkte, dass er da war, war er schon wieder weg. Er war Chef der Kriminalabteilung bei der Kantonspolizei, ein Kopf, der es auch in der Schweizer Armee bis zum Major geschafft hatte. Ein Mann mit unsagbar schnellem Verstand. Dominant im Auftreten und im Umgang mit seinen Mitarbeitern. Ein hochrangiges Kaliber, dem kaum einer aus unseren Abteilungen das Wasser reichen konnte. Jeder wusste, dass er in der Politik mitmischte, aber parteilos blieb, wie er stets betonte. Trotzdem spürte man einen tendenziellen Hang in jene Richtung, die man in den oberen Gefilden der Luzerner als heisses Eisen proklamierte. Er stehe ausschliesslich dort, wo es sich für einen Polizisten gehöre, sagte er. Es umgab ihn die Aura des entschlossenen Mackers, der es sich vorgenommen hatte, aus der Stadt Luzern ein Pflaster freien Bewegens und Denkens zu schaffen, wenngleich Köpfe rollen sollten. Seine Arbeit hatte schon längst über die Grenzen seiner eigentlichen Tätigkeit gegriffen. Er beschäftigte sich knallhart mit den Medien, weil nach seinem Ermessen Gewalt und Verbrechen gezielt durch diese Zusammenarbeit in den Griff zu bekommen wären. Er diktierte den Redaktoren geradezu, was ihm nicht immer Sympathien einbrachte. Früher oder später würde man den Unterschied von damals zu heute schon bemerken. Es blieb offen, was er damit wirklich meinte.

Unter der Dusche erwachte ich erst richtig. Ich war kein Morgenmensch. Zum Rasieren blieb mir keine Zeit. Ein kurzer Blick in den Spiegel über dem Lavabo stimmte mich auch nicht positiver. Meine Haut war hell, trotz des Sommers. Ich mied die Sonne grundsätzlich. Salomé meinte letzthin, dass mir diese Blässe einen etwas frivolen Ausdruck verleihe und den Betrachter schon der Jahreszeit wegen provoziere. Egal. Immerhin gefielen ihr meine Grösse von 1,78 m, meine blauen Augen und die braunen, kurz geschnittenen Haare – Schweizer Durchschnitt hatte ich mal gelesen.

Ich schritt ins Schlafzimmer, holte meine Hose und ein frisches Hemd aus dem Schrank und zog sie mir über. Vergessen war meine Wut auf Korner, der mein freies Wochenende gestört hatte. Auf dem Weg zum Parkplatz rutschte ich in meine Schuhe. Nicht das erste Mal, dass ich mit akrobatischem Geschick meine Wohnung verlassen musste. Ich bemerkte, dass ich die Zigaretten oben liegen gelassen hatte, was mich ärgerte.

***

Daniel Betschard wohnte am anderen Ende der Brücke. Ich rief ihn auf dem Weg dorthin an. Der Festnetzanschluss wurde nach wiederholtem Klingeln auf sein Mobiltelefon umgeleitet, was Daniel ähnlich sah. Möglichst kompliziert. Er klang verschlafen und nicht sehr erfreut.

»Ich weiss, ich sollte mich beeilen«, knurrte er ins Telefon. »Habe die Nachricht soeben erhalten. Du kannst am üblichen Ort auf mich warten.«

Ich fuhr zum Kino Capitol, wo ich meinen Wagen parkte. Ich stieg aus. Während ich wartete, sah ich mir beim Kinoeingang den Aushang der neuesten Vorstellungen an. Zwei Typen in gestreiften Trainerhosen schlurften an mir vorbei. Sie sahen nicht danach aus, als gingen sie zur Arbeit. Sie warfen mir einen abschätzigen, wenn nicht arroganten Blick zu. Ich kannte diese feindseligen Augen, in denen sich wahrscheinlich meine eigene Feindseligkeit widerspiegelte. Das waren die Momente, in denen ich mir wie ein Fremder im eigenen Land vorkam. Ich ging zurück zum Wagen. Ich sah Daniel über den Zebrastreifen hasten. Sein Hemd hing ihm wie immer aus der Hose. Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen.

