Land der Gefühle

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Land der Gefühle
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Sigrid Uhlig

Mit dem Schreiben von Gedichten begann sie in der achten Klasse. Berufsausbildung, Studium und die Familie waren wichtiger als Hobbys. 1982 zogen sie von Mecklenburg/Vorpommern nach Dessau.

Seit 1984 gehört sie dem Zirkel „Schreibende Arbeiter“ der ehemaligen Maschinenfabrik und Eisengießerei unter der Leitung der Dessauer Autorin Ursula Hörig an. Dieser Zirkel arbeitet noch immer.

Bisherige Veröffentlichungen:

Anthologien und regionale Presse,

„Teneriffa-Märchen“ im Projekte-Verlag,

„Wehre dich deiner Haut“ im Engelsdorfer Verlag.

Sigrid Uhlig

LAND DER GEFÜHLE

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2019

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Mein Dank gilt dem Meeresmuseum Stralsund und der Francisceumsbibliothek in Zerbst, Bilder dieser Einrichtungen veröffentlichen zu dürfen.

Zweite überarbeitete Auflage

Copyright (2019) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

INHALT

Cover

Über die Autorin

Titel

Impressum

Das Bummlich-Fummlich-Land

Der Großvater

Vom wütenden Neptun

Aufruhr in Neptuns Reich

Neptuns Wüstenabenteuer

Neptuns Glück

Der schlaue Fischer von Carolinensiel

Prinzesschens Gefangenschaft

Im Roboterland

Zu Hause

Land der Gefühle

Das Gefräßige Meer

Der Eisige Bach

Diebesland

Der Diamantenbaum

Frau Angst

Der Süße See

Kreis der Tödlichen Liebe

Das Wissen

Das Hungerschloss

Im Närrischen Meer

Die Heulenburg

Im Unbekannten Land der Frommen

DAS BUMMLICH-FUMMLICH-LAND

Es war einmal, so fangen Märchen an. Aber ich will keine Märchen erzählen, sondern die Abenteuer eines Jungen. Er hat sie wirklich und wahrhaftig erlebt.

Es war einmal ein kleiner Junge mit Namen Peter. Er war sieben Jahre alt. In einigen Wochen sollte er zur Schule gehen. Die Kinder nannten ihn nur Bummelpeter oder: „Seht mal! Da kommt der Bummlich-Fummlich.“

Warum ärgerten sie ihn?

Peter war an technischen Dingen sehr interessiert. Damit er aber nicht mit Geräten spielte, die für Kinder ungeeignet sind, schenkten ihm die Eltern Baukastensysteme. Peter wurde nicht müde, die kniffligsten Vorlagen nachzubauen. Oft erfand er fantasievolle Gebäude und Fahrzeuge, die es in Wirklichkeit gar nicht gibt. Im Kindergarten war er der beste Bastler. Aber bei allem, was er tat, ob beim An- oder Ausziehen, Essen, Spazierengehen oder Spielen, Peter war immer der Letzte. Nie wurde er rechtzeitig fertig.

Kinder, könnt Ihr Euch das Durcheinander auf der Welt vorstellen, wenn sich niemand mehr nach der Uhrzeit richtet? Damit das nicht passiert, halfen ihm Vati, Mutti, die fünf Jahre ältere Schwester Marion, die Kinder im Kindergarten und Frau Lustig, die Erzieherin. Peters Vati war Offizier bei der Bundeswehr. Er mochte gar nicht daran denken, was passieren würde, wenn die Soldaten so langsam wären wie sein Sohn.

An einem Regentag hatte Frau Lustig den Kindern die Geschichte vom Schlaraffenland erzählt. Doreen sagte anschließend: „Schade, dass es kein Bummlich-Fummlich-Land gibt. Dann würden wir Peter dort hinschicken.“

Alle Kinder lachten, nur Peter nicht. Traurig verzog er sich in die hinterste Ecke des Zimmers. Er wusste, dass Fummlich eigentlich ein Lob war. Die Kinder bestaunten immer seine Bastelarbeiten. Aber Bummlich?

Er wollte doch gar kein Bummlich sein! Schon oft hatte er sich vorgenommen, schneller zu werden. Doch je mehr er sich anstrengte, umso länger dauerte alles.

