Wehre dich deiner Haut

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Wehre dich deiner Haut
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Sigrid Uhlig

WEHRE DICH
DEINER HAUT

KURZGESCHICHTEN

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2018

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2018) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Rotwein

Kein Aprilscherz

Netzanbieter

Verflixte Technik

Der Ärger geht weiter

Gut und schlecht nah beieinander

Abzocker

Nachahmer

So ein Käse

Schwarze Pfanne

Sonntagsruh

Schon wieder Werbung

Ein Präzedenzfall

Umgezogen

Schuld sind immer die Anderen

Das richtige Handwerkszeug

Probleme, Probleme

Sollen es Andere machen

Raffiniert

Schon wieder gewonnen

Wundersame Weihnacht

Die Alten

Ausgetrickst

Missverständnisse

Sprachlos

Aufgezwungener Service

Pflege

Mehr Rente

Meisterwerkstätten

Technische Fortschritte

Singles

Umweltschutz

Der Umkehreffekt

Immer etwas Neues

Erna, die Alkoholikerin

Arzt und Apothekenbereitschaft

Zelte für Flüchtlinge

Reingefallen

Abhängig

Höflichkeit ist eine Zier

In der Straßenbahn

Shows

Wahlen

Reif für eine Insel

Skandal

Abendspaziergang

Auszeichnungen

Zecken im Pelz

Geier

Anmaßungen

Einmal Paradies und zurück

VORWORT

Eine Familie, nennen wir sie Lehmann, lebte während der Teilung Deutschlands immer auf dem Gebiet der DDR. Nach der Wiedervereinigung mussten sich die Bürger neu orientieren. Viele Lebensumstände kannten sie nur aus Lehrbüchern und den meist verhassten Unterrichtsfächern Marxismus/Leninismus, Politische Ökonomie und Gesellschaftswissenschaften.

Nachdem die Euphorie abgeklungen war, stellten viele fest, dass die Gesellschaftsordnungen richtig beschrieben und interpretiert worden waren.

Die Kinder der Familie Lehmann zogen der Arbeit hinterher. Herr Lehmann starb, bevor er sein Rentnerdasein genießen konnte.

Erna Lehmann blieb allein zurück. Die Seniorin bemühte sich mit den täglichen, teils unbekannten Situationen klarzukommen.

ROTWEIN

Das Telefon klingelte. Erna nahm den Hörer ab. Eine angenehme Frauenstimme fragte: „Sind Sie Frau Lehmann, Erna Lehmann?“

„Ja.“

Mein Name ist Schumann vom Weingut Exzellenter Geschmack. Sie haben beim Preisausschreiben gewonnen. Unsere Vertreter sind in ihrer Nähe und möchten ihnen einen Präsentkorb überreichen mit allerlei Kostproben, extra für unsere Weinsorten entwickelt, gesalzene Nüsse, Kartoffelchips, verschiedene Käsehäppchen …“

Es folgten weitere Aufzählungen. Erna hatte Mühe, der Rednerin zu folgen und kam selbst gar nicht zu Wort. Schließlich wurde sie gefragt, was sie lieber trinken würde, Rot- oder Weißwein?

„Rotwein“, antwortete Erna, von dem Redeschwall immer noch ganz benommen. „Aber ich habe an keinem Preisausschreiben teilgenommen!“

„Es ist schon etwa ein Jahr her“, antwortete die angenehme Stimme. Wir haben eine Umfrage gestartet und der Computer hat per Zufall die Gewinner ermittelt. Darf unser Vertreter, Herr Klein, sie am ersten April um 15.00 Uhr besuchen?“

Erna warf einen Blick auf ihren Terminkalender. Nein, an diesem Tag geht es erst ab 18.00 Uhr.“

„Kein Problem“, meinte Frau Schumann, „18.00 Uhr, sie werden begeistert sein.“ Damit war das Gespräch beendet.

Erst jetzt kam Erna zum Nachdenken. Eigentlich blockte sie telefonische Gespräche sofort ab. Woher kannte diese Frau ihre Telefonnummer? Sie stand nicht im Telefonbuch. Zweifel machten sich breit. War es richtig, einen fremden Mann in ihre Wohnung zu lassen? Man las so oft in der Tageszeitung von Betrügereien. Sie rief eine Bekannte an und bat darum, sie möge bei dem Treffen dabei sein.

