Mika, Tony und Jack

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Mika, Tony und Jack
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Sigrid Zeevaert

MIKA, TONY und JACK


Mit Bildern von

Regina Kehn


Als ich sie das erste Mal sah, wusste ich schon: Das könnte was werden mit uns. Nicht so, wie manche vielleicht gleich wieder denken, auch wenn Tony ein Mädchen und ich ein Junge war, aber darum ging es ja nicht. Außerdem saß sie nicht allein auf diesem Bretterzaun, Jack saß auch noch da. Sie sahen rüber zu mir und wahrscheinlich redeten sie in diesem Moment auch über mich, so jedenfalls kam es mir vor.

Kurz überlegte ich und ging dann aber doch nicht zu ihnen hin. Irgendwie fehlte mir dazu der Grund. Abgesehen davon hielt ich mich sowieso lieber zurück und kannte mich hier ja auch noch nicht aus. Ich war eben neu. Paul war daran schuld, der mich hierhergeschleppt hatte und zufällig mein Vater war. Wegen ihm waren wir hier und weil er glaubte, dass es nicht anders ging. Wo es da ja noch Greta, seine neue Freundin, gab und ihr kleines Haus. Paul und ich passten gerade noch rein. Groß gefragt hatte Paul mich allerdings nicht. Vielleicht hatte er Angst gehabt, ich würde Nein sagen. Hätte ich vielleicht ja sogar. Nur, um mal zu sehen, was für ein Gesicht er dann machen würde.

Aber na ja. Ich bekam ein kleines Zimmer gleich unterm Dach. Der Rest, sagte ich mir, ging mich erst mal nichts an oder jedenfalls hielt ich mich lieber raus. Ich hatte genug mit mir selber zu tun. Und damit, was alles wieder von vorn anfing.

Tony und Jack gingen sogar in dieselbe Klasse wie ich. Aber in der Pause stand ich mit anderen da.

»Du kommst wirklich aus Schweden?«, fragten sie, dabei wussten sie es doch längst. Frau Becker, unsere Klassenlehrerin, hatte es ja vorhin gesagt.

Ich schob die Hände in die Taschen und sagte achselzuckend: »In den letzten zwei Jahren haben wir da gewohnt, mein Vater und ich.«

Wieder wanderten Blicke. »Ah«, sagten sie. Wahrscheinlich hatten sie keine Ahnung, wo Schweden überhaupt lag und wie viele Seen es dort gab. Paul und ich hatten einen für uns alleine gehabt. Es hatte trotzdem nicht zum Bleiben gereicht, wie woanders ja auch nicht.

»Und ihr seid alle von hier?« Ich wollte nicht, dass sie weiter fragten. Nach Paul und mir und warum wir überhaupt in Schweden gewesen waren. Und was mit meiner Mom war. Paul und ich waren in den letzten Jahren immer wieder umgezogen und ich war gespannt, wie lange wir es diesmal aushielten.

Die anderen erzählten, nannten Straßen und zeigten in verschiedene Richtungen. Häuser, in denen sie wohnten, manche hatten es von hier aus nicht weit.

»Hör mal, Mika«, sagte einer und stellte sich dicht neben mich, »wenn du willst, können wir uns verabreden.« Er trug eine Brille, hinter der sein Gesicht fast verschwand. Überhaupt sah alles an ihm ein bisschen merkwürdig aus, irgendwie altmodisch. Obwohl ich mir nicht viel daraus machte, fielen seine Sachen mir jedenfalls auf. Die Hose mit den Hosenträgern, die von ganz früher übrig geblieben zu sein schienen. Und das Hemd. Ich kannte keinen, der so herumlief wie er. »Heute Nachmittag hätte ich Zeit«, sagte er jetzt leise. Anscheinend wollte er nicht, dass außer mir noch jemand mithörte.

Trotzdem grinsten alle um uns herum.

Und ich sagte schnell: »Weiß nicht.« Ich überlegte, wie ich mich am besten rausreden konnte. »Hab meinem Vater versprochen, ein paar Regale mit ihm aufzubauen.« Direkt gelogen war das ja nicht, schließlich gab es seit unserem Einzug immer noch etwas zu tun. Neue Leisten anbringen. Die letzten Kisten auf den Dachboden schleppen.

