Geschichte der Sonderpädagogik

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Geschichte der Sonderpädagogik
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

utb 8362

Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage

Böhlau Verlag • Wien • Köln • Weimar

Verlag Barbara Budrich • Opladen • Toronto

facultas • Wien

Wilhelm Fink • Paderborn

Narr Francke Attempto Verlag • Tübingen

Haupt Verlag • Bern

Verlag Julius Klinkhardt • Bad Heilbrunn

Mohr Siebeck • Tübingen

Ernst Reinhardt Verlag • München

Ferdinand Schöningh • Paderborn

Eugen Ulmer Verlag • Stuttgart

UVK Verlag • München

Vandenhoeck & Ruprecht • Göttingen

Waxmann • Münster • New York

wbv Publikation • Bielefeld


Prof. i. R. Dr. Sieglind Luise Ellger-Rüttgardt, lehrte an der Humboldt Universität zu Berlin.

Cover: (obere Reihe von links nach rechts): Johann Heinrich Pestalozzi, Betty Hirsch, Samuel Gridley Howe , Edouard Séguin, (untere Reiche von links nach rechts): Samuel Heinicke, Abbé de L’Epée, Anne Sullivan, Johann Amos Comenius

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

UTB-Band-Nr.: 8362

ISBN 978-3-8252-8765-8

2., aktualisierte Auflage

© 2019 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in EU

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Satz: JÖRG KALIES – Satz, Layout, Grafik & Druck, Unterumbach

