Tauben am Fenster und andere Geschichten

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Tauben am Fenster und andere Geschichten
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Sigrid Dobat

TAUBEN AM FENSTER

und andere Geschichten

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2017

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2018) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Titelbild © emadomar (Fotolia)

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Sandperlen

Pepita 1968

Automatisch

Die grüne Wolke

Himbeeren, Sommer 1947

Eis, Winter 1947

Im Park

Käferglanz

In Ordnung

Das Gespräch

Laufzettel

Jetzt war Tag

Sternendunkel

Tauben am Fenster

Sie hörte die Pferde

Ein charmanter Herr

Kitsch as Kitsch can

Das Nachbarhaus links – eine Hommage an Theodor Storm

Die alte Ziegelei

Schwarze Erde

Nicht Verstehen

Himmel mit Hölle

Date

Zum Teufel mit der Schönheit

Auf einem Stern sitzen

Stolpersteine

Mit dem Motorrad fahren

BONAQUA – verdrehte Buchstaben

Die Kränkung

SANDPERLEN

Ihnen werde ich meine Geschichte erzählen.

Ich erzähle sie zum ersten Mal, denn ich fürchtete lange, von meinem Berufsstand verlacht zu werden, sagte ich die Wahrheit.

Aber jetzt gibt es Beweise. Im Museum liegen sie: Perlen, Fibeln, Goldreifen, Scherben, unendlich viele Requisiten einer vergangenen Zeit. Vor allem aber Perlen, sie sind für meine Geschichte, sie sind für mich von besonderer Bedeutung.

Ich bin Archäologe und deshalb einer Vergangenheit und dennoch einer bewiesenen Realität verpflichtet. Damals leitete ich eine Ausgrabung an der Schlei. Das Grabungsteam hatte in den Tagen vor dem nächtlichen Ereignis, von dem ich erzählen werde, die Ackerkrume auf dem Feld im Uferbereich der Schlei mit einem Bagger sorgfältig abgeschoben und zu Erdhaufen getürmt. Sie muteten ungewöhnlich an in der Landschaft, die von weitläufigen, sanften Hügeln geprägt ist. Der helle Kies, zuvor vom Mutterboden bedeckt, lag jetzt frei. Dunkel zeichneten sich Pfostenlöcher auf dem Kies ab. Runde, kräftige, erdschwarze Flecken an der Oberfläche, in der Tiefe mächtige Löcher, gefüllt mit Humus, entstanden aus der Fäulnis einstmals starker Holzpfosten. Dicht nebeneinander geben sie das Abbild einstiger Häuserwände, als hätte ein Architekt den Grundriss eines Hauses gezeichnet. Die ungewöhnliche Größe der aufgedeckten Häuser, sie maßen an dreißig Meter in der Länge, versprach die Entdeckung einer bedeutungsvollen Siedlung, tausend Jahre vor unserer Zeit erbaut.

Als Grabungsleiter blieb ich selbstverständlich nachts auf dem Gelände, um das Forschungsgebiet vor Raubgräbern zu schützen. Doch seltsam, schon in der ersten Nacht fand ich in meinem Bauwagen keine Ruhe. Was würden wir finden, was uns den Beleg lieferte über die Bedeutung der Menschen, die einst in dieser Siedlung gelebt hatten?

In der Nacht, bevor das Durchsieben und Schlämmen von Sand und Humus beginnen sollte, um Scherben und Eisen herauszuspülen, wehte es heftig. Der frei gelegte, lockere Kies würde aufgewirbelt werden. Morgen müsste das Team erneut die Pfostenlöcher frei schaufeln, damit sie zu erkennen sein würden. Bisher waren sie vermessen, im Computer gespeichert und jederzeit als präzise Skizze abrufbar. Ich hätte also ruhig sein können in dieser Nacht. Außer einem überschaubaren Zeitverlust gab es nichts zu befürchten.