Inzwischen hatte sich das immer fröhliche Gesicht von Frau Lustig zu einer drohenden Gewitterwolke verändert. Doreen senkte den Kopf. Sie schämte sich. Eigentlich mochte sie Peter. Aber wenn man ständig auf ihn warten oder ihm helfen musste, da durfte man doch mal die Geduld verlieren. Sie schritt auf Peter zu und reichte ihm die Hand. „Entschuldige bitte.“

Gemeinsam gingen sie zu den anderen Kindern.

Vati war mit seinen Soldaten im Sommer-, Marion im Ferienlager. Muttis Freundin war zu Besuch. Lange hatten sie sich nicht gesehen. Da gab es viel zu erzählen. Sie tranken Wein und waren in ausgelassener Stimmung. Als die Freundin ging, war Mitternacht lange vorbei. Am Morgen wurde das Kind etwas unsanft wachgerüttelt. „Peter, schnell, beeile dich, wir haben die Zeit verschlafen.“

Aber es war wie immer. Alles dauerte noch viel länger als sonst. Während Mutti Peter beim Anziehen half, erklärte sie ihm, dass er allein in den Kindergarten gehen müsse. Er dürfe aber nicht bummeln. Der Junge versprach es. Tapfer ging er durch die Ladenstraße, ohne einen Blick auf die Schaufenster zu werfen. Sein Weg führte ihn an einer Wiese vorbei. Vor ihm kroch eine Raupe im braunen Samtkleid.

„Was tust du denn hier?“, fragte Peter. „Du wirst totgetreten!“ Die kleine Raupe verstand seine Sorgen nicht Sie wollte nicht auf die Hand kriechen. Er sah sich um, fand ein Stück Papier, schob sie vorsichtig drauf und trug sie ins Gras.

„Du musst besser auf dich aufpassen“, belehrte er das Tierchen. In diesem Moment flatterte vor seiner Nase ein wunderschöner bunter Schmetterling. Peter wollte ihn fangen und jagte ihm nach. Aber der Schmetterling entschwand über eine Hecke. Peter zwängte sich durch. Nanu! Da war ja sein Kindergarten. Er betrat das Gebäude. Hier war es sehr ruhig, nirgendwo ein Kind.

„Ich bin eben doch ein Bummlich“, stellte er mutlos fest. „Mittags sind sie wieder da, ich werde warten.“ Dabei sah er sich um und entdeckte noch eine Tür. Um seine Neugierde zu befriedigen, ging er hin und öffnete sie. Erschrocken stellte er fest, dass er sich verlaufen hatte. Vor ihm lag ein See. Dazu gehörte eine große Liegewiese mit einem Spielplatz. Erwachsene gab es nicht, nur Kinder.


Wie sieht die Raupe aus, die du gesehen hast?

Peter musste laut lachen. Die Bewegungen der Kinder sahen gar putzig aus. Jetzt fiel es ihm wieder ein. Im Fernsehen hatte er es gesehen. Man konnte die Leute ganz schnell oder auch langsam laufen lassen. Wie hieß das Langsame doch gleich?

Zeit …? – Ach ja, Zeitlupentempo. Ja, so bewegten sich die Kinder.

Peter schritt auf ein Mädchen zu, das abseits von den anderen stand und ihn ansah. Er wollte nach dem richtigen Weg fragen.

„Wir begrüßen dich im Bummlich-Fummlich-Land.“

„Waaas? – Quatsch, das gibt es nur im Märchen.“

Das Mädchen wiederholte: „Wir begrüßen dich im Bummlich-Fummlich-Land.“

Peter nahm beide Fäuste und rieb sich die Augen. „Du, kneif mich mal, damit ich weiß, dass ich nicht träume.“

 

Das Mädchen hieß Katrin. Derb griff sie in Peters rechten Arm. Er schrie auf. Inzwischen waren auch die anderen Kinder gekommen. „Bleib hier und spiel mit uns“, sagten sie zu ihm.

Nach einiger Zeit erschien ein Bus und brachte die Kinder zu einer Gaststätte. Peter staunte. Der Bus wurde von einem Roboter gefahren, das Essen von Robotern gekocht und ausgegeben. Während Peter überlegte, was er essen wollte, suchte er vergeblich in seinen Hosentaschen nach Geld. Es duftete herrlich. Dadurch wurde sein Hungergefühl noch mehr angestachelt.

„Willst du nichts essen?“, fragte Katrin.