Der Junge mit der Brille, Arvid oder so ähnlich hieß er, nickte, als hätte er sich das schon gedacht. Er kaute auf seiner Lippe. Wahrscheinlich war er es gewohnt, dass niemand wirklich etwas mit ihm zu tun haben wollte. »Du kannst mir ja Bescheid sagen, wenn du damit fertig bist«, murmelte er.

»Klar.« Irgendwie tat er mir leid. Und deswegen nahm ich den Zettel mit seiner Handynummer, den er mir hastig gab, und steckte ihn ein. Meine rückte ich aber lieber gar nicht erst raus. »Reicht ja, wenn ich deine habe«, erklärte ich schnell.

»Stimmt.« Ein Lächeln huschte über sein Gesicht.

Wir standen alle noch da, schoben irgendwann eine Papierkugel zwischen uns her, die so was wie ein Ersatzfußball war.

Dann war die Pause vorbei. Und zwischen all den anderen auf der Treppe sah ich Tony und Jack. Sie beachteten mich gar nicht mehr, was mir vielleicht auch nicht so wichtig war. Irgendwie kam ich schon klar.

Ich saß schließlich wieder an meinem Platz, ziemlich weit hinten, von wo man alles gut übersah. Neben mir saß niemand, aber das war ja egal. Wo ich mir sowieso erst mal anhören musste, was wir im Unterricht gerade durchnahmen. Manches davon hatte ich schon mal durchgekaut. Von anderem dagegen hatte ich noch nie das Geringste gehört.

Als die letzte Stunde vorbei war, packte ich meine Tasche und zog wieder ab. Warf kurz noch mal einen Blick zu Tony und Jack rüber, die es anscheinend nur im Doppelpack gab. Immer und überall tauchten sie zusammen auf, als klebten sie aneinander fest und als interessierte sie alles, was um sie war, sowieso nicht die Spur, sie hatten ja sich. Ich wusste auch nicht, warum, aber irgendwie fand ich an ihnen etwas.

Ich setzte mich auf mein Fahrrad, es gehörte mir nur so halb und war auch ein bisschen zu groß für mich, weil es genau genommen Moms Fahrrad war. Ich hatte es damals aus dem Schuppen geholt. Paul hatte mir das auch erlaubt. Bevor es verrostete, war es ja wohl besser, wenn wenigstens ich es benutzte, hatte er dazu gesagt.

Jetzt fuhr ich erst mal nach Hause. Also dahin, wo wir neuerdings wohnten, auch wenn ich nachts manchmal noch aufwachte und nicht gleich wusste, wo ich überhaupt war. Bis ich das Licht anknipste und das schräge Dachfenster sah. Die hellblaue Wand. Keine Ahnung, ob Greta sie wegen mir so gestrichen hatte. Ich hatte sie nicht danach gefragt. Und war froh, dass sie mich erst mal in Ruhe ließ. Ich war mir noch nicht sicher, wie ich sie fand. Im Gegensatz zu Paul, der wirklich verliebt in sie war. Aber das war ja egal.

Etwas zu früh bog ich ab, geriet in Straßen, in denen ich bisher noch nicht gewesen war. Große alte Häuser standen überall hier herum, schicke Villen mit riesigen Balkons und prunkvollen Fassaden, die dreimal so groß waren wie Gretas Haus. Wer hier wohnte, war garantiert reich.

Ich fuhr nicht sehr schnell, fühlte mich irgendwie fremd. Und weil ich sowieso Hunger hatte, kehrte ich wieder um und erschrak, als mir vom anderen Ende der Straße ausgerechnet Tony auf ihrem Fahrrad entgegenkam. Ich erkannte sie an ihren Haaren, dunkle wilde Locken hatte sie. Nicht unbedingt lang. Von Jack war nichts zu sehen.

Meine Handbremse quietschte, als ich sie zog.

Auch Tony blieb stehen, sah mich misstrauisch an. »Suchst du was Bestimmtes?«, fragte sie nur.