Doch mit zunehmendem Wind zog es mich hinaus aus dem Bauwagen in die Nacht, hinaus auf die Kiesfläche. Mal bedeckten Wolkenfetzen den vollen Mond, dann wieder gaben sie das helle Licht des Mondes frei, als hätte jemand den Schein einer Laterne über den Kies geworfen. Ich stand still inmitten der Kiesfläche und spürte, wie der Wind in meinen Haaren und Kleidern riss. Atemlos beobachtete ich das wechselvolle Spiel von Licht und Dunkelheit, bis mich ein schwarzer Schatten erschreckte, den ich seitlich an dem höchsten Hügel aufgehäuften Mutterbodens entdeckte. Er schien hastig und zugleich mühsam den Hügel empor zu laufen, oben auf dem höchsten Punkt zu verharren, einem Feldherren gleich, um urplötzlich hinter dem Hügel zu verschwinden. Hinten an der Hecke, die die Kiesfläche an einer Seite begrenzte, huschten, hasteten Schatten auf und ab. Und stets, wenn ich etwas zu erkennen glaubte, schoben Wolken die Schatten fort, die eben noch da waren. Je länger ich in den Wechsel von Mondlicht und Dunkelheit starrte, je mehr belebte sich in meiner Wahrnehmung die einstige Stadt, ich war mir sicher, menschliche Wesen zu erleben. Unten am tiefen Ufer der Au, über die in früheren Zeiten flachkielige Schiffe in die Schlei hinein fuhren, glaubte ich Rufe zu hören, Hammerschläge auf Eisen, auf Holz. Als wäre der Hafen der Stadt neu belebt, als arbeiteten die Menschen in ihrem Tagwerk, nur dass jetzt Nacht war, stürmische, dunkle Nacht, durchbrochen von diffusem Mondlicht.

Gerade entschloss ich mich, hinunter zum Ufer der Au zu steigen, als ein heftiger Windstoß den Kies vor mir zu einer unglaublich mächtigen Sandwolke aufstieb, Sandkristalle glitzerten im matten Gelb des stobenden Sandes. Unwillkürlich hielt ich meine Hände vor das Gesicht, doch ich spürte die Faszination dieses Augenblicks. Ich wollte dieses Naturereignis sehen. Bald schützend, bald sich öffnend gaben meine Hände nach und ich sah hinein in die Sandwolke, unwirklich vom Mondschein durchschienen.

Und dann geschah das Unfassbare: Die Sandwirbel stiegen, lösten sich auf, verdichteten sich abermals, schmolzen zusammen, verschmolzen zu wallendem Stoff, goldfarben wie der Sand, verschmolzen zu einer Gestalt. Ich erkannte eine junge Frau. Ihr Gewand blähte sich, tanzte, wickelte sich um die zarte Gestalt im Rhythmus der Windschübe. Das Haar hatte sich mit dem Wind um den Kopf der Frau geschlungen, bedeckte ihr Gesicht.

Und ebenso plötzlich, wie der Wind den Sand empor gewirbelt hatte, ließ er nach. Das lange Haar löste sich vom Gesicht, fiel herab auf die Schultern. Gebannt sah ich, wie der Mond hell in das Gesicht schien. Wenn auch der Mond mir eine noch nie vorher gesehene Schönheit offenbarte, erschreckten mich ungewöhnlich blasse Augen, die gläsern und blicklos in die Weite starrten.

Doch war mir, als lächelte der Mund.

Ich weiß nicht, wie lange ich die Erscheinung angestarrt hatte, als plötzlich ihr Mund sich leicht öffnete und etwas Glänzendes zwischen ihren Lippen erschien. Im Mondlicht sah ich deutlich: Eine leuchtend blaue Perle war hervorgetreten, blieb für Momente zwischen den Lippen, bis die Frau vorsichtig die Perle zwischen Zeigefinger und Daumen nahm und mit einer schnellen Bewegung des Arms hinter sich warf.

Unvermittelt stand ich wieder in der Dunkelheit. Der Mond bedeckt von einer tiefen Wolke, die Sandwirbel fort, als hätte es sie nie gegeben. Noch spürte ich den Wind an dem Stoff meiner Jacke zerren, ich spürte mein Herz schlagen, versuchte wieder klare Gedanken zu fassen. Bald würde die tiefe Wolke vorüber gezogen sein, dann würde ich die junge Frau, zumindest aber mich wieder finden können hier in dem Grabungsgelände.