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de

Inhalt

Hinweise zur Benutzung dieses Lehrbuches

Vorwort zur 2. Auflage

1 Einleitung

2 Pädagogik der Aufklärung: Das späte 18. Jahrhundert

2.1 Die Idee der Bildsamkeit behinderter Menschen

2.2 Die ersten Institutionen

Paris

2.2.1 Die Taubstummenanstalt

2.2.2 Die Blindenanstalt

Wien

2.2.3 Das Taubstummen-Institut

Leipzig

2.2.4 Die Taubstummenanstalt

2.3 Die Erfindung neuer Methoden

3 Bildung und bürgerliche Gesellschaft: Das 19. Jahrhundert (bis etwa 1860)

3.1 Die preußische Reformära und die Bildung behinderter Menschen

3.2 Die Berliner Institute für Gehörlose und Blinde

3.3 Bildung und Erziehung geistig behinderter Menschen

3.4 Weitere Ausdifferenzierungen: Rettungshausbewegung und Erziehungsanstalten für krüppelhafte Kinder

3.5 Versuch einer institutionellen Absicherung des Bildungsanspruches: Die „Verallgemeinerungsbewegung“

3.6 Zwischenbilanz

4 Industrialisierung und soziale Ungleichheit: Das Wilhelminische Kaiserreich (1871–1918)

4.1 Heilpädagogik zwischen Biologie, Ökonomie und Pädagogik

4.2 Ausdifferenzierung und Weiterentwicklung sonderpädagogischer Bildungsinstitutionen

4.3 Entstehung und Ausbau der Hilfsschule

4.4 Kritik an der Hilfsschule

4.5 Ein Blick zum Nachbarn: Die Debatte um lernschwache Schüler in Frankreic

4.6 Professionalisierung der Sonderpädagogen und Interessenvertretung behinderter Menschen

5 Demokratischer Aufbruch und „Blüte der Heilpädagogik“: Die Weimarer Republik (1918–1933)

5.1 Heilpädagogik und Allgemeine Pädagogik

5.2 Heilpädagogik und Reformpädagogik

5.3 Erneutes Streben nach Internationalität

5.4 Jüdische Heilpädagogik und Wohlfahrtspflege

5.5 Frauen in der Sonderpädagogik

6 Rassenpolitik und gesellschaftliche Ausgrenzung: Das „Dritte Reich“ (1933–1945)

6.1 Ideologische Grundlagen

6.2 Zur Praxis der NS-Behindertenpolitik

6.3 Hilfsschule im „Dritten Reich“

6.4 Zur Rolle der Sonderpädagogen

6.5 Menschen mit Behinderung im Nationalsozialismus

7 Traumatisierung und Neuanfang: Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg (1945–1989)

7.1 Keine „Stunde Null“

7.2 Restauration, Wiederaufbau und Reform der Sonderpädagogik in der Bundesrepublik Deutschland

7.3 Sonder- und Rehabilitationspädagogik in der sowjetisch besetzten Zone und in der DDR

7.4 Vergleichende Perspektiven und Desiderata

8 Ausblick: Erfolge, Niederlagen, Gefährdungen

Anhang

Anmerkungen

Literatur

1 Quellen

2 Darstellungen

Bildquellennachweis

Verzeichnis der Abkürzungen

Verzeichnis der Archive

Zeittafel

Namenregister

Hinweise zur Benutzung dieses Lehrbuches

Zur schnelleren Orientierung werden in den Randspalten Piktogramme benutzt, die folgende Bedeutung haben:

Begriffserklärung, Definition

Pro und Contra, Kritik

 

Beispiel

„Was in den Rahmen der Normalität, den die Anlage, die Sitte, das Vorurteil und das Urtheil gebildet haben, nicht hineinpasst, wird von der Gesellschaft überall, wenigstens bis zu einem gewissen Grade, ausgeschlossen, bei Seite geschoben, verdeckt. Ebenso verfahren die Erziehung und die Heilpraxis, welche an sich die Aufgabe haben, die Abnormitäten und Deformitäten, die sich vorfinden, so weit es möglich ist, zu überwinden und die Normalität herzustellen.“

Jan Daniel Georgens/Heinrich Marianus Deinhardt: „Die Heilpädagogik mit besonderer Berücksichtigung der Idiotie und der Idiotenanstalten“. Erster Band. Leipzig 1861, 301

Vorwort zur 2. Auflage

Eine Einführung in die Geschichte der Sonderpädagogik ist ein schwieriges Unterfangen, denn es lauern viele Gefahren. Der Leser und die Leserin könnten beispielsweise durch den Titel verführt werden anzunehmen, sie würden das Wichtigste aus der Geschichte erfahren, Geschichte sei gewissermaßen etwas Abgeschlossenes, Überschaubares, das sich mühelos aufrufen und berichten ließe. Aber weit gefehlt! Es gibt nicht die Geschichte, sondern wir können immer nur Ausschnitte vergangener Wirklichkeit in unser Gedächtnis zurückholen und wir vermögen Vergangenheit nicht objektiv nachzuzeichnen, sondern nur unter dem Aspekt gegenwärtiger Bedeutsamkeit auszuwählen – insofern gibt es keine objektive Geschichte.

Als die 1. Auflage dieses Buches 2008 erschien, hatte Deutschland gerade ein Jahr zuvor die Behindertenrechtskonvention ratifiziert. Dieser Zeitraum von gut einem Jahrzehnt ist im Hinblick auf eine mehr als 250- jährige Geschichte der Sonderpädagogik wenig relevant, sehr wohl aber im Hinblick auf die Perspektive, aus der wir Geschichte betrachten. Inklusion und Exklusion sind die großen Leitkategorien der Gegenwart, die die Debatte um Selbstbestimmung und Teilhabe von Menschen mit Behinderung seitdem bestimmen, und sie bleiben nicht ohne Wirkung auf unsere historische Betrachtungsweise.

Geschichte ist sehr wohl eine Wissenschaft, sie folgt empirisch-hermeneutischen Verfahren, sie muss ihr Erkenntnisinteresse offenlegen und genaue Quellenkritik betreiben. Einführungen wollen gerne die wesentlichen, sicheren Tatbestände einer Disziplin vermitteln – ein Vorgehen, das für eine Einführung in die Geschichte so nicht leistbar ist, denn sie kann nicht anders verfahren, als begründet auszuwählen. Was könnte demnach eine Einführung in die Geschichte der Sonderpädagogik leisten? Ich meine, sie sollte

➥ Verständnis anbahnen für historisches Denken,

➥ Kenntnisse vermitteln im Hinblick auf Fragen und Probleme, die in der Vergangenheit diskutiert wurden und die noch heute Relevanz besitzen,

➥ das Bedürfnis nach historischer Orientierung befriedigen und schließlich

➥ die Fähigkeit erzeugen, historische Entwicklungen zu erkennen und zu verstehen.