Am ersten April hatte Erna einen anstrengenden Tag hinter sich. Kurz nach 16.00 Uhr war sie nach Hause gekommen. Gerade hatte sie den Mantel ausgezogen, als es an ihrer Wohnungstür läutete. Sie öffnete. Ein Mann, etwas kleiner als sie selbst, aber von kräftiger Statur, bepackt wie ein Lastesel, begrüßte sie schmierig, freundlich. „Ich komme vom Weingut Exzellenter Geschmack.“ Und während er noch redete, schob er sie sanft zur Seite, ging durch den Flur ins Wohnzimmer, geradeso als würde er sich auskennen, lud alles auf dem Sofa ab und stand im nächsten Augenblick vor der Hausbar. Er wollte diese bereits öffnen, als Erna völlig überrumpelt fragte: „Was machen sie denn da?“

„Aber gnädige Frau, wir waren doch verabredet. Wie ich sehe, haben sie nichts vorbereitet. Holen sie eine weiße Tischdecke aus dem Schrank und ich suche mir aus ihrem Bestand die passenden Weingläser aus.“

Was zu viel war, war zu viel. Erna wurde laut: „Wagen sie nicht, auch nur eine meiner Schranktüren zu öffnen.“

„Gnädige Frau, sie haben doch der Weinverkostung zugestimmt.“

„Ja, aber nicht jetzt, sondern um 18.00 Uhr. Ihre Frau Schumann sagte, dass sie alles mitbringen würden. Und nun gehen sie, bitte!“

„Dann muss ich ihnen die entstandenen Kosten in Rechnung setzen.“

 

Erna rang nach Luft. „Das ist ja wohl der Gipfel der Unverschämtheit. Seit wann bezahlt man für Gewinne? Nehmen sie ihre sieben Sachen und verschwinden sie, sonst schreie ich ganz laut um Hilfe und rufe die Polizei.“ Sie griff nach dem Telefon.

Noch schneller als Herr Klein in der Wohnung drin war, war er wieder draußen. Die Tür ließ er auf. Wütend knallte Erna sie zu. Dann schüttelte sie über sich selbst den Kopf und sagte: „Entschuldige bitte, du kannst nichts dafür. Warum war ich so blöd und habe geöffnet? In Zukunft muss ich eben durch den Spion sehen, wer vor der Wohnungstür steht. Möchte nur wissen, wer solche Leute immer ins Haus lässt?“

Einige Jahre waren vergangen. Von einer Bekannten erhielt ich einen Anruf. Empört teilte sie mir mit: „Stell dir mal vor, eben hat mich doch jemand von einem Weingut angerufen. Die haben sich ganz genau so benommen, wie du es beschrieben hast.“

KEIN APRILSCHERZ

Herr Klein war fort. „Jetzt ein verspätetes Nachmittagskäffchen“, dachte Erna. Doch bevor sie diesen genießen konnte, läutete es erneut an der Wohnungstür. „Doch nicht etwa wieder dieser Klein?“, dachte sie und sah sich um, ob er etwas vergessen haben könnte. Er hatte alles mitgenommen.

Sie schaute durch den Spion. Ein seltsamer Typ von Mann stand vor der Tür, elegant gekleidet im schwarzen Anzug, aber unrasiert. „Sie wünschen?“

„Machen sie bitte auf, junge Frau, ich möchte mich mit ihnen unterhalten. Für sie habe ich einen Katalog mitgebracht. Haben sie schon mal was von der Firma „Ever clean“ gehört? Machen sie doch bitte auf! So kann ich ihnen doch unsere Angebote nicht zeigen. Wir bieten die qualitativ besten und preisgünstigsten Teppiche und Auslegwaren und dazu Staubsauger, mit denen sie mühelos jeden Fussel und jedes Tierhaar beseitigen können.“

„Danke, ich brauche nichts“, sagte Erna.