 

Ich wartete. Dann lösten die Wolken sich auf, meine Augen gewöhnten sich allmählich an das matte Licht. Ich erkannte, dass ich zwischen zwei mächtigen Pfostenlöchern stand, die sich blass im Kies abzeichneten. Der Wind hatte eine feine Sandschicht über die dunklen Humusflächen gelegt. Die schöne Gestalt war fort, die Schatten, die ich eben noch die Erdhügel auf und ab laufen sah, verschwunden. Die Stille erschreckte mich, kein ferner Hammerschlag mehr, Stille. Der Wind schwieg und dennoch fühlte ich ihn leicht in meinem Gesicht.

Ich stand im Eingang des am Tage zuvor frei geschobenen Hauses, links und rechts neben mir die kräftigen Pfosten, vom Sand zugedeckt, aber schwach erkennbar. Die Frauengestalt muss in dem Haus gestanden haben, wenige Meter von mir entfernt, umgeben von Pfostenlöchern, die einst die Wand gebildet hatten. Etwas hinderte mich in dieser dunklen Nacht, durch die Eingangspfosten in das Haus hineinzugehen, in dem einst Menschen gelebt hatten. Benommen von dem unwirklichen Ereignis legte ich mich schlafen.

Am anderen Morgen erwachte ich schwer. Ich spürte Sand zwischen meinen Zähnen. Draußen hörte ich das knirschende Schaben von Schaufeln im Kies.

Mein Grabungsteam hatte damit begonnen, den Sand von den dunklen Pfostenlöchern zu schaufeln. Dann aufgeregtes Rufen, jemand klopfte ungeduldig an den Bauwagen, offenbar verwundert über mein spätes Erwachen.

Im Kies hinter den Eingangspfosten inmitten des Hauses hatten sie eine Perle gefunden. Ich wusste sofort, noch bevor ich sie betrachten konnte, es war die blaue Perle, die die schöne Frau in der Nacht zwischen ihren Lippen gehalten hatte. Als ich sie sah, glänzte sie im Licht des frühen Morgens. Und in meiner Handfläche fühlte sie sich feucht an.

Äußerlich nahm ich Anteil an der Freude meines Teams über den Perlenfund, jedoch blieb bei mir das stille Erstaunen über das nächtliche Ereignis, über das ich mit niemandem sprach. Das schöne Gesicht mit den toten Augen jedoch erschien mir immer wieder im Schlaf, wenngleich das Ereignis sich nicht wiederholte, so oft ich mich auch nachts in das Grabungsgelände begab.

Es sollte viel Zeit vergehen, bis ich meine Ruhe wieder fand. Als Wissenschaftler schwankte ich zwischen der mystischen Erfahrung dieser Nacht und der Suche nach einer Erklärung. Wer würde einen Wissenschaftler ernst nehmen, der sich phantastischen Erscheinungen hingab? Und doch: Durch die nächtliche Erscheinung der schönen jungen Frau fand ich meine Arbeitshypothese, die ich nur noch beweisen musste. Ich erinnerte mich an Skelettfunde mit Perlen im knöchernen Kiefer, für die die archäologische Wissenschaft lange keine Erklärung hatte. Unbeachtet lagen die Schädel in den Archiven, kleine Hinweisschilder an den Kieferknochen befestigt, die auf die einst im Schädel liegende Perlen hinwiesen. Die Perlen selbst entfernt und in den Asservatenkammern der Museen verwahrt.

Durch die nächtliche Schöne fand ich den Zusammenhang. Ich fand heraus, dass man in früher Zeit den Toten Glasperlen unter die Zunge legte. Die leeren, gläsernen Augen der Frau hatten mich darauf hingewiesen. Und die nasse blaue Perle zwischen ihren lächelnden Lippen.

Die Perlen unter der Zunge waren das Entgelt für den Fährmann, der die Toten mit seinem Kahn über den Fluss ins Totenreich bringen sollte.

Die Geschichte erzähle ich erst jetzt, da alles bewiesen ist.

Vorher hätte mir niemand geglaubt.

Ich denke, auch Sie nicht.

PEPITA 1968

„Die Kinder schlafen“, sagt der Mann freundlich, „wenn Sie nur ab und an nach ihnen sehen würden. Sie können sich in der verbleibenden Zeit mit Ihrer Arbeit befassen.“ Er lächelt. Marga forscht in seinem Gesicht. „Gönnerhaft, gönnerhaft ist das Lächeln“, hatte Eberhard gesagt, ohne es je gesehen zu haben. Sie sucht in diesem Lächeln. „Ist noch was?“, fragt der Mann und zögert. Irritiert greift sie nach ihrer Mappe, legt die Arbeitsbücher auf den Küchentisch. Sein Lächeln ist verschwunden, ohne dass sie das Gönnerhafte gefunden hätte.