»Quatsch.« Ich stammelte rum. »Hab mich verfahren …« Wahrscheinlich wurde ich sogar rot. Ich wollte nicht, dass Tony noch glaubte, ich spionierte ihr nach.

»Du kennst dich wohl noch nicht so gut aus?« Ihr Gesicht verzog sich zu einem Grinsen.

Ich zuckte die Achseln und grinste jetzt auch. »Ja dann.« Ich nahm Schwung und fuhr auch schon weiter, obwohl ich gern noch stehengeblieben wäre, einfach nur so.

Ob sie mir nachblickte, fragte ich mich, aber natürlich drehte ich mich nicht noch mal zu ihr um. Dabei hätte ich sie fragen können, ob sie hier wohnte. Und ob sie und Jack am Nachmittag vielleicht Zeit gehabt hätten. Jetzt war es zum Fragen zu spät.

So schnell ich konnte, fuhr ich nach Hause. Ich würde mich nicht noch mal verfahren und in Straßen geraten, in die ich gar nicht wollte, soviel stand fest.

Ich schob mein Fahrrad in den Schuppen, drückte die Klingel, als ich vor unserer Haustür stand. Den Schlüssel ließ ich in der Tasche, irgendwie passte das für mich noch nicht.

»Ist Paul auch da?«, fragte ich, als Greta mir öffnete. Dabei wusste ich, dass er noch unterwegs war. Ich drückte mich an ihr vorbei. Aus der Küche roch es schon gut. Anscheinend hatte Greta gekocht.

»Nein«, sagte sie. »Paul kommt später. Aber wenn du nichts dagegen hast, könnten wir beide ja schon etwas essen? Was hältst du davon?«

Der Hunger war daran schuld, dass ich nicht gleich abwinkte, sondern mich zu ihr in die Küche setzte, wo der Tisch für drei gedeckt war. Ich war nicht freiwillig hier, das war Greta hoffentlich klar. Ich war ja nicht mal mit ihr verwandt. Aber essen musste man. Ich hatte also gar keine Wahl.

Ich fuhr schon bald wieder los. War froh, dass Greta nicht noch zu mir hochgekommen war und mir auch keine überflüssigen Fragen gestellt hatte. Reden war nicht so mein Fall. Beim Essen hatte sie lauter Sachen gesagt, die ich gar nicht hören wollte. Schon mal ganz bestimmt nicht von ihr. Dass alles wohl nicht so einfach für mich war und erst seine Zeit brauchte und so.

Ich wollte nur raus, in die Felder. Und vielleicht noch weiter, bis in den Wald.

In Schweden war ich manchmal mit Paul losgezogen und wir hatten geangelt, oft auch mit Thies, der mein Freund gewesen war. Wir hatten fast alles zusammen gemacht und uns geschworen, uns durch nichts und niemanden auseinanderbringen zu lassen. So schnell konnte es gehen, dass das nicht mehr galt.

 

Ich legte den Kopf in den Nacken und spürte den Wind. Fuhr an den Feldern vorbei. Krähen saßen darin, ein paar flogen auf. Ich blieb gar nicht erst stehen, fuhr, bis ich den Wald schließlich erreichte, der mir dunkel vorkam, kühl und irgendwie geheimnisvoll mit seinen riesigen Bäumen, durch die das Licht in Streifen bis auf den Waldboden fiel.

Ich stieg erst wieder ab, als der Weg steil bergan stieg, schob mein Fahrrad ein Stück. Hörte nichts bis auf meinen keuchenden Atem und meine eigenen Schritte. Das leise Rauschen der Bäume im Wind.

Als ich auf der Anhöhe war, fuhr ich wieder los, weiter, immer weiter geradeaus. Folgte Reifenspuren, bis ich sie wieder verlor. Der Waldweg war schmaler geworden, war jetzt nur noch ein Pfad. Zweige schlugen mir ins Gesicht, dichtes Gestrüpp und Geäst, bevor ich plötzlich wieder auf einen größeren Weg stieß. Und nicht viel weiter auf das Ende vom Wald. Häuser tauchten auf. Ehrlich gesagt war ich überrascht. Erst recht, als mir jemand auf dem Fahrrad entgegenkam, den ich an seinen blonden Haaren und dem grünen T-Shirt sofort erkannte: Es war Jack. Also interessierte er sich auch für den Wald?