„Sie haben sich noch gar nicht vom Wert unserer Waren überzeugt.“

Erna reagierte nicht. Sie wollte nur noch gemütlich im Sessel sitzen, Kaffee trinken und ein paar Minuten die Stille genießen.

Der Mann klopfte noch einige Male. Als er merkte, dass es zwecklos war, stieg er laut schimpfend in die nächsten Etagen hinauf und beschwerte sich bei jedem, der ihm die Tür öffnete, über Ernas ungebührliches Benehmen. Darüber wurden einige Mieter sehr ungehalten. Frau Lehmann wäre eine sehr liebe alte Dame. Er solle keine Lügen verbreiten und knallten ihm die Tür vor seiner Nase zu. Noch lauter schimpfend und Flüche ausstoßend verließ er das Haus.

Welch eine himmlische Ruhe! Zu früh gefreut, Erna.

Das Telefon klingelte. „Guten Tag, Frau Lehmann, ich bin Friederike Wohlfeil und arbeite am Institut „Volkswissen“. Ihre Stadtverwaltung hat uns beauftragt eine Befragung durchzuführen.“

„Tut mir leid“, unterbrach sie Erna, „telefonisch gebe ich generell keine Auskünfte, schicken sie mir bitte die Unterlagen zu.“

„Es gibt keine Unterlagen“, belehrte sie Frau Wohlfeil, „es handelt sich um eine mündliche Befragung. Ihre Antworten werden gleich in den Computer eingegeben und später von der Stadtverwaltung ausgewertet. Lassen sie es uns doch bitte versuchen.“

Die Sache begann ganz harmlos. Name, Anschrift, Geburtsdatum und die Größe der Wohnung wurden verglichen. Als jedoch die Frage kam, wie viele Personen im Haushalt leben, durchzuckte sie ein Gedanke. Wenn es doch keine Befragung der Stadtverwaltung war? Warum sollte sie sagen, dass sie allein in der Wohnung lebte? So antwortete sie: „Drei Personen.“

„Wie hoch ist das gesamte Einkommen?“

„Ich glaube nicht, dass unsere finanziellen Verhältnisse die Stadtverwaltung interessiert“, meinte Erna.

Frau Wohlfeil wurde patzig: „Frau Lehmann, mit dieser Befragung muss ich meinen Lebensunterhalt verdienen.“

„Wenn sie überall so unhöflich sind, verdienen sie gar nichts“, konterte Erna und legte auf.

Was für ein verrückter Tag, leider kein Aprilscherz.

NETZANBIETER

Obwohl Erna schon einige Jahre Rentnerin war, hatte sie die Exaktheit, die ihrem Charakter eigen war, beibehalten. Nun musste sie zu einer Operation ins Krankenhaus. Um den gewünschten Erfolg zu erzielen, war sie danach viele Wochen so gut wie bewegungsunfähig. Ihre Kinder wohnten einige hundert Kilometer weiter. Daher war von ihnen höchstens mal ein Wochenendbesuch zu erwarten. Dass sie noch öfter E-Mails schreiben oder telefonieren würden als sonst, war selbstverständlich. So organisierte Erna bei Verwandten, Freunden und Bekannten ihr Leben nach dem Krankenhausaufenthalt. Tiefkühlfächer und der Kühlschrank waren voll. Dosen mit fertigen Suppen und Gemüse warteten auf den Verzehr. Erna wollte fremde Hilfe nur in Anspruch nehmen, ließe es sich nicht vermeiden.

Sie legte ein Blatt Papier bereit, auf dem sie alles aufschrieb, was sie erledigen wollte. Systematisch wurden die Punkte abgearbeitet.

Erna glaubte, an alles, was vorausschaubar war, gedacht zu haben, nur an eines nicht; nämlich, dass man als moderner Mensch beim heutige Stand der Technik zwei Telefone braucht. Sie war immer Kundin beim Anbieter IMMER GUT VERBUNDEN. Doch dann wurde er ihr zu teuer und sie wechselte zu PREISWERT GLÜCKLICH. Nach Anfangsschwierigkeiten klappte es. Seit etlichen Tagen war sie wieder zu Hause, als eine Freundin ganz aufgeregt auf ihrem Handy anrief: „Was ist los, brauchst du Hilfe?“

Erna verstand die Frage nicht. Schließlich erfuhr sie, dass sie auf ihrer Festnetznummer nicht erreichbar wäre. Nun staunte Erna. Seit Jahren hatte sie diese Nummer. Probleme gab es nie. Außerdem hatte sie vor ein paar Minuten gerade noch damit telefoniert. Sie wusste noch nicht, dass es mit diesem Telefon und der Nummer ihr letztes Gespräch gewesen sein sollte.