„Ich werde für das Examen lernen“, sagt sie leise und blättert in einem ihrer Bücher.

„Und nehmen Sie sich etwas zu trinken, wir werden heute länger ausbleiben.“

Seine Frau hat die Küche betreten, ihre Absätze klappern auf den Fliesen. Als die Haustür ins Schloss fällt, steht ein Parfümduft in der Küche, der sich mit den Küchengerüchen mischt.

Nach den Kindern sehen. Das ist ihre Aufgabe. Marga zieht ihre Schuhe aus, stellt sie seitlich der Küchentür auf den Flur, ordentlich und nebeneinander. Sie hätte direkt vom Flur aus über die Treppe in das obere Stockwerk der Villa gehen können, um nach den Kindern zu sehen. Sie benutzt den Umweg über das Wohnzimmer, greift nach dem Lichtschalter, der große Deckenleuchter erhellt den Raum. Kristall an der Zimmerdecke. „Echte Teppiche sind es“, hatte die Frau bei ihrem ersten Besuch in der Villa gesagt, als sie sah, dass Margas Blick an den Teppichen hängen blieb. Was sind echte Teppiche? Marga weiß, es sind weiche Teppiche mit schönen Mustern und sanften Farben. Jetzt, allein in der Villa, stellt Marga einen Fuß in ein Muster hinein, rollt die Zehen zusammen. Dort, wo sie die Zehen gerollt hat, wird das Rot des Teppichmusters ein wenig dunkler. In der Mitte des Raumes liegt der größte und weichste Teppich, Marga weiß, dass es eine Fransenbürste gibt für diesen Teppich. Vielleicht wird sie später die Fransen bürsten. Einfach so, weil es schön ist. Marga hat sie gezählt: acht Teppiche liegen dicht nebeneinander in dem großen Wohnraum, hohe Fenster, edle, dunkle Möbel, alte Möbel. Marga zieht den Geruch des gewachsten Holzfußbodens ein und schließt die Augen.

„Hast du dich mal gefragt, woher das alles kommt?“, hatte Eberhard gesagt, als sie ihm von der Villa erzählte. Eberhard hatte sie bei den Schultern gepackt, sie geschüttelt. „Konfisziert natürlich, konfisziert! Und von wem? Denk nach!“ Eberhard war sehr aufgeregt gewesen, aufgebracht. „Eisengießerei, gegründet 1938! Überlege, wessen Kinder du hütest!“

Sie hatte damals geschwiegen, wollte das alles nicht hören. Es war schön in dem Haus, die Leute freundlich und die Bezahlung gut. Schließlich bekam sie keine Schecks von zu Hause. Der alte Trotz wegen der Schecks, den sie auch damals im Streit empfunden hatte, kriecht wieder hoch.. „Du bist unser Aushängeschild, Marga! Arbeiterklasse und klug! Du darfst dich nicht verkaufen, du verrätst unsere Idee! Das ist Establishment pur!“ – beschwörend hatte er sie angesehen.

Erst hatte sie geschwiegen, was sollte sie dazu sagen? Dann hatte sie versprochen, nicht wieder in die Fabrikantenvilla zu gehen. Es war ganz einfach, er hatte ihr sofort geglaubt.

Die Füße auf dem Teppich! Keiner darf es wissen! Es ist so gut, die Füße in dem weichen Teppich zu spüren! Und es ist gut, dass es keiner weiß.

Die Kinder schlafen, auf dem Küchentisch die Bücher: Mittelhochdeutsche Grammatik. Sie gießt sich Wasser aus der Leitung in einen Becher. Hier lernt es sich gut, es ist ruhig hier, Konzentration ist möglich. Und die braucht sie für die grammatischen Regeln. Sie muss das Examen schaffen. Hier sieht keiner, wenn sie für die Klausur lernt. Keine Rechtfertigungen. Mittelhochdeutsche Grammatik für das Examen. Sie will es schaffen. Drei Stunden bis jetzt, sie schaut auf die Küchenuhr. Das wird ein guter Verdienst. Sie ist zufrieden. Und die anderen müssen es ja nicht wissen. „Ich bin das Aushängeschild“, denkt Marga. So hatte Eberhard gesagt.