Das Buch möchte ein Gefühl für historisch Gewachsenes, für lange Linien vermitteln, die die Erkenntnis anbahnen, dass keine Epoche ohne ihre Vorgänger verstehbar ist und dass alle historisch überlieferten Tatbestände nur in ihrem größeren Kontext einzuordnen und zu verstehen sind – stets eingedenk der Erkenntnis, dass wir es sehr oft mit Ambivalenzen, Uneindeutigkeiten zu tun haben, die zu benennen, aber nicht „wegzuinterpretieren“ sind.

Sollte es gelingen, bei Studierenden und anderen neugierigen Menschen das Interesse für historische Phänomene in der Sonderpädagogik zu wecken, das Verständnis für geschichtliche Zusammenhänge anzubahnen und ein kritisches Bewusstsein hinsichtlich der Bedeutung von Historie für Entwicklungen und Probleme der Gegenwart zu schärfen, so wäre das Ziel dieser Einführung erreicht.

Ich konnte nicht im gleichen Maße die Geschichte aller sonderpädagogischen Fachrichtungen berücksichtigen, auch hier galt es auszuwählen. Ich entschied mich für die frühen, zentralen Fachgebiete der Heilpädagogik, die Schwerpunkte Hören, Sehen, geistige Entwicklung und aufgrund ihrer besonderen Ausprägung in Deutschland sowie ihres quantitativen Gewichts für die „Hilfsschule“.

Mein Dank gilt der Deutschen Forschungsgemeinschaft: Sie hat das Projekt „Bildsamkeit und Behinderung. Die Erweiterung der Idee und Praxis der Bildsamkeit durch die ‚Entdeckung‘ der Bildbarkeit Behinderter“ im Rahmen des DFG-Schwerpunktprogramms „Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit – Ansätze zu einer neuen ‚Geistesgeschichte‘“ über einen Zeitraum von sechs Jahren in großzügiger Weise gefördert.

Für Anregungen, fruchtbare Gespräche, Unterstützung sowie kritische Rückmeldungen zur ersten Auflage danke ich: Lydia Abel, Ewald Bachmann, Thomas Barow, Ulrich Bleidick, Dietrich Ellger, Dietfried Gewalt, Dieter Gröschke, Gerhard Heese, Tobias Hensel, Ulrich Heimlich, Heribert Jussen, Gustav O. Kanter, Ferdinand Klein, Dominique Lerch, Andreas Möckel, Vera Moser, Christian Mürner, Christian Ritzi, Hanno Schmitt, Svetluse Solarová, Otto Speck, Christian Stöger, Norbert Störmer, Heinz-Elmar Tenorth, Monique Vial, Joachim Winkler.

Hamburg und Berlin, im Sommer 2019

Sieglind Luise Ellger-Rüttgardt

1 Einleitung

„Wissenschaft ist etwas noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes.“ (Wilhelm von Humboldt, 1767–1835)

„Der Verfolg der Wissenschaft scheint mir… besondere Tapferkeit zu erheischen. Sie handelt mit Wissen, gewonnen durch Zweifel… Ich halte dafür, daß das einzige Ziel der Wissenschaft darin besteht, die Mühseligkeit der menschlichen Existenz zu erleichtern.“

(Bertolt Brecht 2018, 124f)

Geschichte als Wissenschaft

Der Ausspruch Wilhelm von Humboldts, dem Gründer der Berliner Universität, findet sich auf einer Tafel im oberen Foyer der Humboldt-Universität zu Berlin. Er repräsentiert ein Wissenschaftsverständnis der Geistes- und Sozialwissenschaften, das ungeachtet allen Strebens nach verallgemeinerungsfähiger Erkenntnis von der Überzeugung der grundsätzlichen Begrenztheit wissenschaftlicher Forschung und Erkenntnis geprägt ist. Diese Aussage gilt in hohem Maße für die Geschichte, denn sie lässt sich, so lehrt die Erfahrung, besonders leicht in den Dienst politisch-ideologischer Zwecke nehmen. Der reflektierte, kritische Umgang mit Geschichte lehrt eine wissenschaftliche Haltung, die sich an der Begrenztheit wissenschaftlicher Erkenntnis orientiert und geprägt ist von Neugier, Skepsis, Vorsicht und Differenziertheit.