Er begrüsste mich schlaftrunken. Aus purem Mitleid öffnete ich ihm die Türe auf der Beifahrerseite. »Bist du überhaupt einsatzfähig?«, fragte ich, um ein Gespräch zu beginnen. Ich sah ihm an, dass er mit dem Reden Mühe hatte. Er blinzelte mich mit seinen grünen Augen an. Sein Gesicht wirkte fahl, sein rotblondes Haar zerzaust.

 

»Ich nehme an, dass du heute einen klaren Kopf brauchst«, sagte ich. »Hat dir Korner nicht mitgeteilt, worum es geht?«

»Wohin fahren wir denn?«

Eigenartig, dass mir erst heute auffiel, wie nervös Daniel wirkte. »Zum Sempacherpark«, sagte ich. »Zum Vögeligärtli. Man hat eine Tote gefunden. Die erste Leiche in diesem Sommer.«

»Wir hatten erst letzte Woche eine«, entgegnete Daniel lakonisch. Ich sah ihn im Augenwinkel das Hemd zuknöpfen.

»Das war eine männliche«, sagte ich, was Daniel das erste nette Lächeln entlockte.

***

Ich fuhr über die Hirschmattstrasse bis zur Murbacherstrasse. Vor der Zentralbibliothek stellte ich meinen Wagen ab. Ein Polizeiauto und ein Krankenwagen waren schon vor Ort. Das blaue Licht kreiste wie ein Karussell über die Fassaden und Bäume im nahen Umkreis. Der Park war mit rot-weissen Plastikbändern weiträumig abgesperrt. Leute drängelten an die Schranken heran. Die Schaulustigen nahmen ihre Plätze ein – wie Statisten in einem Kriminalfilm. Ich bemerkte über zehn mit Mobiltelefonen bewaffnete Zuschauer. Auch die Presse war da: Daniela Schneider von der Luzerner Zeitung, die mit ihrer Digitalkamera umherwirbelte. Es war eine ehemalige Schulkollegin von mir. Auch heute sah sie aus, als wäre sie gerade von einer Strandparty hierhergekommen. Ihre hochgesteckten Haare mit hellgrünen Strähnen fielen mir auf. Ich überlegte mir, woher sie von der Tat erfahren haben könnte. Ich ging ihr aus dem Weg. Korner war nicht anwesend. Dafür zwei Kollegen der Stadtpolizei. Ich blieb einen Moment stehen, um mich über die aktuelle Lage zu orientieren: Die übliche Hektik fehlte, Ratlosigkeit machte sich bemerkbar.

Später sah ich den Camion des Technischen Dienstes in die Murbacherstrasse einbiegen. Hinter der Frontscheibe erkannte ich Werner Dubach und war beruhigt. Daniel schritt auf ihn zu, verschwand im hinteren Teil, wo sie, er und Werner, bald darauf mit sterilen Anzügen wieder zum Vorschein kamen. Zwei Astronauten gleich oder in weisse Overalls gepackte Comicfiguren. Voll beladen mit Koffer, Kamera und den üblichen Utensilien übergingen sie die erste Schranke. Die Diener des gewaltsamen Todes.

Ich näherte mich den beiden Kollegen der städtischen Polizei und den Sanitätern, die eng beieinanderstanden. Hinter den Flatterbändern verharrte ich, nahe genug, um zu erkennen, was da los war.

Nur auf den ersten Blick sah es aus, als schliefe sie. Der seltsam verdrehte Kopf, das lange Haar, das ihr Gesicht zur Hälfte verdeckte, bezeugte jedoch, dass mit der Frau auf der Parkbank etwas nicht stimmte. Sie sass schräg da, ihr rechter Arm lag über der Lehne. Sie trug ein enges schwarzes Kleid, das ihr weit über die Knie gerutscht war, darunter schwarze Strümpfe; die Halter kamen teilweise zum Vorschein. Ihre Füsse steckten in offenen Schuhen mit hohen Bleistiftabsätzen. Neben ihr auf der Bank lag eine schwarze Lackhandtasche.

»Ein Clochard hat sie heute Morgen so gefunden«, erfuhr ich von einem der anwesenden Polizisten.