„Mach dir keine Sorgen“, tröstete sie die Freundin, „ich kümmere mich darum. In der Zwischenzeit kannst du mich auf dem Handy anrufen, da gibt es ebenfalls eine Festnetznummer.“

Erna suchte die Nummer des Kundenservices von PREISWERT GLÜCKLICH. Aus dem Festnetz sollte die Minute vierundzwanzig Cent kosten.

„Bezahlen für eine Störungsmeldung? Erna, was hast du da wieder angestellt?“, fragte sie sich selbst. Sie griff zum Telefon und wählte die Nummer. Aber es gab weder ein Frei- noch ein Besetztzeichen und auch keine Verbindung. Leicht verärgert starrte sie das längliche Kästchen in ihrer Hand an. „Wohl altersschwach“, murmelte sie. „Es geht doch nichts über eine E-Mail“, schaltete den Computer ein und wollte die Verbindung zum Internet herstellen. Der Bildschirm zeigte an: „Kein Internet, keine Telefonie, überprüfen sie ihre Anschlüsse.“

Erna wusste, dass bei ihr alles in Ordnung war. Man konnte nichts falsch machen, weil sonst die Stecker nicht passten und bestimmte Lampen auf der DSL-Box nicht leuchten würden. Jetzt blieb ihr nichts anderes übrig, als die Störung über ihr Handy zu melden. Kaum hatte sie die Vorwahl gewählt, erklärte ihr ein Ansagetext, dass die Minute 89 Cent kostet.

„Möchten sie trotzdem verbunden werden, dann drücken sie die Eins. Möchten sie das Gespräch beenden, drücken sie die Zwei.“ Obwohl Erna erst mal schluckte, wollte sie verbunden werden.

Es folgte eine weitere Computeransage: „Möchten sie Hinweise zu unseren Produkten, können sie sich selbst informieren über www…, haben sie Fragen zu ihrem Vertrag, möchten sie eine Störung melden oder gibt es Beanstandungen zu ihrer Rechnung, dann sagen sie bitte Produkte, Vertrag, Störung oder Rechnung.“

„Störung“, sagte Erna.

„Störung, ist das richtig? Sagen sie ja oder nein.“

„Ja.“

„Damit ich sie mit dem richtigen Mitarbeiter verbinden kann, sagen sie bitte ihre Telefonnummer an. Sie können sie auch mit der Tastatur eintippen.“

Erna sagte klar und deutlich ihre Telefonnummer: „0340 212223.“ Danach entstand eine Pause, die ihr ewig erschien. Dann fragte die freundliche, immer gleichbleibende Computerstimme: „Ihre Nummer ist 0349 212229. Sagen sie ja oder nein.“

„Nein.“

„Bitte wiederholen sie ihre Nummer.“

Diesmal sprach Erna noch langsamer.

„Ihre Nummer ist 0304 232129. Sagen sie ja oder nein.“

Innerlich kochte Erna. Trotzdem sagte sie ganz beherrscht: „Nein.“

„Tippen sie bitte ihre Nummer mit der Tastatur ein.“

Erna tippte: 0340212223.

„Ihre Nummer ist 0030 423129. Sagen sie ja oder nein.“

„Nein.“

„Dann ist das Gespräch damit beendet.“

Dagegen konnte sich Erna nicht wehren. Die Verbindung war unterbrochen. Sie registrierte die Anzeige auf dem Display. Dreizehn Minuten hatte der Unfug gedauert, dreizehn Minuten mal neunundachtzig Cent.

Aber das Telefon musste doch in Ordnung kommen. Nur wenige kannten ihre Handynummer und die andere Festnetznummer außer der Freundin niemand. Sollte sie es gleich noch einmal probieren oder warten? Sie entschied sich für das Letztere, denn sie wollte zuerst ihr aufgewühltes Gemüt beruhigen.