„Ja, aber ich habe kein Geld.“

„Geld? Was ist das?“

Ein großer Kreis von Kindern und Erwachsenen bildete sich um die beiden. So sehr sich Peter bemühte zu erklären, was Geld ist, niemand verstand ihn. Plötzlich bildete sich eine Gasse.

„Der Weise Johann wird Rat wissen“, murmelten die Leute. Ein alter Herr mit gutmütigem Gesicht, grauen Haaren und langem grauen Bart schritt auf Peter zu. „Bei uns brauchst du kein Geld.“

Überglücklich riss Peter die Nächststehenden fast um, stürmte zum Schalter und rief dem Roboter zu: „Bitte Kartoffelbrei und Schnitzel.“

Doch da stellte sich das nächste Hindernis ein. Der Roboter verdrehte seine Augen, ließ vor Schreck den Teller fallen und rührte sich nicht mehr vom Fleck.

„Sprich langsam Peter, ganz langsam“, forderte Johann den Jungen auf. Aber Peter war so aufgeregt, dass er immer schneller wurde und schließlich stotterte. Darauf nicht programmiert, begann der Kopf des Roboters zu glühen. Johann begoss ihn mit Wasser.

„Pfui, Johann, der liebe Robby braucht keine kalte Dusche.“ Er schüttelte sich wie ein nasser Hund, griff nach der Ölkanne und schluckte gierig. Dann nahm er ein weiches Tuch und putzte sich wieder blitzblank.

„Bekommt unser neuer Freund nun endlich etwas zu essen?“, fragte Johann.

„Aber natürlich. Was kann ich dafür, dass es die Menschenkinder immer so eilig haben? Verstehen kann ich ihn nicht. Weil alle Kinder gern Kartoffelbrei und Schnitzel essen, soll er es auch haben.“

Nach dem Essen nahm Johann Peter mit in seine Wohnung. Hier erfuhr er die Geschichte vom Bummlich-Fummlich-Land. Doch im Gegensatz zu den Märchen, in denen die Könige klug und tapfer sind, war der König dieses Landes der allergrößte Bummlich-Fummlich auf der ganzen weiten Welt.

„Darf ich mir seine Fummelei mal ansehen?“, wollte Peter wissen.

„Was für eine Fummelei?“

„Na, die vom König. Wenn er ein sehr guter Fummlich ist, muss er noch viel besser basteln können als ich.“

„Nein, Peter, das hast du falsch verstanden. Bei uns heißt fummeln alles zerstören. Du wirst außer den Robotern niemanden finden, der arbeitet. Trotzdem musst du bei den Menschen ein großer Bummlich-Fummlich gewesen sein, sonst hättest du den Weg zu uns nicht gefunden.“

Unvermittelt fragte Peter: „Kannst du mir den Weg nach Hause zeigen?“

„Nein, bisher hat es noch niemand geschafft.“

„Das glaube ich nicht.“


Robby

Obwohl es nun regnete, lief Peter zum Bus. Am See angekommen, versuchte er durch die Hecke zu kriechen. Aber sie war so dicht, dass nicht einmal eine Ameise hätte durchschlüpfen können. Die Tür des Gebäudes, das seinem Kindergarten so ähnlich sah, und durch die er in das Bummlich-Fummlich-Land gelangt war, gab es nicht mehr. Hundemüde, traurig und völlig durchnässt kehrte er zu Johann zurück.

„Jeder, der hier ankommt, wird vom König ganz feierlich als Bürger dieses Landes aufgenommen. Bis es so weit ist, musst du genauso langsam sein wie wir“, erklärte ihm Johann.

Peter verstand gar nichts mehr. Bisher musste er sich immer anhören: „Beeil dich! Beweg dich! Bist du endlich fertig?“ Und nun war er auf einmal zu schnell? Der Regen tropfte gleichmäßig gegen die Fensterscheiben. Bevor er einschlief, wünschte er sich in sein Kinderzimmer. Die ganze Familie saß um den Tisch. Gemeinsam bauten sie eine Weltraumstation. Ob Vati schon neue Batterien gekauft hatte?

Die nächsten Tage verliefen sehr eintönig. Aus Mutwillen etwas zerstören, wollte er nicht. Träge und lustlos saß er im Haus herum. Vom Nichtstun wurde er von ganz allein noch langsamer. Endlich gelang es Johann, Peter zu überzeugen, mit den anderen Kindern zu spielen, was nicht ganz einfach war, denn für die Kinder dieses Landes war er immer noch zu schnell.