»Wo ist er?«, fragte ich.

»Er wartet hinten im Dienstwagen«, sagte der Polizist und drehte seinen Kopf seitlich über die linke Schulter.

»Hat man ihn schon befragt?«

»Nein.«

»Sind sonst noch unmittelbare Zeugen da?«

»Nein, niemand sonst.«

Ich musste mich um seine Antworten bemühen, was mich ärgerte. »Und die Leute hinter der Absperrung?«

»Die sind alle im Nachhinein gekommen.«

Die kamen immer im Nachhinein. Dann lauerten sie wie Aasgeier oder Hyänen, gierig auf den Rest der Beute starrend. Der Blick darauf wurde ihnen jedoch bald verwehrt: Die Techniker montierten eine Schutzwand.

»Sind die schon befragt worden?« Langsam wurde ich ungeduldig.

Der Polizist grinste mich blöd an. Ich schien nicht der Einzige zu sein, der mit dem Einsatz an einem Samstagmorgen Mühe hatte. »Unsere Leute sind dran«, sagte er und entfernte sich von mir, weil man ihn anderswo dringender brauchte.

Ich schaute mich um. In dieser frühen Morgenstunde erschien alles wie einbalsamiert. Die Häuser rund um den Park waren in diffuses Licht getaucht, die Jalousien geschlossen.

»Du solltest mal herüberkommen«, rief mir Daniel winkend zu und verschwand hinter der blickdichten Wand. Ich folgte ihm.

Später, nachdem Daniel mit den ersten Untersuchungen fertig war, trat ich an die Tote heran und betrachtete sie.

Manchmal gibt es einschneidende Momente im Leben, die kommen ohne Vorwarnung aus heiterem Himmel, und sie schlagen wie eine Bombe ein, reissen ein tiefes Loch in die Seele und man weiss, dass man dann nichts mehr rückgängig machen kann; man kann es nicht einmal wegdenken. Als ich in das Gesicht der Frau sah, traf es mich so hart, dass ich glaubte, es ziehe mir den Boden unter meinen Füssen weg. Ich verlor den Halt. Unbegreiflich. Salomé!

Der Name zuckte wie ein Blitz durch mein geistiges Auge, schlug brutal in mein Herz. Ich verdrängte den Gedanken. Sie sah ihr nur ähnlich. So unglaublich ähnlich. Ich würde den Namen der Toten gleich erfahren. Würde im Nachhinein über meine Hysterie lachen. Sonderbar, wenn man plötzlich neben sich selbst steht und sich aus der Perspektive des Aussenstehenden betrachtet. Das passierte mir heute zum ersten Mal. Ich fasste mich schnell wieder und richtete mich auf. Ich spürte, wie mir kalter Schweiss aus den Poren schoss, wie ein flaues Gefühl meinen Magen füllte. Ich versuchte, mich auf eine Bagatelle zu konzentrieren. Auf den Baum über mir, den ich durch die Zeltluke sah. Eine jahrhundertealte Buche, die ihre Äste weit und üppig über den Park breitete. Abwechselnd stieg mir der Geruch von Hundekot und trockenem Laub in die Nase.

»Wurde sie umgebracht?«, fragte ich Daniel. Er trug ein Diktafon bei sich, worauf er seine Feststellungen sprach.

»Siehst du diese Striemen da?« Er schob die Haare etwas zur Seite und zeigte mir zwei nebeneinanderliegende violette Vertiefungen. »Sie wurde stranguliert. Womit, kann ich nicht klar erkennen. Das ist dann Sache der Gerichtsmedizin.«

»Und die Todesursache?« Ich beugte mich über die Tote. Sie sah aus wie Salomé.

»Wahrscheinlich durch Ersticken«, sagte Daniel. »Ich muss jetzt weitermachen. Dazu kann ich dich nicht gebrauchen.«

»Wer hat sie gefunden?« Meine Selbstsicherheit zerrann wie Eis in meiner Hand. Ich griff mechanisch in meine Hemdtasche und erinnerte mich, dass ich die Zigaretten zu Hause liegen gelassen hatte. Jetzt hätte ich sie gebraucht, um mich an irgendetwas festzuhalten.