Beim nächsten Versuch hatte sie mehr Glück. Es begann wie bereits beschrieben. Ihre Nummer wurde nach der ersten Durchsage gleich erkannt und die Verbindung mit einem Mitarbeiter klappte. Er versprach ihr, die Störungsstelle zu informieren. Da sie trotzdem keine Internet- und Telefonleitung bekam, rief sie jeden zweiten Tag bei PREISWERT GLÜCKLICH an und jedes Mal wurde durch die Computeransage ihre Geduld auf eine harte Probe gestellt. Die Damen und Herren am anderen Ende der Leitung waren sehr freundlich und höflich und versprachen immer schnelle Hilfe, die nach drei Wochen in Form eines Mitarbeiters von IMMER GUT VERBUNDEN erschien und feststellte, dass die Leitungen und alle Anschlüsse in Ordnung waren.

Telefon und Internet schwiegen weiter.

PREISWERT GLÜCKLICH schaffte es nicht, den Fehler zu finden. Was sollte, was konnte Erna tun? Ihr wurde klar, dass IMMER GUT VERBUNDEN das Monopol für die Leitungen besaß. Diese Firma konnte alle anderen Netzanbieter erbarmungslos verhungern lassen, von wegen mehr Wettbewerb durch mehr Anbieter!

Erna widerstrebte es, aber sie kündigte bei PREISWERT GLÜCKLICH und stellte einen Antrag bei IMMER GUT VERBUNDEN. Sie hatte sich nie etwas zu Schulden kommen lassen und immer pünktlich ihre Rechnungen bezahlt. So könnte in wenigen Tagen die Zeit des kommunikativen Schweigens vorbei sein.

Denkste Erna!

Anscheinend hatte sich IMMER GUT VERBUNDEN vorgenommen, ihr einen Denkzettel zu verpassen, um bei ihr ein für alle Mal weitere Wechselabsichten im Keime zu ersticken.

Wochen vergingen.

Sie mahnte öfter beim Kundendienst die Erledigung ihres Auftrages an und wies auf ihren Gesundheitszustand hin. Mit der Gelassenheit eines Schafes, das zur Schlachtbank geführt wird, ließ sie die Computeransagen über sich ergehen. Irgendwann hatte sie das Warten satt und sie schrieb den Vorstand des Unternehmens an. Dieser faselte in seiner Antwort etwas von zufriedenen Kunden und sie möchte sich noch ein wenig gedulden. Die Fachleute wären bereits informiert.

Wie lange dauerte ein wenig?

Während der ganzen Zeit des Mahnens und den Kampf gegen sich selbst, bei solcher Misere nicht aus der eigenen Haut zu fahren, setzte sich ein Gedanke in ihrem Kopf fest. Auf ihrem Handy gab es eine Festnetznummer. War es möglich, ohne Leitung ins Internet zu kommen? Dann sollte ihretwegen IMMER GUT VERBUNDEN darauf sitzen bleiben und verschmoren. Nie wieder brauchte sie sich schikanieren zu lassen und andere Netzanbieter auch nicht.

Aber wen konnte sie fragen? Würde sie sich dabei nicht ganz erbärmlich blamieren? Der Gedanke bohrte und bohrte und die Frage verlangte nach einer Antwort. Ihren ganzen Mut zusammennehmend rief sie den Netzanbieter ihres Handys an.

Fünf Tage später öffnete sich ihre übervolle Mailbox. Ganz allein hatte sie die Installation geschafft. Erna freute sich darüber sehr und war auch ein wenig stolz auf sich selbst.

VERFLIXTE TECHNIK

Ernas Glücksgefühl, wieder mit der Außenwelt verbunden zu sein, sollte nicht lange anhalten. Urplötzlich schwieg das Handy. „Verflixte Technik“, schimpfte sie. „Was ist denn nun schon wieder los?“

Sie saß gemütlich im Sessel. Hier war es schon öfter passiert, dass sie kein Netz bekam, also erhob sie sich, humpelte auf Krücken durch alle Räume zu den Fenstern und betrachtete die Anzeige auf dem Display. Nichts, kein Netz. „Wahrscheinlich überlastet“, dachte sie und verschob ihre Telefonate auf später.