Jeder Historiker weiß, dass der Fund nur einer einzigen neuen Quelle, d. h. eines Bruchteils vergangener Wirklichkeit, ein ganzes historisches Theoriegebäude einstürzen lassen kann. Der Versuch, Vergangenes darzustellen und zu interpretieren, kann demnach niemals abgeschlossen sein, da neue Quellen auftauchen können oder aber die Perspektive der Fragenden sich verändert. Die Anerkennung, dass es die Rekonstruktion einer vermeintlich objektiv vorgegebenen Geschichte nicht geben kann, verweist auf die Standortgebundenheit und Perspektivität jeder historischen Betrachtung. Die Notwendigkeit, historische Phänomene zu verstehen und zu interpretieren und damit in den jeweiligen historischen Kontext angemessen einzubetten, begegnet uns auch in der Sonderpädagogik stets aufs Neue. Lassen Sie mich zur Veranschaulichung zwei Beispiele anführen:


In der Zeitschrift für Heilpädagogik von 1982 findet sich im Heft 8 unter der Rubrik: „Historische Rückschau: Sonderpädagogik 1937“ der Abdruck eines Beitrages mit dem Titel: „Arbeit der blinden Hitlerjungen“, der in der Zeitschrift „Der Hitlerjunge“ von 1937 erschienen war. Die Redaktion der Zeitschrift für Heilpädagogik schrieb dazu einleitend:

„Der nachfolgende Bericht eines Hitlerjugend-Führers, der als hochgradig Sehbehinderter eine Blindenschule besuchte, erschien am 16. Oktober 1937 […] Die 45 Jahre alte Darstellung der Arbeit der blinden Hitlerjungen aus der Feder eines Betroffenen legt eindringlich Zeugnis ab von den speziellen Problemen einer Behindertengruppe während des nationalsozialistischen Regimes. Das seltene aufschlußreiche Dokument wurde der Zeitschrift für Heilpädagogik von der Museumsbücherei der Blindenschule in Berlin-Steglitz zur Verfügung gestellt […]“ (Forum „Sonderpädagogischer Alltag“, XXIII)

Der Abdruck dieses Beitrages erfuhr Kritik. So war die Rede von

„jener völligen Geschmacklosigkeit der Zeitschrift für Heilpädagogik […] wo als erstes Dokument aus der Nazizeit (nach immerhin 37 Jahren!) ausgerechnet eine Selbstbeweihräucherung der doch noch möglichen Arbeit von Blinden in der Hitlerjugend abgedruckt wird“ (Zeitschrift für Heilpädagogik, Heft 6, 1983, Nr. 34, IX).

Die Zeitschriftenredaktion bemerkte dazu:

„Offensichtlich ist der Kritiker nicht in der Lage, sich von überwertigen Projektionen freizuhalten. Für Schriftleitung und Vorstand des Verbandes jedenfalls muß nicht ständig deklamiert werden, daß sie sich auch 50 Jahre nach der ‚Machtergreifung‘ der Nationalsozialisten vom Sozialdarwinismus und von den verbrecherischen Maßnahmen der Eugenik und Euthanasie distanzieren […] Was den mitunter geäußerten Vorwurf angeht, die historische Aufarbeitung der Nazizeit wurde versäumt, so muß gefragt werden, warum die allseitigen Kritiker nicht das zuliefern, was sie selbst vermissen.“ (1983, IX)

Dieser Vorgang zeigt, dass mit dem Abdruck dieses Beitrages des blinden HJ-Jungen Paul Werner – ob nun geschickt oder nicht – ein neuralgischer Punkt im Selbstverständnis der Disziplin getroffen worden war, und zugleich macht er auf die Vernachlässigung von Geschichte in der Sonderpädagogik aufmerksam.