»Ein Kollege der Stadtpolizei sagte mir, dass sie kurz vor sechs Uhr einen Anruf aus dem Hotel neben der Zentralbibliothek bekommen haben.«

»Von wem?«

»Keine Ahnung. Scheinbar wollte er seinen Namen nicht nennen.«

Ich war erstaunt über das Tempo der Stadtpolizei. Möglicherweise war eine Patrouille in der Nähe oder sie war im Quartier auf Streife gewesen.

»Kann ich jetzt mit meiner Arbeit anfangen?«, rief Werner. Er kam zielstrebig ins Zelt. Seine Kamera hing ihm über den Bauch. Er sah nicht sehr glücklich aus. Einsätze an Wochenenden waren anstrengend und stellten die Betroffenen auch vor Bewährungsproben innerhalb ihrer Familie. Ich hatte einmal gelesen, dass die meisten Geschiedenen unter Polizisten zu finden seien.

Ich musste immerzu auf die schwarze Handtasche starren, auf den Lackbeutel neben der Toten. Ich stellte mich zu Daniel und schaute ihm bei der Arbeit zu. Seine Handgriffe waren Routine, ihn erschütterte kaum mehr etwas – oder er hatte ganz einfach die Gabe, solches wegzustecken. Die Leiche hier war beinahe unversehrt. Daniel hatte sich weiss Gott schon mit anderen Körpern auseinandersetzen müssen, mit fast bis zur Unerkenntlichkeit entstellten Mordopfern, mit zerschlagenen Gesichtern und abgetrennten Extremitäten. Jeder Normalsterbliche hätte in einem solchen Moment seinen Beruf hinterfragt. Daniel aber nahm seinen Job gelassen und überspielte seine Eindrücke gekonnt mit trockenem Humor. »Du kannst jetzt nach draussen gehen!«, befahl Daniel. »Du bist nicht steril genug.«

»Nur noch einen Augenblick. Wolltest du mir nicht noch etwas sagen?«

Hatte er die Handtasche schon gesehen? Mir ging sie nicht mehr aus dem Kopf. Vielleicht würde man etwas darin finden, was nicht jedermann zu Gesicht bekommen sollte. Vor allem nicht meine Kollegen. Ich verabscheute den Gedanken.

Daniel richtete sich auf. Sein Gesicht war rot angelaufen. »Wie kann man eine so schöne Frau kaltblütig umbringen?« Er besass also doch eine Seele.

Ich unterliess es, darauf etwas zu erwidern. Ich hätte auch kaum einen Ton herausgebracht. Die Handtasche beschäftigte mich. Vielleicht hätte ich sie einfach wegnehmen sollen. Daniel hätte es nicht bemerkt. Ich versuchte, ihn abzulenken, während ich mich der Sitzfläche wieder ein Stück näherte. Die Tasche war so klein, dass sie zwischen meinem Hemd und dem Bauch genug Platz hatte. Jetzt war ich plötzlich froh über meine Bier-Physiognomie. Ich war mir bewusst, dass ich mit diesem Griff einen gravierenden Fehler in Bezug auf die kriminaltechnischen Aufgaben machte. Hoffentlich schaute mir Werner nicht zu.

»Du entschuldigst mich«, sagte ich an Daniel gewandt. »Ihr könnt mich rufen, wenn ihr fertig seid. Ich werde mich da hinten mal ein wenig umsehen.« Ich verliess die Abdeckung.

Ich schaute Werner an, der die nähere Umgebung des Fundortes kritisch absuchte und fotografierte. Vielleicht würde er später verdächtige Dinge entdecken, die jetzt an Ort und Stelle nicht zu sehen waren oder ganz einfach nicht wahrgenommen wurden. Und die Tasche? Ich realisierte meine momentane Fahrlässigkeit, ohne genau zu benennen, warum das so war.

Mir schnürte es die Kehle zu. Ich musste hier weg. Ich ging zurück zu meinem Wagen.

Es war schwülheiss. Die Brise aus dem Süden mutete wie ein trockener Atem an, der mir das Atmen erschwerte. Meine Zunge fühlte sich an wie Fliesspapier, worauf kleine Staubpartikel klebten oder Sand aus der Wüste Nordafrikas. Seit Anfang Mai hatte es nicht mehr geregnet. Die Luft hing wie eine Glocke über der Stadt.