Ich wurde langsamer und blieb stehen, als wir auf einer Höhe waren. »Hey«, sagte ich. »Erst treffe ich Tony, dann dich.«

Jack nickte kühl und musterte mich. »Ich weiß«, sagte er. Also hatte sie ihm davon erzählt. Vielleicht hatte sie ihm auch eine Nachricht geschrieben. »Und was machst du im Wald?«, fragte er.

Ich zuckte die Achseln. »Rumfahren.« Etwas anderes fiel mir nicht ein. »Und mich verirren.« Damit er mich nicht für blöd hielt, erwähnte ich schnell noch Schweden, wo es tausendmal mehr Wald als hier gab. Und riesige Seen.

Jack spielte an seiner Klingel. »Und warum seid ihr dann hier?«

»Mein Vater wollte das so«, murmelte ich und fügte noch hinzu, dass er eben gern unterwegs war und Abenteuer erlebte. »Früher ist er sogar Steilwände hochgeklettert. Und bis in die Baumspitzen und auf Dächer und so.«

»Ah«, sagte Jack und in seinen Augen blitzte etwas. »Und das macht er auch hier?«

»Manchmal«, sagte ich, und bevor das Gespräch noch auf Greta und Mom und all die Sachen kam, schob ich hinterher: »Dann machs mal gut.« Nach Tony fragte ich gar nicht mehr. Oder ob sie sich heute noch trafen. Ich fuhr wieder los.

Morgen, sagte ich mir, als ich die Straße hinunterrollte und schließlich die Siedlung erreichte, die mir bekannt vorkam, morgen in der Pause könnte ich ja wirklich mal zu ihnen gehen, eben zu Tony und Jack, wenn sie wieder zusammenhockten oder sich in eine Ecke verkrochen. Irgendwo erwischte ich sie schon. Und vielleicht fragte ich sie dann auch, ob sie mal Zeit hätten. Einfach nur so.

Ich musste gar nicht erst suchen. Als ich am nächsten Morgen in der Schule ankam, sah ich sie wieder auf dem Bretterzaun sitzen. Sie redeten, waren beide irgendwie aufgeregt, vielleicht stritten sie sich sogar. Jedenfalls rutschte Jack schließlich vom Zaun und ging weg. Tony blieb allein zurück und kam irgendwann rüber zu mir.

»Und?«, fragte sie, und ich konnte nicht anders, musste kurz auf ihre dunklen Haare und in ihr Gesicht sehen, in dem keine Spur von einem Grinsen war. »Kennst du jetzt den Weg?«

»Ich glaube schon«, murmelte ich und überlegte, ob ich sie fragen sollte, ob sie etwa in einer dieser schicken Villen wohnte, aber vielleicht fand sie so eine Frage ja blöd.

»Wir dachten …« Tony wandte sich von mir ab, suchte über die vielen Köpfe hinweg nach Jack, der im Gewühl verschwunden war. »Also jedenfalls … Wenn du dich langweilst, kannst du ja mal mit uns kommen.« Ihre Hände verschwanden in ihren Hosentaschen. »Ein Fahrrad hast du ja auch.«

»Klar«, sagte ich schnell und atmete durch. War überrascht, dass sie überhaupt fragten. »Und wohin?«

»Heute Nachmittag wollen wir in den Wald.« Tony schien nicht daran zu zweifeln, dass ich gleich heute mitkommen würde. »Um drei treffen wir uns an der Stelle, wo du mit Jack geredet hast. Wir warten aber nicht.« Ihr letzter Satz klang schon fast wie eine Drohung. Sie zuckte die Achseln, drehte sich um und ließ mich einfach stehen.

Ich starrte ihr nach. Lief, als der Schulgong ertönte, mit allen anderen durch die Eingangstür, dann die Treppe hinauf. Es gab ein Riesengedränge.

Von Tony und Jack sah ich nichts mehr, aber das war ja egal. Sie hatten mich gefragt, nie hätte ich das von ihnen gedacht.