 

Als sie nach Stunden immer noch kein Netz hatte, kam ihr die Sache nicht geheuer vor. Sie schaltete den Fernseher ein. Er funktionierte. Nicht einer der vielen Sender war gestört. Außerdem hörte sie, wie bei der Familie, die über ihr wohnte, das Telefon klingelte und gesprochen wurde.

Durch ihre Krankheit war sie immer noch nicht in der Lage, die Wohnung zu verlassen. Eine jüngere Frau, die genauso lange in dem Mietshaus wohnte wie Erna, hatte ihr schon die eine oder andere Gefälligkeit erwiesen. Sie kannten die gegenseitigen Gepflogenheiten. Als sie an der Wohnungstür vorbei ging, sprach Erna sie an. Wie es im Leben so ist, ein Unglück kommt selten allein. Die Frau war lange arbeitslos. Ausgerechnet jetzt hatte sie vom Job-Center eine Maßnahme mit Praktikum erhalten. Da auch hier die Bürokratie nicht klappte, hatte sie viele zusätzliche Wege. Deshalb konnte sie sich nicht auch noch um Ernas Belange kümmern. Nun schwieg das Handy schon den vierten Tag. Das Wochenende stand vor der Tür. Der Kühlschrank war leer, das Brot alle, so wie auch die Medikamente und Spritzen. Es war zum Verzweifeln.

In ihrem ganzen Leben war sich Erna noch nie so allein und hilflos vorgekommen. Was sollte, was konnte sie tun? Mit dem Besenstiel gegen die Decke klopfen? Sie hätte weinen, schreien, toben mögen. Doch in solchen oder ähnlichen Situationen kam kein einziger Laut über ihre Lippen.

Ihr war bekannt, dass die Notfallnummer, die 110 immer funktionierte. Konnte man ihre Lage als Notfall betrachten? Durfte sie dort anrufen und um Hilfe bitten, obwohl sie sich in keiner lebensgefährlichen Situation befand? Sie würde es nie erfahren, wenn sie es nicht ausprobierte. Beherzt griff sie zum Handy, wählte die 110 und schilderte ihre Situation, nachdem sich eine sonore Männerstimme gemeldet hatte.

„Wir kümmern uns darum“, war die knappe, aber nicht unfreundliche Antwort.

Einige Zeit war vergangen, als es an ihrer Wohnungstür läutete. Sie sah durch den Spion. Zwei Polizisten. Erna öffnete und wollte wissen, ob sie etwas verbrochen hätte. „Sie nicht, aber ihr Handy“, meinte der Korpulentere von beiden. Das schweigsame Teil nebst Vertrag wurde konfisziert. Zurück kamen die Polizisten in Damenbegleitung, einer jungen Mitarbeiterin des Handy-Shops. Als Stammkundin kannte Erna sie schon lange und ließ sich gern von ihr bedienen, denn trotz ihrer Jugend erklärte sie der älteren Generation die Kommunikationstechnik verständlich.

„Die Simkarte ist defekt“, sagte sie. „Der Netzanbieter tauscht sie kostenlos um. Es könnten aber einige Tage vergehen, da das Wochenende vor uns liegt.“ Zur Überbrückung gab es sofort ein Ersatzhandy.

Voll des Lobes über die schnelle und unkomplizierte Lösung, und weil die Medien dem Ruf der Polizei erheblich geschadet hatten, schrieb Erna einen Dankesbrief an die Leserbriefredaktion der Tageszeitung. Diese hielt es aber nicht für nötig, ihn zu veröffentlichen. „Warum haben die Polizei und die Rentner keine Lobby?“, fragte sie sich.

Am nächsten Tag, einem Sonnabend, sollte Erna eine angenehme Überraschung erleben. In der Post war ein Brief vom Netzanbieter mit der neuen Simkarte, die noch am gleichen Tag aktiviert wurde.

Es gibt sie eben doch noch, die Anbieter, Geschäfte und Institutionen, bei denen der Kunde König ist.