Eines Tages nahm Johann Peter mit in das Schloss. Nun würde er endlich den König persönlich kennenlernen. Der König hielt eine Ansprache:

„Lieber Peter, hochverehrte Herren!

Ich, König Adalbert der Zweite, König durch Gottes Gnaden und Herrscher über das Bummlich-Fummlich-Land, ernenne dich, Peter, zum Bürger unseres Landes. Schwöre auf die königliche Krone, dass du immer ein guter Bummlich-Fummlich sein wirst.“

Peter legte die drei Mittelfinger der rechten Hand auf die Krone. „Ich schwöre“, sagte er feierlich.

Dies alles geschah im Sitzen, weil niemand so lange stehen kann, bis so ein König seine kurze Rede beendet hat. Während dieser Zeit ließ der König selbst eine Schnur durch seine Finger gleiten, die anderen bauten ihre Kugelschreiber auseinander und schnipsten die Einzelteile zu den Nachbarn.

Nicht umsonst wurde Johann der „Weise Johann“ genannt. Er war wirklich der Älteste und Klügste und deshalb der Berater des Königs. Da Peter bei Johann wohnte, durfte er an der Beratung des Hofstaates teilnehmen. Der Kanzler verlas ein Schreiben:

„Allergnädigste Majestät, hochverehrte Herren! Unser Land befindet sich in einer furchtbaren Lage. Wir haben bald keine Roboter mehr, die für uns arbeiten. Im Laufe der Jahre sind sie zu alt geworden.“

Der Kanzler verschwieg, dass sie zerstört wurden. „Wer soll nun für uns arbeiten? Den Weg in das Land der Roboter kennt niemand mehr. Was soll nur aus uns werden? Wenn wir keine kluge Idee haben, müssen wir bald verhungern. Wir armen, armen Bummlich-Fummlichs.“

Aus dem Schreibpapier hatten die hochwohlgeborenen Herren des Hofstaates Flugzeuge und Schiffchen gebaut und spielten damit.

Menschen, die sich nicht schnell bewegen können, können auch nicht schnell denken. Wen wundert es da, dass Peter als erster eine Idee hatte. Er stand auf und sah die hochwohlgeborenen Herren an. Der Weise Johann nickte ihm aufmunternd zu. Peter verbeugte sich.

„Allergnädigste Majestät, hochverehrte Herren, wir müssen jeden Tag trainieren, damit wir uns schneller bewegen können. Dann dürfen wir zurück zu den Menschen und brauchen nicht zu verhungern.“

Puh, war das anstrengend, denn es war Peters erste Rede. Er war richtig stolz auf sich selbst. Leider hatte er zu schnell gesprochen. Johann bat ihn, seine Worte zu wiederholen, langsam, ganz langsam.

Der Junge musste seine Rede ein drittes und viertes Mal wiederholen, bevor einige fragten, was trainieren heißt. Johann erklärte es sehr vorsichtig und mit blumenreichen Worten. Doch wider Erwarten begriff es der König diesmal als Erster. Wütend trampelte er mit den Beinen, was bei seiner Leibesfülle sehr komisch aussah und Peter auch noch zum Lachen reizte.

„Ich soll arbeiten, ich, König Adelbert der Zweite? So eine Unverschämtheit hat es seit Bestehen unseres Landes noch nie gegeben. Eben hat dieser Dingsda, dieser Bengel geschworen, ein guter Bürger unseres Landes zu sein, und schon bricht er sein Gelöbnis? Ab mit ihm in den Kerker.“

Johann stellte sich schützend vor Peter.

„Majestät, der Junge hat recht. Wenn Ihr ihn einsperrt, dann sperrt mich mit dazu.“

Man sah, dass der König lange und angestrengt überlegte. Wortlos ließ er die beiden gehen. Nachträglich belegte er Peter mit einem Bann. Niemand durfte mit ihm reden, kein Kind mit ihm spielen. Alle richteten sich danach, nur Johann nicht.

Den ganzen Tag hatte sich Peter im Schweiße seines Angesichts abgemüht. Anziehen, ausziehen, Treppe runter, Treppe rauf, und nicht eine einzige Minute war er schneller geworden. Er weinte vor Wut.