Auf einmal war alles viel weniger schlimm. Dass ich überhaupt hier war und dass immer noch niemand neben mir saß.

Ich bekam sogar das Bruchrechnen hin. Hatte nichts gegen das Gedicht, das wir später besprachen, und hörte mir auch die Merkmale der verschiedenen Trockenzonen an. Sah, wie Arvid Anlauf nahm und dann doch nicht zu mir kam, weil ich mich gerade noch rechtzeitig wegdrehte und tat, als hätte ich ihn nicht gesehen. Hörte, wie er mir etwas nachrief, als ich am Ende des Schultages auf mein Fahrrad stieg, wandte mich aber nicht noch einmal um. Fuhr ohne Umweg nach Hause.

Schließlich saß ich mit Greta am Tisch und wir aßen Brokkoli-Auflauf. Von Paul sprachen wir gar nicht erst. Klar, der hatte wieder jede Menge Termine, wo er gerade mit einer neuen Stelle anfing. Paul war Berater für Projekte mit Windenergie. Greta arbeitete als Krankenpflegerin im Krankenhaus. Machte manchmal Nachtdienst und so. Ob sie auch Tabletten verteilte und Verbände anlegte, hätte ich sie fast gefragt. Aber dann verkniff ich es mir doch irgendwie.

Sagte, als wir beim Abräumen waren und sie mich fragte, ob ich Lust hätte, am Nachmittag noch einen Kakao mit ihr trinken zu gehen: »Geht nicht. Hab schon was vor.«

»So?«, sagte sie überrascht. »Verrätst du mir auch, was?«

»Na ja.« Ich blickte an ihr vorbei und erwähnte den Wald. Und dass ich nicht allein ging. Mehr sagte ich nicht. Aber ich fand, das reichte ja auch. Ich stellte meinen Teller auf der Spülmaschine ab und drückte mich durch die Tür.

»Pass aber auf!«, hörte ich Greta noch und es war irgendwie etwas in ihrer Stimme. »Der Wald ist größer, als man denkt, und man verläuft sich sehr leicht, wenn man sich nicht auskennt.«

Ich fuhr in T-Shirt und halblanger Hose. Ließ mir beim Fahren viel Zeit. Ich wollte nicht, dass es so aussah, als könnte ich es gar nicht erwarten, endlich zu unserer Verabredung zu kommen. Andererseits wollte ich natürlich auch nicht zu spät sein, schließlich warteten sie nicht, hatte Tony gesagt. Ich fuhr so, dass ich auf die Minute genau bei der Stelle kurz vor dem Wald war. Klar war ich neugierig auf Tony und Jack und überhaupt auf den Wald, mit dem irgendwas war. Und vielleicht stimmte es ja und wir passten zusammen. Irgendwie hatte ich so ein Gefühl.

Erst mal war von ihnen aber weit und breit nichts zu sehen. Ich blickte mich um. Warf noch mal einen Blick auf die Uhr. Die drei großen Bäume mit der Marienfigur aus Stein, die halb in den Büschen verschwand, hatte ich gleich wiedererkannt.

Ich wartete. Fummelte ein bisschen an meiner Gangschaltung herum und fuhr ein-, zweimal im Kreis, zog einen Popel aus der Nase, schnipste ihn weg, sah mir sogar die Marienfigur aus Stein näher an. Wie sie auf den Boden guckte und irgendwie gütig war. Warf noch mal einen Blick auf die Uhr. »Blöd«, murmelte ich. Inzwischen war es fast viertel nach drei. Vielleicht waren Tony und Jack längst wieder weg und ich stand wie ein Trottel hier rum?

Ich gab meinem Vorderrad einen Tritt, schimpfte dabei halblaut vor mich hin. Vielleicht hatten sie mich auch reingelegt und dachten gar nicht daran, sich wirklich mit mir zu treffen.

Ich stieg wieder auf, überlegte, ob ich zurückfahren sollte.

Da kicherte es plötzlich über mir im Baum, Blätter raschelten und ich erkannte die grünen Schuhe von Tony, dann die braune Hose von Jack. Sie rutschten über einen Ast, bevor ich auch ihre Köpfe über mir sah.