Ihre Füße werden kalt auf dem Fliesenboden der Küche. Sie gönnt sich eine Pause, steht auf. Im Flur der schicke Mantel an der Garderobe, sie schlüpft in die zierlichen Schuhe, die unter der Garderobe stehen, hoher Absatz, edles Leder. Der Mantel dazu, Pepitamuster, schwingender Saum. Sie dreht sich vor dem hohen Garderobenspiegel, aus dem Mantel steigt leichter Parfümgeruch. Im Bad sind Kämme, sie steckt ihre Haare hoch, Lippenstift, Pepita. Sie dreht sich seitlich zum Spiegel, das Kragenrevers schlägt sie hoch, neigt den Kopf mit der gesteckten Frisur über die Schulter, versucht verführerisch in den Spiegel zu schauen. Ein Schmollmund gehört dazu. Das kennt sie aus Filmen. So. Ja, so einer.

Sie verharrt vor dem Spiegel – sie gefällt sich in Pepita. Die Schuhe tänzeln, Fuß vor Fuß auf hohen Absätzen, vom Flur in die Küche, dort ist es heller. Das Klacken der Absätze auf den Fliesen folgt ihr. Sie hört es gern, dieses Klacken. Im Lichtschein der Deckenlampe wird das Fensterglas zum Spiegel. Sie schreitet zur Wohnzimmertür, der Pepitamantel wippt, sie greift den Wasserbecher, hält ihn wie ein Sektglas, kokett mit abgespreiztem Finger, von der Wohnzimmertür zurück zum Fenster, das jetzt ein Spiegel ist. Her und hin, Fuß vor Fuß. Pepita in der Scheibe.

Sie schreckt auf. Ein Geräusch hinter dem Fenster. Hinter dem spiegelnden Glas erkennt sie Eberhards Gesicht. Pepita auf der Scheibe, darin sein Gesicht – ein Pepitagesicht. Was hat er gesehen? Er soll nichts gesehen haben! Hastig flüchtet sie aus der Küche, schiebt die zierlichen Schuhe mit den hohen Absätzen zurück unter die Garderobe, hängt den Pepitamantel auf den Bügel, wartet atemlos. Hat sie sich getäuscht? Hinter der Haustür dann: „Also doch!“ Stille jetzt. Sie schleicht zur Tür. Durch den Türspion sieht sie Eberhards Gesicht. „Also doch!“ Sein heißer Atem kondensiert, er kommt näher an den Türspion. So nahe, dass die kleine runde Scheibe beschlägt und sie nichts mehr erkennt. „Mach auf!“, bestimmt er.

Dann steht Eberhard in der Küche. „Bürgerlicher geht’s wohl nicht.“ Er sieht sich um, seine Finger trommeln auf dem Küchentisch, er schnauft geräuschvoll durch die Nase, beugt sich vor, schiebt mit der flachen Hand die Bücher vom Tisch, sein Gesicht ist dem ihren ganz nahe, sie riecht den Alkohol: „Spießig!“ Marga weicht zurück, als Eberhard das Wort ausspuckt. Wegen des Geruchs weicht sie zurück und wegen des Klangs in seiner Stimme. Und wegen der Bücher auf dem Küchenboden.

„Sekt aus dem Wasserbecher?“ Er greift nach dem Becher, hält ihn unter seine Nase. „Hätte ich mir doch denken können, Wasser für die Bürgerliche“, sagt er wie zu sich selbst und geht auf den Kühlschrank zu. Er öffnet ihn und zieht eine Flasche Sekt hervor. „Gläser, aber feine Gläser für den Sekt und die Bürger!“ Laut ist seine Stimme. Marga steht auf, zögert, erschrickt, als der Sektkorken mit lautem Knall an die Decke der Küche schießt. „Eberhard“!

„Eberhard, die Kinder!“ Hilflos sieht sie zu, wie er die Wohnzimmertür öffnet, das Licht anschaltet, ihm ein zynisches ‚Ah’ entfährt, er mit zwei Kristallgläsern zurückkommt. Seine Schuhe hat er nicht ausgezogen. Marga fühlt ihre kalten Füße auf dem Fliesenboden der Küche. Sie stellt sich vor, wie er mit seinen Straßenschuhen auf die weichen Teppiche im Wohnzimmer getreten ist.