Das zweite Beispiel: Im Januar 1997 schrieb mir eine Frankfurter Sonderschullehrerin einen Brief und bat mich um fachlichen Rat hinsichtlich der Bewertung der geschichtlichen Vergangenheit des Namenspatrons ihrer Schule, des ehemaligen Frankfurter Stadtschulrats August Henze. Auch Henze war aufgrund seiner NS-Vergangenheit in die Kritik geraten. Ausgelöst wurde diesmal der Vorgang vom Landesverband des Verbandes Deutscher Sonderschulen in Hessen, der sich im Februar 1996 an das Kollegium der August-Henze-Schule gewandt hatte und darin u. a. schrieb:

„Über Gustav Lesemann und August Henze hörte man – wenn überhaupt – lange Zeit nur Positives. Seit die Geschichte des Hilfsschulwesens etwas näher und kritischer erforscht wird, erfährt das strahlende Bild deutlich braune Flecken […] Allerdings steht Lesemann mit seiner vehementen Unterstützung des NS-Eugenik-Programms im VdHD [Verband der Hilfsschulen Deutschlands, gegründet 1898; E.-R.] nicht alleine. Sein Freund und langjähriger Weggefährte August Henze hat sich ebenso unmißverständlich und schon vor 1933 für die Zwangssterilisierung der ‚Minderwertigen‘ und ‚Schwachsinnigen‘ ausgesprochen.“ (Vds-Landesverband Hessen 1996)

Die seit 1996 heftig geführte Debatte endete schließlich im Februar 1998 mit der Aufhebung des Namens August Henze für die Sprachheilschule in Frankfurt a. M.

historisches Interesse

Immer, wenn in der Gegenwart etwas fragwürdig, brüchig wird, stellt sich die Frage nach dem Warum, Woher – und damit nach Geschichte. Nicht zufällig nimmt seit dem Fall der Mauer jene Zahl von Büchern zu, die sich mit der deutschen Frage und damit der deutschen Geschichte befassen. Ein neu erwachendes historisches Interesse ist auch in der Heil- und Sonderpädagogik seit einiger Zeit erkennbar, und dieses wird verständlich vor dem Hintergrund einer allgemeinen Verunsicherung des Selbstverständnisses der deutschen Heil-, Sonder- oder Behindertenpädagogik.

Selbstverständnis Sonderpädagogik

Einstmals mit tonangebend in der Welt und damit Vorbild für viele andere Länder, befindet sich diese Spezialdisziplin der Pädagogik seit den 70er Jahren in einer zunehmenden Identitätskrise. Sie muss sich damit auseinandersetzen, dass in einer Vielzahl westlicher demokratischer Staaten das sozialpolitische und pädagogische Hilfe- und Fördersystem für Menschen mit Behinderung eine andere Richtung eingeschlagen hat als in Deutschland. Weg von der „Besonderung“ und Separierung hin zur „Normalisierung“ der Lebensverhältnisse von Menschen mit Behinderungen – so lässt sich diese Richtung schlagwortartig beschreiben.

 

Das Ziel ist stets überall identisch, nämlich ein Höchstmaß an gesellschaftlicher Eingliederung zu erreichen – unterschiedlich sind allerdings die Wege dorthin: Während man in Deutschland, dem deutschsprachigen Raum und in Holland in der Vergangenheit auf ein hochspezialisiertes System von Sondereinrichtungen setzte, ging man in den skandinavischen und angelsächsischen, später auch den romanischen Ländern mehr und mehr den Weg der stärkeren Einbeziehung sonderpädagogischer Förderung in das allgemeine Schulwesen, bekannt unter dem Stichwort der Integration bzw. der Inklusion.

historische Hypothek

Als besondere Belastung erweist sich für die deutsche Diskussion, dass das System der „Behindertenhilfe“ und seine Akteure im „Dritten Reich“ in großen Teilen versagt haben, dass es eine jüngste historische Epoche in Deutschland gegeben hat, in der – entgegen allen traditionellen humanistischen Ansprüchen – Menschen mit Behinderungen in ihrer Existenz bedroht waren. Diese Hypothek war lange Zeit verdrängt – nicht zuletzt auch in der DDR. Und somit wirft die wiedergewonnene deutsche Einheit auch in der „Behindertenpädagogik“ die Frage nach der Geschichte neu auf. Gerade im Hinblick auf eine Neuformulierung behindertenpädagogischen Selbstverständnisses wird man nicht daran vorbeikommen, sich auch kritisch mit jenem deutschen Teilstaat auseinanderzusetzen, der von seinem Anspruch her als ein Anwalt von Menschen mit Schädigungen – so der Terminus – auftrat.