»Echt blöd«, äffte Jack mich jetzt nach.

Ich brummte irgendwas, während die beiden zu mir heruntergeklettert kamen.

»War so gemütlich da oben«, sagte Tony, die als Erste neben mir stand.

»Und es gab jede Menge zu sehen.« Jack kam gleich hinterher. Grinsend klopfte er sich den Staub von seinen Sachen.

»Ist schon okay«, winkte ich ab, obwohl ich es nicht besonders mochte, wenn andere sich über mich lustig machten und so taten, als wäre ich doof. War ich nämlich nicht. Und ich hätte wetten können, dass Jack derjenige gewesen war, der darauf bestanden hatte, in den Baum hochzuklettern und mich erst mal zappeln zu lassen.

Sie zogen ihre Fahrräder aus dem Gebüsch, stiegen auf und endlich fuhren wir los.

Viel sagten wir erst mal nicht. Ich fragte auch nicht. Hatte nichts gegen ein Abenteuer, solange es nicht wieder blöd für mich war. Im Wald war ich schließlich gern, weil alles irgendwie anders war. Eben ganz schön. Und ja auch still unter den riesigen Bäumen. Man war ganz allein. Oder jedenfalls fast. Und man musste genau auf den Weg achten, auf spitze Steine, Äste und kleine Schlaglöcher, die plötzlich vor einem auftauchen konnten.

Jack fuhr voraus, gefolgt von Tony, die die ganze Zeit dicht hinter ihm blieb. Als Letzter kam ich, weil ich ja auch noch nicht zu ihnen gehörte. Das konnte man schon daran merken, dass die beiden immer erst sich anguckten, wenn sie etwas sagten.

Trotzdem fand ich es okay. Und außerdem hatte ich so alles noch besser im Blick. Immer wieder versuchte ich, mir auffällige Stellen zu merken. Größere Steine oder Markierungen am Wegrand. Bäume, die anders waren. Mit Thies hatte ich das in den Wäldern von Schweden auch oft gemacht. Dann hatten wir uns vorgestellt, irgendwo ausgesetzt worden zu sein und uns allein durchschlagen zu müssen.

Der Weg wurde schmaler, wir ließen die Fahrräder schließlich zurück und liefen zu Fuß weiter, quer durch den Wald. Tony drehte sich nur manchmal zu mir um, Jack schien es überhaupt nicht zu kümmern, ob ich noch da war. Er hatte nur Augen dafür, wo wir am besten durchkamen, brach immer wieder kleine Äste und Zweige ab und schlug den Weg für uns frei, wobei Tony sich manchmal anders entschied und die beiden kurz in Streit darüber gerieten, wo es für uns weiterging.

Ich redete ihnen gar nicht erst rein und drängelte mich auch nicht vor, dabei war ich im Auskundschaften von Wegen geübt. Aber hier hielt ich mich zurück, weil ich nicht sicher war, was mit ihnen war und was sie vorhatten. Auch mit mir. Ich fragte sie nicht. Ich wollte nicht, dass sie merkten, dass ich ein bisschen unruhig war. Und außerdem gab es vielleicht gar keinen Grund, obwohl Gretas Warnung mir wieder einfiel.

Immer tiefer gerieten wir in den Wald, kämpften uns durch das Unterholz, bis ich irgendwann doch noch die Orientierung verlor und nur froh war, mit Tony und Jack hier zu sein. Obwohl mir dann wieder nicht wohl bei der ganzen Sache war, schließlich kannte ich die beiden ja kaum.

Noch während ich darüber nachdachte, wie schnell man sich verirrte und auch die anderen verlor, und was ich machen musste, wenn sie mich in eine Falle lockten und ich nicht mehr wegkam von hier, tauchte plötzlich ein See vor uns auf. Er war nicht gerade groß, war wohl eher ein Weiher. Dunkel. Verlassen sah alles aus. Morsche Äste ragten aus dem stehenden Wasser. Nichts regte sich, alles schien irgendwie tot, ganz anders als an unserem See in Schweden, über den wir oft mit dem Boot gerudert waren. Einmal hatten wir sogar einen Hecht rausgeholt, der über einen Meter groß gewesen war. Bis zuletzt hatte er um sich geschlagen. Paul und ich hatten unsere ganze Kraft dafür gebraucht, um ihn zu bändigen und ihm den entscheidenden Schlag zu verpassen.