Sie hört das Sprudeln des Sekts in den Gläsern, und sie hört den Schlüssel in der Haustür.

Marga will nach den Sektgläsern greifen, will sie verstecken, irgendwo in der Küche will sie sie verstecken, sie fallen vom Tisch, der Sekt zischt. Wie Diamanten gleiten die Kristallstückchen glitzernd über die Küchenfliesen.

„Und wer sind Sie?“, die Frage steht im Raum. Eberhard sitzt vorn auf der Stuhlkante, den Oberkörper nach hinten gegen die Lehne geschoben. Ein Bein hat er lässig ausgestreckt, das andere hält ihn auf dem Stuhl. Langsam zieht er den Reißverschluss seines Parkas auf, schiebt ebenso langsam den Parka auseinander, während er unverwandt auf den Mann im Türrahmen der Küche starrt. Marga sieht, wie sein violettes Shirt unter dem Olivgrün des Parkas sichtbar wird, darauf die gelben Buchstaben, einer nach dem anderen, bis der Schriftzug lesbar ist. Der gelbe Schriftzug flirrt auf dem Violett. Alle tragen das Shirt mit der gelben Schrift. „Enteignet Springer!“ Sie kennt diesen Spruch.

„Für vier Stunden zwanzig Mark. Verlassen Sie jetzt mein Haus! Beide!“

Sie hätte erklären wollen, die Scherben auffegen, nachsehen, ob seine Schuhe Schmutz auf dem Teppich zurückgelassen hatten, die Fransen kämmen wollen.

Aber sie hebt ihre Bücher von den Fliesen auf und schiebt sie in die Mappe.

Der Mann lächelt, als er ihr den Geldschein entgegenhält.

Marga sucht etwas in diesem Lächeln.

AUTOMATISCH

Eberhard geht durch den Seitenausgang der Villa, der direkt in die Garage führt. Knopfdruck, das Garagentor öffnet. Automatisch. Ebenso das Gartentor.

Der Weg aus der Vorstadt ins Zentrum recht lang, die Freisprechanlage im Auto lässt ihn keine Zeit verlieren. Er greift zur Brusttasche seines Sakkos. Der Terminplaner ist da. Immer schon wollte er sich diesen Terminplaner abgewöhnen. Es gibt schließlich eine Handyfunktion. Aber für heute hat er alles im Kopf, wenige Positionen nur an diesem Tag. Mittags dann die Immobilie am Sonnwiek. Die Verhandlungen waren zäh, jetzt hat er eine überraschende Strategie. Die hat er sich während der Nacht überlegt. Vielleicht erfolgreich. Vorher noch zu Bang und Olufsen, den Bildschirm für das Heimkino bestellen. Wie viel Zoll? Plasma Panel. Pixel? Wo ist der Zettel, den der Sohn ihm auf den Schreibtisch gelegt hat? Er wird ihn anrufen wegen der genauen Angaben. Solche Dinge müssen einfach laufen, damit kann er sich nicht auch noch beschäftigen.

 

„Vergiss Bang und Olufsen nicht“, hatte seine Frau beim Einschlafen gesagt und ihm den Rücken zugedreht.

Im Büro dann die Erledigungen, Unterschriften, Telefonate, Tägliches. Und dann der Anruf. „Ein gewisser Manni am Telefon, er lässt sich nicht abwimmeln“, hat die Sekretärin gesagt und die Schultern gehoben. So hat er abgenommen. Seine Stimme erkennt er sofort. Manni, von damals. Das Haus an der Bergstraße, das weiße Laken im Fensterkreuz, die anderen. Verrauchte Räume, übermüdete Gesichter und schlagender Puls.

Die Verabredung ist schnell getroffen. Manni ist auf der Durchreise, die Zeit knapp. Die Kneipe an der Bergstraße gibt es nicht mehr, aber oben an der Kreuzung eine. Wegen der alten Zeiten oben an der Kreuzung, klar.