„Ich schaffe es nicht, ich schaffe es einfach nicht. Und außerdem, wer sagt mir, dass es klappt, wenn es bisher noch niemand versucht hat?“

Johann wischte ihm die Tränen weg. „Ungeduld ist ein schlechter Ratgeber. Lange habe ich darüber nachgedacht. Es gibt nur den Weg, den du vorgeschlagen hast. Sieh mal, wenn du es schaffst, werden es einige nachmachen. Du kannst dir selbst und anderen das Leben retten. Zwar bist du noch klein, aber dann bist du ein ganz großer Held.“

Johann hatte noch das letzte Wort auf den Lippen, als es tüchtig polterte. Jemand hatte einen Stein, an dem ein Zettel gebunden war, durch das geöffnete Fenster geworfen. Johann las vor:

„Lieber Peter, der König hat uns verboten mit Dir zu spielen. Aber Du bist trotzdem mein Freund. Bitte, bitte, Du musst es schaffen. Nur so kannst Du beweisen, dass Du recht hast. Ganz liebe Grüße, Deine Freundin Katrin.“

Peter glättete den Zettel, faltete ihn sauber zusammen und steckte ihn in seine Hosentasche. Immer wenn ihn der Mut verlassen wollte, berührte er ihn. Seine Freunde wollte er nicht enttäuschen!

Der Schulanfang rückte immer näher, und Johann meinte, dass jetzt der richtige Zeitpunkt sei. Beide fuhren mit dem Bus zum See.

„So, Peter, hier müssen wir uns trennen. Den Rest musst du allein schaffen.“

Peter schlang seine Arme um Johanns Hals. „Komm doch mit“, bettelte er.

„Das geht nicht. Man gehört immer dahin, wo man zu Hause ist. Wenn du mal wieder bummeln willst, dann denke daran, wie schlecht es uns geht. Nun lauf aber schnell, die Kinder dort betrachten uns schon eine ganze Weile.“

Peter rannte auf die Hecke zu, fand aber keinen Ausgang. Ratlos blickte er zu Johann, der auf das Haus zeigte. Tatsächlich, die Tür war wieder da. Der Junge vollführte einen Freudensprung, stolperte, schlug hin, rappelte sich wieder auf, und bevor die Kinder ihn daran hindern konnten, betrat er das Haus. Hinter ihm verschwand die Tür wieder. Der Junge konnte nicht zurück und die Bummlich-Fummlichs mussten in ihrem Land bleiben.

Als Peter auf der anderen Seite des Hauses herauskam, tat sich in der Hecke ein großes Loch auf. Bequem schlüpfte er durch und ging in den Kindergarten.

„Wo kommst du denn her und wo warst du so lange?“, wollte Doreen wissen.

„Im Bummlich-Fummlich-Land.“

Doreen tippte mit dem Zeigefinger an ihre Stirn. „Nun erzählt er auch noch Märchen!“

Beim Mittagessen starrten die Kinder alle Peter an. Er war fertig, einige Kinder noch nicht.

„Warst du wirklich im Bummlich-Fummlich-Land?“, fragte Doreen.

„Natürlich!“

„Erzähl mal, wie war es?“

„Aber nicht jetzt! Es ist Mittagsruhe“, mischte sich Frau Lustig ein.

„Ach, bitte“, bettelten die Kinder, „bald gehen wir zur Schule, und Schulkinder schlafen mittags nicht mehr.“ Sogar die Eltern, die ihre Kinder zeitig abholen wollten, blieben da, um Peter zuzuhören.

Am nächsten Morgen wurde Peter durch Geschirrklappern geweckt. Genussvoll räkelte er sich. Mutti und Marion würden sicher den Frühstückstisch decken. Er ging ins Schlafzimmer der Eltern.

„Guten Morgen, Vati.“

„Guten Morgen, Peter.“

„Du, Vati, wollen wir mal sehen, wer zuerst angezogen ist?“

„Du willst mit mir um die Wette …?“ Die letzten Worte sprach der Vater nicht mehr aus, legte sich lang und lachte: „Hahaha – hahaha.“

Doch Peter war schon angezogen, stellte sich in strammer Haltung auf und meldete: „Soldat Peter ist fertig.“

Der Vater bekam große Augen und sah seinen Sohn erstaunt an. In diesem Moment betrat die Mutter das Zimmer. Vati sagte zu Mutti: „Ich glaube, unser Peter wird ein guter Schuljunge.“