Im Wageninneren war es noch unerträglicher. Ich legte die Lackhandtasche der Toten vor mich auf die Knie und betrachtete sie. Ich hatte noch nie eine solche Tasche gesehen. Sie war aus teurem Material gefertigt, es war keine aus diesem billigen Lack, wie man sie in den Warenhäusern kaufen konnte. Ich drehte den Verschluss und kippte den Inhalt auf meine Beine. Zum Vorschein kamen eine kleine Geldbörse, ein Lippenstift, ein farbiges Kondom, zwei verschiedene Wohnungsschlüssel, ein angebrochenes Zigarettenpäckchen und ein vergoldetes Feuerzeug. Ich hätte mir am liebsten eine Zigarette angezündet, konnte aber der Versuchung widerstehen. Im Portemonnaie befanden sich ausser ein paar Münzen dreihundert Franken in Scheinen und eine Kreditkarte. Raubmord war schon einmal auszuschliessen. Es schien eher so, dass der Mörder bewusst wollte, dass man die Tote an Ort und Stelle nach ihrem Namen identifizierte. Ich hatte gedacht, etwas mir Vertrautes zu finden, und fühlte Erleichterung, weil es nicht der Fall war. Ich überprüfte die beiden Schlüssel, deren Nummerierung mir nicht bekannt vorkam. Ich schaute die Kreditkarte näher an. Sie war auf den Namen Catherine Mahler ausgestellt. Das Foto am unteren linken Rand auf der Rückseite der Karte konnte mit der Toten übereinstimmen. Sollte ich aufatmen? Sie hiess Catherine und nicht Salomé. Ich zwang mich, ruhig zu bleiben. Und genau dieser Zwang bewirkte, dass es mir den Boden erneut unter den Füssen wegzog. Das Bild war nicht sehr scharf. Aber es kam mir bekannt vor. Eine dunkelhaarige Frau mit aussergewöhnlichen Augen. Salomés Augen. Irgendwo hatte ich dieses Bild schon einmal gesehen. In einem grösseren Format.

Gestern noch war sie bei mir gewesen. Ihr Name war Sehnsucht. Begehren. Lebenslust. Wir hatten uns regelmässig in meiner Wohnung getroffen. Dann gab es nichts, worüber wir sprachen. Unsere Körper sprachen für sich. Ich erlebte sie jedes Mal wie beim ersten Mal. Ich sah sie vor mir, ihre olivefarbene Haut, diese zarten, feinen Läppchen, die sie hemmungslos vor meinen Augen aufblätterte.

Ich ertappte mich dabei, wie ich lange und nachdenklich auf das kleine Bild auf der Kreditkarte starrte. Das hier war nicht Salomé. Nicht meine Salomé. Ich wollte nicht, dass sie es war. Da glaubte ich, eine Frau zu kennen, ihren Körper, ihre verborgensten Winkel. Und auf einmal erschien sie mir wie ein fremdes Wesen. Eine seltsame Leere breitete sich in mir aus. Ich hatte nicht einmal den Familiennamen von ihr. Das war so nebensächlich gewesen. Sie arbeite im Kantonsspital, hatte sie mir gesagt. Insgeheim hatte mich ihr Beruf beruhigt, und ich nahm ihre Schichtarbeit genauso in Kauf wie sie meine.

 

Ich stieg wieder aus. Die Tasche liess ich im Wagen liegen, mir keiner Konsequenz bewusst. Ich ging zurück in den Park. Daniela Schneider war verschwunden. Alle anderen mir bekannten Gesichter waren noch da. Und eine Menschentraube, die sich ständig vergrösserte: neugieriges Volk, das sich am Leid ergötzte, erregt darauf wartend, dass sie die Tote sehen würden.