Geschichtliches Interesse in der Sonderpädagogik ist auch nicht verstehbar ohne eine Berücksichtigung des Wandels des Selbstverständnisses von Geschichte allgemein und von Erziehungsgeschichte im Besonderen. Geschichte ist nicht mehr wie zur Zeit des Historismus im 19. Jahrhundert vorrangig eine Geschichte der Haupt- und Staatsaktionen (also politische Geschichte, Geschichte der großen Männer), sondern sie versteht sich zunehmend als kritische Sozialwissenschaft und damit als ein Instrument der Aufklärung und Deutung von Vergangenheit und Gegenwart.

„In Wahrheit hat es der Historiker nicht mit der Vergangenheit zu tun, sondern immer nur mit ihrer Interpretation […] Es gibt keine Wirklichkeit ohne ihre Repräsentation […] Historiker sind Anthropologen des Vergangenen. Sie versuchen, jenen Menschen, die in den Texten der Vergangenheit zu uns sprechen, eine Stimme zu verleihen und sie zu verstehen.“ (Baberowski 2005, 22)

Selbstverständnis Geschichte

Geschichte wird also nicht mehr als „objektive“ Wissenschaft verstanden, die erzählt, wie es „wirklich“ war. Mit Blick auf Foucaults historischen Ansatz schreibt U. Brieler, dass historische Praxis nichts anderes sein kann „als Interpretation in und an der Gegenwart unter einer aktuellen Fragestellung“ (1998, 280).Geschichte, so allgemeiner Konsens, ist stets standortgebunden und nimmt ihren Ausgang von relevanten Fragen der Gegenwart. Daraus folgt, dass jede historische Forschung ihr erkenntnisleitendes Interesse offenlegen muss. Eine um Aufklärung bemühte Geschichtsschreibung ist unvereinbar mit den Positionen einer dogmatischen materialistischen Geschichtsauffassung, aber ebenso mit einer vermeintlich wertfreien, narrativen (erzählenden) Ideengeschichte. Gefragt ist vielmehr eine pluralistische, kritische Geschichtsschreibung, die unterschiedliche methodische Zugangsweisen integriert und die daher Momente von Kultur- und Alltags-, von Sozial-, Institutionen- und Ideengeschichte als prinzipiell gleichberechtigt anerkennt (Eibach/Lottes 2002; Tenorth 2008). Geschichtliches Verständnis soll schließlich dazu beitragen, den professionellen Pädagogen eine Orientierung in der Gegenwart zu ermöglichen:

„Geschichte der Pädagogik, das ist […] immer auch der Versuch, an der Erziehungswirklichkeit der Vergangenheit Herkunft und Möglichkeiten der Pädagogik in der Gegenwart zu analysieren und den professionellen Pädagogen eine Tradition zu eröffnen, in der er eine zukunftsfähige berufliche Identität gewinnen kann.“ (Tenorth 2008, 7)

Der Sinn von Geschichte – so können wir zusammenfassen – zielt auf das handlungsfähige Subjekt, das seine Identität in Gegenwart und Zukunft durch die Begegnung mit dem Vergangenen erfährt. Die Beschäftigung mit der Geschichte nimmt stets ihren Ausgang von Problemen der Gegenwart, sie hilft, gegenwärtige Phänomene besser zu verstehen, und sie eröffnet Perspektiven für gesellschaftliches Handeln (Ellger-Rüttgardt 2010; 2016).


Wenn wir in der Gegenwart von Sonderpädagogik sprechen, dann verstehen wir darunter einen Oberbegriff für die verschiedenen sonderpädagogischen Einzeldisziplinen. Es wird deutlich werden, dass dieses Verständnis bereits Ergebnis eines historischen Prozesses ist, denn am Anfang der Entwicklung vor mehr als 250 Jahren gab es zunächst nur eine Pädagogik der Taubstummen, der Blinden und später auch der „Geistesschwachen“, aber keine ordnende, übergreifende Begrifflichkeit – diese erfolgte zum ersten Mal im 19. Jahrhundert mit dem zweibändigen Werk „Die Heilpädagogik“ von Heinrich Marianus Deinhardt, dessen erster Band 1861 erschien und der sich schwerpunktmäßig der „Idiotie“ und den „Idiotenanstalten“ widmete, gleichwohl aber das Gesamtgebiet der Heilpädagogik im Auge hatte. „Heilpädagogik“ als Oberbegriff wird wenig später von dem Taubstummen- und „Schwachsinnigenpädagogen“ Heinrich Ernst Stötzner in seiner Schrift „Altes und Neues aus dem Gebiete der Heilpädagogik“ von 1868 unter Berufung auf das Werk von Deinhardt aufgegriffen, indem er den Gegenstand dieses „neuen Zweiges der Pädagogik“ wie folgt umschreibt:

„In ihren Bereich gehören die Viersinnigen, die sittlich Verwahrlosten, die Blöd- und Schwachsinnigen, die Cretinen, die Stotterer, die körperlich gebrechlichen Kinder; Letztere, so weit dadurch die geistige Entwicklung gehemmt wird. Im weitesten Sinn wird alle Pädagogik zur Heilpädagogik, sobald es gilt, falsch ausgebildeten Willens- und Gemüthsrichtungen im Kinde entgegenzutreten.“ (Stötzner 1868, 2)

Die Geschichte der Heil- und Sonderpädagogik war bislang primär eine Geschichte der jeweiligen sonderpädagogischen Disziplinen und das von Svetluse Solarová 1983 herausgegebene Werk „Geschichte der Sonderpädagogik“ spiegelt genau dieses Vorgehen wider, indem es jeweils einzelne Abhandlungen zu den jeweiligen sonderpädagogischen Fachrichtungen aufweist.

Die von Andreas Möckel 1988 vorgelegte und 2007 überarbeitete „Geschichte der Heilpädagogik“ repräsentiert die erste übergreifende Darstellung des Gegenstandes Heilpädagogik. Dabei ist von besonderer Bedeutung, dass Möckel die Geschichte der Heilpädagogik im Referenzsystem von Pädagogik schlechthin thematisiert, denn er postuliert, dass „die Ursprünge der Heilpädagogik [uns] pädagogische Ursprünge [sind]“ (Möckel 2007, 23f). Indem Möckel allerdings seinen Blick auf das Scheitern in der Erziehung richtet, Versagen als zentrale Fragestellung wählt, ferner sein Augenmerk vor allem auf die Entstehung und Entwicklung „der ersten, bahnbrechenden Institutionen“ (Möckel 2007, 26) für Schüler mit Behinderung lenkt und schließlich Heilpädagogik eher als Gegenentwurf (so gegen Rousseau), nicht jedoch als komplementäres oder gar einheitsstiftendes Element der Allgemeinen Pädagogik ansieht, verharrt er letztlich, so scheint uns, notwendigerweise in einem eingeschränkten behindertenpädagogischen Referenzsystem.

Universalität von Bildung

Unser Blick auf die Geschichte der Sonderpädagogik möchte einen anderen Weg einschlagen, indem er die Blickrichtung wechselt. Ausgangspunkt unserer Darstellung soll nicht das bereits als Ergebnis historischer Prozesse generierte Besondere der Pädagogik sein, sondern das Allgemeine, der Universalitätsanspruch auf Bildung für alle.

Ambivalenzen moderner Pädagogik

Die Pädagogik der Moderne (vgl. Herrmann 2005; Tenorth 2006a) ist gekennzeichnet durch Ambivalenzen und Widersprüche, die sich am zentralen Begriff der Bildsamkeit aufzeigen lassen. Bildsamkeit als der zentrale Begriff der Pädagogik „zur Bezeichnung der Erziehbarkeit und Selbstbestimmungsfähigkeit des Menschen“ (Benner/Brüggen 2004, 174) schließt als Idee und aus anthropologischer Sicht alle Personen ein, also auch Menschen mit einer Behinderung, sie gilt demnach universell. In ihrer praktischen Wirksamkeit – und darin liegt zugleich ihr paradoxaler Charakter – führt diese Idee der Bildsamkeit zu Besonderheiten, zur Partikularität, sei es durch spezifische Methoden, besondere Bildungsorganisationen oder aber eigene Professionsgruppen.