DER GROßVATER

Die Zeiger der Uhr rückten langsam auf Mitternacht vor. Die Kinder mussten heute auf ihre eigenen Zimmer verzichten. Dort schlief die Verwandtschaft, die zu Besuch gekommen war, um die Einschulung zu feiern. Peter legte sich zwischen seine Eltern. Er küsste sie. „Das war ein schönes Fest“, meinte er. Dann kuschelte er sich in Muttis Arme und war im Nu eingeschlafen. Weil Marion für ihre Toilette so lange brauchte, blieb für sie nur das Gästebett übrig. „Immer darf der Kleine bei euch schlafen“, murrte sie, „und ich?“

 

Seitdem waren einige Wochen vergangen, und für die Kinder gab es Herbstferien. Die Eltern waren mit ihnen zur Ostsee gefahren. Nun saßen sie in einer Gaststätte, die sich „Gastmahl des Meeres“ nannte, und warteten auf das Mittagessen. Alle Tische waren voll besetzt, und so wurde Peters Geduld tüchtig auf die Probe gestellt. Allmählich begann er auf seinem Stuhl hin und her zu rutschen und hätte beinahe sein Limonadenglas umgeworfen. Die Eltern ermahnten ihn.

Was sollte man vor Langeweile nur beginnen?

Marion beschäftigte sich immer noch mit der umfangreichen Speisekarte.

Am gleichen Tisch saß ein alter Herr. Ungeniert begann ihn der Junge zu betrachten. Er musste schon sehr alt sein, steinalt. Es brannten nur ein Teil der Lampen, so dass es nicht besonders hell war. Trotzdem trug der alte Mann eine Sonnenbrille.

„Hast du schlimme Augen?“, fragte Peter unvermittelt.

„Peter“, sagte der Vater ärgerlich, „wie oft sollen wir dir noch erklären, dass man nicht jeden mit du anspricht?“

„Entschuldigen Sie bitte“, wandte er sich dann an den alten Herrn.

„Lassen Sie nur, Ihr Sohn ist ja noch klein. Er lernt es ganz gewiss noch.“

Peter war schon wieder in seinen Betrachtungen versunken. Der alte Mann trug die Haare sehr lang. Seine Eltern würden ihm schön was erzählen, wenn er so rumlaufen würde. Junge, Junge, wäre das ein Gemecker. Vom Gesicht war so gut wie nichts zu sehen, wellige lange Haare, welliger langer Bart, Sonnenbrille. Die Haut auf den Händen war total verschrumpelt. Welche Farbe hatten eigentlich die Haare und der Bart? Seltsam! So etwas Undefinierbares hatte der Junge noch nie gesehen.

„Ja, Peter“, sagte der alte Herr, „ich habe schlimme Augen. Der Zigarettenrauch und das Licht stören mich sehr.“

„Sie sind schon sehr alt und sicher ein Großvater?“, fragte er. „Ja, mein Junge, ich bin ein Großvater. Wenn du willst, kannst du mich auch so nennen und mich mit „du“ anreden, denn in der heutigen Zeit ist es nicht üblich, seinen Großvater mit „Sie“ anzureden.“

„Wenn du ein Großvater bist, kennst du sicher viele Märchen. Erzählst du mir eins, bis das Essen kommt?“

„Kennst du Neptun?“

„Natürlich, er ist der König der Meere“, antwortete das Kind stolz.

„Nein, Peter, Neptun ist der Gott der Meere. Ein Gott kann noch viel mehr, als ein König. Aber nun will ich dir die Geschichte

Vom wütenden Neptun

erzählen.

Eines späten Abends stieg am Strand von Warnemünde Neptun aus der Ostsee. In der rechten Hand trug er das Zeichen seiner Macht und Würde, den Dreizack. Er überquerte den Strand und ging auf das Hotel Neptun zu. Es erfüllte ihn jedes mal mit Stolz, dass dieses Hotel seinen Namen trug. Einfach toll, was die Menschen da gebaut hatten. Majestätisch schritt er in einiger Entfernung um das Hotel herum. Hier herrschte immer ein reges Treiben. Schlafen denn die Menschen nie? Er schüttelte den Kopf, so dass seine meergrünen Haare flatterten. Sein Blick war immer noch auf das Hotel gerichtet. Deshalb sah er eine Grube nicht und wäre beinahe hineingestürzt.

Was sollte denn das? Mussten die Menschen ausgerechnet dort, wo ihn sein Rundgang entlang führte, etwas bauen? Es ärgerte ihn mächtig, und so beschloss er, diesen zu verhindern.