Eberhard zieht die Manschette seines Hemdärmels hoch. Eine halbe Stunde noch. Was essen kann er in der Kneipe, bis zum Immobiliengeschäft noch drei Stunden, das muss reichen. Bang und Olufsen fällt ihm ein, irgendwie muss das auch noch. Er will keinen Ärger haben, das Heimkino soll morgen eröffnet werden. Die Kinder haben Freunde eingeladen. Seiner Frau ist das wichtig. Irgendwie das auch noch.

Manni. Er schaut an sich herunter, ist irritiert. So nicht, nein, so geht das nicht. Die Krawatte, denkt er, öffnet den Knoten und legt sie über die Lehne des Schreibtischstuhls. Er wird sie morgen wieder neu binden. Zögern, dann legt er die Krawatte wohl gefaltet in seine Aktenmappe. Für die Verhandlungen im Sonnwiek wird er sie brauchen. Auch die dunkelblaue Hose, das Sakko. Eine halbe Stunde noch. Erinnerung an Holzlatschen, Lederwesten, Parkas. Alle olivgrün, die Parkas. Jetzt dunkles Blau. Das ist nicht zu ändern so kurzfristig. Aber die Krawatte, wenigstens die Krawatte weg.

Schlechte Parkmöglichkeiten in der Bergstraße, im Parkverbot stehen, das wird kosten, nicht zu ändern. Dann Manni, da ist er, immer noch Bart, immer noch Jeans.

„Mensch Manni!“

Manni steht auf, kommt auf ihn zu. Sie bleiben voreinander stehen, gehen etwas in die Knie, schlagen auf die Oberschenkel, richten sich wieder auf, Schlagen auf die Schultern. So war das, damals.

„Unter den Talaren ist der Muff von 1000 Jahren!“ Manni brüllt, lacht, schlägt sich noch einmal auf die Schenkel.

„Revolution statt Evolution“, Eberhard hat sich erinnert. Seine Stimme ist leiser als Mannis, aber es ist ihm eingefallen.

„Mensch Eberhard! Warte, warte!“ Mannis Handfläche schlägt gegen seine Stirn, als würde der Schlag seine Erinnerungen lockern.

„Wer zwei Mal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment!“

Eberhard spürt etwas, fein wahrgenommen hat er in sich einen kleinen, winzigkleinen Stich. Und er spürt den Zugzwang. Jetzt ist er an der Reihe, er muss mithalten.

Ein Spruch noch, wenigstens einer, und dann brüllt er: „Freie Liebe für alle!“, als wolle er diesen feinen Stich, den er eben noch gefühlt hat, mit hinausbrüllen, wegbrüllen.

Eberhard sieht Manni lachen, sieht, wie er sich abermals auf die Schenkel schlägt, den Finger schnipsend zum Ober hebt, „zwei Bier!“ ruft. Und Eberhard spürt, dass er den feinen Stich nicht hinausgebrüllt hat. Vielmehr hat sich ein Raum in ihm geöffnet, der den feinen Stich wuchern lässt, ausweitet zu einem dumpfen Schmerz.

Das Bier, er wird jetzt das Bier trinken, kühl wird es sein. Und das Gespräch beginnen, Kontrolle haben über das Gespräch und über sich.

Er hört sich sagen: „Mensch Manni, was machst du jetzt so, erzähl mal.“ Und er wird Mannis Geschichte hören und wegen des Immobiliengeschäfts auf die Zeit achten. Und Bang und Olufsen auch. Und er wird seine eigene Geschichte erzählen, selektiv natürlich, das versteht er. Und nur das eine Bier trinken, Pfefferminz ist im Auto.

Das Immobiliengeschäft lief gut, die Strategie war erfolgreich. Aber es hatte länger gedauert als erwartet. Bang und Olufsen hatte er am Abend telefonisch erledigt, schließlich kennt er den Geschäftsführer.

Eberhard steht im Badezimmer. Sie schläft schon, er hört ihren Atem. Das Geräusch der Zahnbürste, automatisch. In seiner Schlafanzugtasche ein Taschentuch. Er wirft es in die Toilette und spült. Dysfunktion, erektile Dysfunktion wegen Stress, war vor Jahren diagnostiziert worden. Er hört den Atem seiner Frau nebenan.

Und er blickt in den Badezimmerspiegel und in ein müdes Gesicht.

Seinen Puls spürt er nicht.