„In der subtilen Identifikation von Problemen wird die Partikularisierung verschärft und die Differenz und Separierung der Klientel erzeugt, die der an Gleichheit von Bildung und Bildsamkeit orientierte Diskurs an sich verbietet.“ (Tenorth 2006a, 498)

In ähnlicher Weise, unter Rekurs auf Störungen der Bildsamkeit, schrieb U. Bleidick 1978:

„Die Idee der Allgemeinen Pädagogik stammt von Herbart. Er hat ihr im Grundbegriff der Bildsamkeit des Zöglings […] das begriffliche Fundament gewiesen. Wenn nun Pädagogik über diese allgemeinen Aussagen hinausgeht, nach den einzelnen speziellen Inhalten der Bildung in den sprachlichen, religiösen, technischen Disziplinen, nach ihren institutionellen Formen in Familie, Schule, Kirche und Staat, nach Erziehungsformen, Bedingungen der Bildsamkeit usw. fragt, fächert sie sich in eine differenzielle Pädagogik besonderer Bereiche auf.“ (Bleidick 1978, 52f) Bildsamkeit von Menschen mit Behinderung

Bildsamkeit von Menschen mit Behinderung

Dieses Phänomen der Ambivalenz und Widersprüchlichkeit ist – und das sei hier besonders betont – konstitutiv für den Charakter der Pädagogik seit ihrem Entstehen als Disziplin im 18. Jahrhundert. Die vorliegende Einführung in das pädagogische Spezialgebiet Sonderpädagogik unternimmt demzufolge den Versuch, die Idee der Bildsamkeit im Hinblick auf den Personenkreis behinderter Kinder und Jugendlicher unter dem Aspekt der Gleichzeitigkeit von Universalität und Partikularität zu untersuchen. Dabei ist das Ziel, sowohl die Idee selbst in ihrer Variabilität als auch die Referenzräume von Methoden, Institutionen und Profession zu analysieren.

historische Grundfragen

Es sind die in Tabelle 1.1 aufgeführten Grundfragen, die wie ein roter Faden die einzelnen Kapitel durchlaufen, aber in jeweils unterschiedlicher Akzentuierung zum Tragen kommen werden. Ich wähle also als Ausgangspunkt meiner Darstellung nicht die besonderen Problemlagen oder Institutionen, sondern orientiere mich in der historischen Frage nach einer Pädagogik behinderter Kinder und Jugendlicher an der für jede Pädagogik zentralen Kategorie der Bildsamkeit. Damit erteile ich allen Versuchen eine Absage, Fragestellungen und Antworten einer Geschichte der Heil- bzw. Sonderpädagogik ermitteln zu wollen, die nur für die Heil- bzw. Sonderpädagogik gelten.

Tab 1.1: Historische Grundfragen


− Warum werden behinderte Kinder und Jugendliche gebildet und erzogen? Die Frage nach den Ideen.
− Wer ist gemeint? Die Frage nach dem Personenkreis.
− Wie sollen Bildung und Erziehung geschehen? Die Frage nach den Methoden.
− Wo soll es geschehen? Die Frage nach den Institutionen.
− Wer soll das leisten? Die Frage nach der Profession.
− Wie artikulieren sich die Subjekte? Die Frage nach der Selbstvertretung behinderter Menschen.

Differenz und Differenzierung

Ungeachtet des verbindlichen, universalen, gemeinsamen Bezugspunktes von Bildsamkeit geht es in der Sonderpädagogik mit Blick auf Partikularität allerdings sehr wohl um Differenz und Differenzierungsprozesse. Die bereits bei Arno Fuchs 1928 anzutreffende Unterscheidung in ältere und jüngere Sonderschulen, die sich bei Andreas Möckel in seiner Geschichte der Heilpädagogik (1988; 2007) wiederfindet, ist ein bedeutsamer Hinweis auf das Phänomen der Differenzierung bzw. Ausdifferenzierung, das auch von U. Hofer als zentral herausgestellt wurde. Sie schreibt: „Die historische Konsolidierung des Fachgebiets Sonderpädagogik zeigt sich als Akt zunehmender Ausdifferenzierung und Spezialisierung der Bemühungen um menschliche Bildbarkeit“ (Hofer 2004, 887). Dabei wird das Phänomen der Differenzierung nicht nur auf die Institutionen bezogen, sondern auch untersucht im Hinblick auf Methode, Anthropologie, Klassifikation, Bildungsziele und Normen.