In der Zwischenzeit war auch Conradin Caflisch, der Chef des Ermittlungsdienstes eingetroffen. Ich sah, dass er sich mit Daniel unterhielt. Ich ging zu ihm und grüsste ihn knapp. Nach mehr war mir nicht zumute. Conradin war mein unmittelbarer Vorgesetzter, gross, schlank und agil, der es mich immer wieder unverblümt wissen liess, dass er in der Leiter der Hierarchie eine Sprosse höher stand als ich. Er war bündnerischen Ursprungs, schnauzbärtig und dunkelhaarig, ein etwas sturer Mensch, der fast zur gleichen Zeit wie ich zur Kapo gekommen war. Die einengenden Berge im Prättigau hatten seinen Charakter geprägt; die Weitsicht fehlte ihm. Trotzdem schätzte man ihn in der Abteilung, weil er wie niemand sonst mit einer unerschütterlichen Vehemenz an eine Sache herangehen konnte.

»Hast du schon Zeugen befragen können?« Conradin bugsierte mich zur Seite.

Plötzlich erinnerte ich mich an den Clochard, der sicher immer noch im Dienstauto der Stadtpolizei wartete, falls ihn nicht schon jemand anderer befragt hatte. »Ich werde mit der ersten Zeugenbefragung anfangen«, wich ich aus.

Conradin schaute auf seine Armbanduhr. »Ich möchte, dass du dir danach den Empfangschef des Hotels da drüben mal unter die Lupe nimmst. Er hat die Stadtpolizei benachrichtigt. Ich kümmere mich um den Rest.«

»Wann werden wir uns wiedersehen?«

»Wenn hier alles erledigt ist«, antwortete Conradin. »Spätestens um elf in Hellers Büro. Bis dahin wissen wir vielleicht mehr.«

Später traf der Leichenbestattungsdienst ein, um die Tote in die Gerichtsmedizin nach Zürich zu bringen.

Den Polizeiwagen fand ich auf dem Parkplatz neben der Bibliothek. Im Wageninneren sass ein Mann in abgewetzten Hosen und mit nacktem Oberkörper. Ich setzte mich zu ihm. »Haben Sie die Frau gefunden?«

Der Mann reagierte zuerst nicht. Er starrte wie gebannt auf seine Hände. Helle, feingliedrige Hände. Die Hände eines Akademikers, durchfuhr es mich. »Sie müssen mir ein paar Fragen beantworten«, sagte ich.

Der Mann erschrak. Sein Blick war feindselig. »Ja, ich habe sie gefunden«, antwortete er mit Verzögerung. Ein saurer Geruch von abgestandenem Alkohol ging von ihm aus.

Ich lehnte mich zurück. »Und etwas anderes haben Sie nicht bemerkt oder gehört? Ein Auto oder Personen?«

»Ich habe da hinten geschlafen«, sagte er, »... tief geschlafen«, ergänzte er und machte eine ausschweifende Körperbewegung gegen die Fensterscheibe.

Das nahm ich an, weil er mit Sicherheit betrunken gewesen war.

Ich reichte ihm einen Schreibblock. »Notieren Sie Ihren Namen und Ihre genaue Anschrift«, sagte ich und wusste im gleichen Moment, dass er dies wahrscheinlich nur zur Hälfte erledigen würde. Ich sah ihm zu, wie er mit zittrigen Buchstaben seinen Namen auf das Papier kritzelte »Max Sommerhalder«, lächelte der Clochard verzerrt. »Wollen Sie die Sommer- oder die Winteradresse wissen?«

Ich nahm ihm den Block aus der Hand. »Das reicht fürs Erste.« Seine Schrift wäre ein spannendes Austüfteln für die Grafologen gewesen. »Vielleicht sollten Sie zuerst ausnüchtern«, schlug ich vor.

In Sommerhalders Augen trat ein Leuchten. »Sie halten mich wohl für einen Vollidioten.« Er lächelte, während er dies sagte. »Ich sehe zwar aus, als hätte ich von den Dingen des Lebens keine Ahnung, aber immerhin habe ich einmal studiert. Lassen Sie sich von meiner Schnapsfahne nicht irreführen. Aber mit irgendetwas muss man sich schliesslich sein Leben versüssen.«

Doch ein verhinderter Akademiker. Ich ging nicht weiter darauf ein. »Wem haben Sie den Fund gemeldet?«, fragte ich und erhielt nur ein unverständliches Kopfschütteln.