Am nächsten Tag mischte er sich heimlich unter die Menschen. Eine Schwimmhalle sollte es also werden. So ein Unfug, eine Schwimmhalle, wo man doch einige hundert Meter weiter in der Ostsee baden konnte. Dieser Platz musste unbedingt frei bleiben, damit er nachts weiterhin ungestört um das Hotel Neptun spazieren konnte. Einen Tag und eine Nacht ließ ich …“

Der Großvater hörte plötzlich mit dem Erzählen auf.

„Weiter, Großvater, weiter, was geschah dann?“, wollte Peter wissen.

Es war, als müsste er erst nachdenken, bevor er weiter sprach.

„Einen Tag und eine Nacht ließ Neptun ununterbrochen den Nordostwind stürmen. Dann war von der Ausschachtung nichts mehr zu sehen. Zufrieden mit seinem Werk verließ er Warnemünde, setzte sich in seine kostbare Muschelkutsche, die von vielen, vielen Seepferdchen gezogen wurde und ließ sich in das Eismeer fahren. Dort hatte er wichtige Dinge zu erledigen. Als er nach einigen Monaten zurückkehrte, stand an der damaligen Baugrube eine fast fertige Schwimmhalle. Unbändiger Zorn packte ihn. Mit außerordentlicher Kraft stieß er den Dreizack in den Boden und traf beinahe noch seine flossenähnlichen Füße. Von dem Aufprall erhielt der Fußboden des Schwimmbeckens Risse, durch die das Ostseewasser drang. Ich konnte mich …“

Erschrocken hielt der Großvater inne, sah von einem zum anderen und erzählte dann weiter.

„Der Gott der Meere konnte sich bis heute nicht beruhigen, denn er hatte die Schlauheit der Menschen unterschätzt. Die Risse wurden mit Gummibelag abgedichtet, Neptuns Wut eingefangen. Damit bringt man den Boden unter dem Schwimmbecken zum Erzittern, so als würde es jeden Augenblick ein Erdbeben geben. Neptuns Atem erklingt als Warnsignal, und das Leuchten seiner Augen kann man in Form von kleinen Lämpchen sehen. Die Menschen in der Schwimmhalle freuen sich und stehen voller Erwartung da. Die Gummibelege wölben und biegen sich. Das Wasser beginnt zu rauschen, und es entstehen richtige Wellen wie bei einem Sturm in der Ostsee. Jeder Sturm lässt einmal nach. Dann sind die Menschen sehr traurig und erwarten sehnsüchtig die nächsten Wellen. Deshalb nennt man die Schwimmhalle in Warnemünde auch Wellenbad oder Meeresschwimmhalle.“

Peter sah den Großvater ungläubig an.

„Du glaubst mir wohl nicht?“

Bevor Peter antworten konnte, sagte Mutti: „Der Großvater hat recht. Wir werden dort auch einmal baden gehen. Dann kannst du dich selbst überzeugen.“

„Man, das ist ja fetzig!“, mischte sich Marion in das Gespräch ein.

Während des Essens fragte Peter: „Großvater, kennst du noch mehr Geschichten von Neptun?“

„Aber natürlich. Doch für heute reicht es. Wenn du Lust hast, kannst du mich jeden Nachmittag besuchen, wenn es dunkel wird.“

Er schrieb seine Adresse auf die Rückseite eines Bierdeckels und übergab ihn den Eltern.

Der Nachmittag des nächsten Tages wollte überhaupt nicht vergehen. Endlich brachte der Vater Peter zu der angegebenen Adresse. Die Wohnung des Großvaters bestand aus nur einem Zimmer und einer Küche. In der Küche gab es nichts Besonderes zu sehen, aber das Wohnzimmer …!

Peter war ganz begeistert. Richtig gemütlich war es hier. Es gab präparierte Fische zu sehen, Fischernetze und eine Anzahl von Schiffsmodellen. Sogar ein Dreizack hing an der Wand.