Jetzt blickte Jack sich zu mir um und sagte: »Mit Seen kennst du dich doch aus, hast du gesagt?« Irgendwas an diesem Ton war nicht okay.

Und so nickte ich zögernd, zuckte die Achseln, sagte nichts weiter dazu.

Jack legte sich flach auf den Bauch und kroch durchs dichte Gestrüpp. »Anders geht es nicht«, keuchte er und diesmal widersprach Tony ihm nicht, sondern kroch hinterher.

»Komm!«, sagte sie und meinte damit wohl mich.

Das dicht bewachsene Ufer hatten wir bald erreicht. Und ja, mit Seen kannte ich mich gut aus, obwohl es hier anders war. Ein bisschen unheimlich. Und ehrlich gesagt bereute ich schon fast, dass ich überhaupt mit ihnen gekommen war, denn zum bloßen Vergnügen waren wir ja wohl nicht hier, das wurde mir langsam klar.

Wir hockten erst mal nur da, warfen kleine Steine ins Wasser, das beinahe schwarz vom Morast war.

 

»In deinen Seen in Schweden bist du bestimmt auch geschwommen?«, fragte Tony und tat, als sei das die normalste Frage der Welt, während sie ihre Sandalen auszog.

»Was denkst du?« Kratzig war meine Stimme auf einmal, denn ich ahnte schon, was auf mich zukam.

»Dann ist der Weiher für dich ja wohl kein Problem.« Jack ließ einen großen Stein ins Wasser plumpsen.

»Aber nur mit den Füßen rein ist nicht erlaubt«, stellte Tony klar, die jetzt selbst auch schon drin stand und aufstöhnte, weil das Wasser anscheinend kalt war. Sie spritzte uns nass.

Ich rührte mich nicht. Auch nicht, als Jack mich ansah und fragte: »Schaffst du es bis zur anderen Seite und wieder zurück?« Die Frage war keine Frage. Sie verlangten, dass ich es tat. Glaubten vielleicht, ich traute mich nicht.

»Pfff«, machte ich und blickte über das Wasser. Das bisschen Schwimmen machte mir keine Angst. Schon weil ich mich jetzt auch ärgerte, dass Tony sich zu Jack runterbeugte und ihm etwas zuflüsterte.

»Kriege ich schon hin«, sagte ich daher schnell, streifte meine Sandalen ab, dachte besser nicht weiter darüber nach, wie schlammig das Wasser hier war, wollte es hinter mich bringen, schließlich war ich schon in viel größeren Seen geschwommen, auch wenn der Weiher alles andere als einladend aussah.

Dass Tony mich jetzt auch noch in Unterhose sah, gefiel mir überhaupt nicht. Immerhin war sie ein Mädchen und ich ein Junge und Jack stand dabei. Also beeilte ich mich und watete rein. Stand bis zu den Knien im Wasser, als ich Jack hinter mir sagen hörte: »Ach übrigens …«

Ich horchte auf.

»Manche hier in der Gegend behaupten, dass der Geist der verschwundenen Frau im See haust.« Er lachte, als glaube er selbst nicht daran, machte eine Pause und fuhr dann fort: »Eines Tages ist sie in den Wald gegangen und kam nicht mehr zurück. Und hier …«, er stockte, »… sind seitdem eben komische Sachen passiert …«

Ich stand einen Moment wie erstarrt. Wäre am liebsten gleich wieder aus dem Wasser raus und ans Ufer geklettert. Und hätte ja auch gern gewusst, von was für merkwürdigen Sachen Jack überhaupt sprach. Aber damit hätte ich mich endgültig lächerlich gemacht. Und außerdem war es ja Quatsch und an Geister in Seen und dunklen Weihern glaubte ich nicht.