»Ich mag mich nicht erinnern.«

Sein Kurzzeitgedächtnis schien ein paar Sprünge zu haben und gab meinem Gefühl, dass er nicht mehr auf seinem geistigen Hoch war, recht. Oder machte er das absichtlich? Wusste er am Ende mehr, als er zugab? »Melden Sie sich am Montag um neun Uhr bei der zuständigen Instanz«, wiederholte ich. Ich reichte ihm meine Karte. Meine Unterhaltung mit ihm war somit beendet. Meine Energie am Nullpunkt angelangt, und es schien, als hätte ich noch einen langen Tag vor mir. »Sie können wieder gehen«, sagte ich und stieg aus dem Wagen.

Noch im Davongehen hörte ich den Clochard von seiner unfeinsten Art. Er schoss mir eine Salve Flüche hinterher, die an Obszönem nichts unterliessen. Ich verstand ihn.

***

An der Ecke, wo sich Sempacher- und Murbacherstrasse kreuzten, befand sich ein Hotel mit einem Restaurant im Keller, in das man von der Strasse aus durch eine schräg gestellte Fensterfront sehen konnte. Ich war in The Hotel noch nie eingekehrt. Aber mein Kollege Werner war dort einmal eingeladen gewesen. Wie nicht anders zu erwarten, hatte er sich damit mir gegenüber gebrüstet.

Schon in der Empfangshalle witterte ich den Geruch von Putzmittel. Es roch steril. Genauso kam mir der Mann hinter der Rezeption vor. Er grinste mir künstlich entgegen. Er tat so, als hätte er von der Hektik draussen nichts bemerkt. »Guten Morgen, was kann ich für Sie tun?« Ein professionelles Lächeln. Einstudierte Gestik. Auf eine bestimmte Gattung Gäste mochte das positiv wirken. Mich provozierte es. Er hatte keine Ahnung von der harten Realität des Lebens. Es fand ausserhalb des Hotels statt. Hier drinnen herrschte Bühnenromantik, und der Mann hinter dem Tresen wirkte so, als wäre er derjenige, dem die wichtigste Rolle seiner Karriere zugefallen war. Er war mittelgross, blond, selbstsicher und roch penetrant nach Rasierwasser, was ich bei meinem Nähertreten bemerkte. Es übertraf alles. War er derjenige, der die Tote gemeldet hatte? Ich räusperte mich. »Wann haben Sie Ihren Dienst angetreten?«

»Wie bitte?« Jetzt war er verdattert und das gefiel mir. Schnell fiel er ins Klischee zurück. »Was meinen Sie damit?«

Ich rückte meinen Ausweis heraus und hielt ihn nahe an seine Augen. »Sie haben mich schon richtig verstanden.«

Er machte einen Schritt zurück. »Ich kann nicht hellsehen«, sagte er in gebrochenem Deutsch und setzte wieder dieses kitschige Lächeln auf. Ich spürte instinktiv, dass er nicht gewillt war, mehr von sich preiszugeben. Ohne auf seine Bemerkung einzugehen, was mir allerdings schwerfiel, wiederholte ich meine Frage.

»Ich beginne meine Arbeit um sechs«, antwortete er.

»Haben Sie die Polizei benachrichtigt?«

Er schwieg eisern, was ich nicht verstand.

»Ich kann Sie vorladen, wenn Ihnen das lieber ist«, sagte ich lauter.

Das missfiel ihm offensichtlich. »Okay, ich habe die Stadtpolizei angerufen. Der Zigeuner aus dem Park hatte wohl keine andere Wahl, als mich um Hilfe zu bitten. Ist das ein Verbrechen?«

»Nein, aber Ignoranz.«

»Ich habe nicht gewusst, wie wichtig es für Sie sein würde.«

»Wollen Sie mich zum Narren halten?«

»Sie müssen wissen, dass das hier ein renommiertes Hotel ist und die Gäste ...«

Ich liess ihn nicht aussprechen. »Zum Teufel. Da drüben ist eine Frau tot aufgefunden worden. Und Sie machen sich Sorgen um Ihre Gäste?«

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