„Großvater, woher hast du den Dreizack?“

„Den Dreizack, den Dreizack“, stotterte der alte Mann, „ach so, ja, den Dreizack gibt es auf vielen Schiffen, die über den Äquator fahren. Dort erhalten alle Seeleute, die das erste Mal dabei sind, eine Taufe. Das ist ein Seemannsbrauch.“

„Und zur Taufe kommt Neptun?“

„Ja, nein, weißt du Peter, da verkleidet sich jemand als Neptun, so wie zu Weihnachten der Weihnachtsmann.“

„Schade!“

„Warum?“

„Na, ganz einfach, wenn ich groß bin, würde ich Seemann werden und Neptun kennenlernen. Dann könnte ich ihn bitten, mir mal sein Reich zu zeigen. Aber so geht das gar nicht.“

„Ich mache dir einen Vorschlag, Peter. Du setzt dich jetzt in den Sessel und lässt dich von mir in Neptuns Reich entführen. Die Geschichte heißt:

Aufruhr in Neptuns Reich

Neptun hatte äußerst schlechte Laune. Wir würden sagen, es störte ihn die Fliege an der Wand. Doch in seinem Reich gibt es keine Fliegen, nur fliegende Fische.

Er saß auf seinem goldenen Thron, die Füße ruhten auf einem weichen Seemoospolster, den Kopf hatte er in die linke Hand gestützt und war mit sich und dem Umfeld unzufrieden. Es störte ihn sogar das kaum vernehmbare Säuseln der Wellen, die sanft seinen Körper umschmeichelten. Er überlegte, wie es wäre, wenn er mal Urlaub machen würde. Ja, Urlaub, das war die Idee, sich von den Regierungsgeschäften ausruhen. Es müsste aber unbedingt dort sein, wo es kein Wasser gibt. Immer nur Wasser, so etwas konnte selbst einen Neptun zur Verzweiflung bringen. Aber wo gab es eigentlich kein Wasser?“

Bevor er zu Ende denken konnte, erschien die dicke Köchin Hailinde, ein Haifischweibchen, knickste vor dem Gott des Wasser, was immer sehr ulkig aussah und fragte: „Was wünschen Majestät heute zu speisen?“

Neptun ärgerte sich über die Störung und fauchte: „Gotteslachs will ich essen.“


„Ha“, schrie Hailinde, „ha.“ Der Kochlöffel fiel ihr vor Schreck aus der Hand und die Kochmütze verrutschte. Sie zitterte am ganzen Leibe. Dann nahm sie allen Mut zusammen und fragte kleinlaut: „Majestät belieben zu scherzen?“

„Wenn du dickes Mastschwein nicht sofort in die Küche gehst und mir Gotteslachs zubereitest, dann lasse ich dich braten“, brüllte Neptun.

Der Ausdruck Mastschwein gefiel ihm besonders gut. Er hatte ihn bei den Menschen gehört. Für Hailinde fand er ihn in diesem Moment passend.

Völlig verstört ging Hailinde zum Ersten Minister und Neptuns bestem Freund, dem Frosch Quaki, und klagte ihm ihr Leid. Dieser begab sich sofort zu Neptun. Er hatte immer noch nicht herausgefunden, wo es kein Wasser gibt. So erhielt Quaki gleich einen Fußtritt. Darüber war er total empört. Aber er blieb trotzdem zu Neptuns Füßen liegen bis er fragte: „Was willst du Quaki?“

„Majestät waren vorhin sicher mit wichtigen Regierungsentscheidungen beschäftigt. Bitte sagt mir, was Hailinde kochen soll.“

„Potz Blitz und Donnerwetter“, schrie Neptun und erhob sich von seinem Thron. Ich habe klar und deutlich gesagt, dass ich Gotteslachs essen will.“

„Gnade, Majestät, Gnade“, wimmerte Quaki, habt Ihr vergessen, dass der Gotteslachs heilig ist und nur dem höchsten Gott, dem obersten Herrscher über Himmel, Erde und Wasser geopfert werden darf? Wehe uns, wenn wir uns nicht daran halten, dann passiert ein großes Unglück.“

„Papperlapapp, großes Unglück, du erzählst Märchen, Quaki. Du bist ein Hasenfuß. Vielleicht benutzt du deinen Kopf mal zum Denken. Die meisten Menschen bringen weder mir noch irgendwelchen anderen Göttern Opfer, na und? Hat es ihnen Unglück gebracht?“ Neptun ließ Quaki stehen und schlug den Weg zum Pferdestall ein. Hier schwammen schwarze, braune, grüne, gelbe und orangefarbene Seepferdchen. Neptuns Stallmeister, der Schwertfisch Langschwert, zeigte ihm stolz seine neuesten Zuchtergebnisse. Es war ihm gelungen, Seepferdchen zu züchten, die zwei Zentimeter größer waren als die anderen.

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