»Ja, ja«, sagte ich und war schon mal froh darüber, wie lässig es klang. Was Tony jetzt für ein Gesicht machte, hätte ich gern gewusst, aber ich sah nicht noch mal zu ihr hin. Watete weiter ins Wasser rein, fühlte, wie die Haut sich unter der Kälte zusammenzog, holte Luft. Dann tauchte ich ab.

Alles war schlammig und dunkel, ich fühlte Schlingpflanzen um mich, Holz, das vom Wasser aufgeweicht war.

Ich schwamm. Sah den Himmel, der wieder über mir war. Hörte Wasser aufspritzen, als noch jemand sprang.

Als ich wieder unter Wasser war, hörte ich jemanden rufen, Tony vielleicht? Alles war anders hier, dumpf, ich war allein. Und plötzlich war da die Angst, dass an der Sache mit der verschwundenen Frau vielleicht doch etwas war.

Ich schwamm weiter, schneller als sonst, wenn ich manchmal sogar wie ein Fisch getaucht und unter Wasser geblieben war. Das Ufer war jetzt ein ganzes Stück von mir entfernt und das auf der anderen Seite noch viel zu weit weg. Ich fühlte einen Ast, Wurzeln, den Grund unter mir fühlte ich nicht, dabei war das Wasser vielleicht gar nicht so tief, aber doch tief genug, dass man sich, wenn man nicht aufpasste, in den Pflanzen verfing und …

Plötzlich fasste etwas nach meinem Fuß, zog daran, ließ nicht wieder los!


Ich tauchte ab, trat um mich, kam aber nicht wieder hoch. Jemand zog, hielt mich unter Wasser. Ich bekam keine Luft! Sah nichts mehr, kam gegen die Kraft nicht an, ich schluckte Wasser, schlug um mich.

Und dann plötzlich war alles leicht. Ich tauchte auf, hustete und schwamm ans rettende Ufer zurück. Aber wo waren Tony und Jack?

Nur unsere Sachen lagen noch da.

Ich zog mich raus, während meine Augen die Wasseroberfläche absuchten. Aufsteigende Blasen konnte ich sehen. Dann ihre Köpfe. Erst Tonys, dann Jacks. Mitten im See tauchten sie wieder auf.

Jack schlug mit den Armen, prustete und rief jetzt etwas. Sie kamen angeschwommen, krochen ebenfalls wieder an Land. Kämpften sich durch das Gebüsch bis zu mir. Und Jack rief: »Da war was im Wasser! Hast du auch was gemerkt?«

Ich saß immer noch zitternd da, dabei war die Luft gar nicht kalt.

Tony schnaufte, schüttelte ihre nassen Haare, sodass die Tropfen in alle Richtungen flogen. Auch ich bekam etwas ab.

Sie sah mich nicht an. »Mann!«, sagte sie nur und ihre Schulter berührte Jacks. Wieder konnte ich sehen, wie sie ihm einen hastigen Blick zuwarf, wenn mich nicht alles täuschte, grinste sie jetzt sogar, obwohl sie gleich wieder ernst war und auch noch aufstöhnte. »Ich dachte, ich komm da gar nicht mehr raus. Da hat etwas an mir gezogen.« Sie holte tief Luft, ein bisschen zu tief. »Ich hatte echt Angst.«

Ich sagte nichts. War nur wütend und ehrlich gesagt auch enttäuscht. Ich suchte meine Sachen zusammen und zog mich wieder an. »Seid ihr immer so gemein?«, hörte ich mich.

Jack und Tony sahen mich an. »Hä?« Sie taten, als hätten sie nicht die leiseste Ahnung, wovon ich sprach. »Wie kommst du denn darauf?«

»Wie wohl?« Ich hätte heulen können, aber den Gefallen tat ich ihnen nicht. Schnürte hastig meine Sandalen zu, mein T-Shirt und die Hose hatte ich schon wieder an, obwohl die Unterhose noch nass war, aber es war mir egal. »Dann noch viel Spaß!«, sagte ich und kroch auch schon zurück durch das dichte Gestrüpp, richtete mich bald wieder auf und lief los. Hörte, während ich vor mich hin schimpfte, noch ihre Stimmen, die leiser wurden, auch wenn es mir einmal vorkam, als schreie jemand und lache dann wieder laut.

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