Vom Kriminellen zum Kriminalisten

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Vom Kriminellen zum Kriminalisten
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Siegfried Schwarz

Vom

Kriminellen

zum

Kriminalisten

Mein Leben als Mordermittler

bei der Deutschen Volkspolizei

edition berolina

ISBN 978-3-95841-116-6

1. Auflage

© 2021 by BEBUG mbH / edition berolina, Berlin

Umschlaggestaltung: fuxbux, Berlin

Umschlagabbildung: Privatarchiv des Autors

Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck

edition berolina

Axel-Springer-Straße 52

10969 Berlin

Tel. 030 / 206 109 – 0

www.buchredaktion.de

Vorbemerkungen

Nach dem Erscheinen meines Buches Mord nach Mittag im Jahr 2011 machte der mit mir eng befreundete österreichische Bariton Johannes Sterkel den Vorschlag, mit ihm und dem Schauspieler Jürgen Zartmann Lesereisen in die fünf ostdeutschen Bundesländer zu unternehmen. Sowohl mit Mord nach Mittag als auch dem Buch Makronenmord, das 2017 erschien, haben wir zu dritt eine Vielzahl von Lesungen vor zum Teil ausverkauften Häusern veranstaltet – zuletzt im Januar 2018 in Dresden im Zirkus Sarrasani vor mehr als vierhundert interessierten Leserinnen und Lesern.

Es waren illustre Abende: Unterhaltsam anmoderiert von Herrn Sterkel, las Herr Zartmann mit seinem schauspielerischen Können aus dem Buch vor. Nach einer Pause interviewte Herr Sterkel stets mehr als eine Stunde den fiktiven Kommissar Zartmann zu »seinen Fällen« und mich als den echten Kommissar. Den mit viel Beifall bedachten Veranstaltungen folgte beim Verkauf und Signieren der Bücher häufig die Frage: »Herr Schwarz, wann gibt’s das nächste Buch?«

In beiden Büchern hatte ich die einzelnen authentischen Tötungsdelikte detailliert beschrieben – ohne die Facetten meines Lebens zu beleuchten. Doch getragen mit dem Gedanken einer Autobiografie hatte ich mich schon seit geraumer Zeit.

1991: Ein Pfarrer aus dem Saalkreis wurde nach der Wende Dezernent im Landratsamt Saalkreis. Weil trotz der politischen Änderung vieles beim Alten blieb, bat ich um einen Termin. Ich erzählte dem Pfarrer meine Lebensgeschichte und alles, was mit der Jagd und dem Rat des Kreises Saalkreis in Verbindung stand. Meine Schilderungen riefen wiederholt Empörung bei meinem Gesprächspartner hervor. Er hörte mir lange zu und bat um die Übergabe meiner gesammelten Beweise und Schriftstücke. Ich zögerte erst. Diese Schriftstücke wollte ich nicht so einfach aus der Hand geben. Schließlich übergab ich ihm die gesamte Akte per Handschlag. Ich sollte ihm für das Studium der Akten drei Wochen Zeit lassen. Während das erste Gespräch bei Kaffee und offenen Ohres geführt worden war, verlief mein zweiter Besuch bei ihm kurz und trocken. Mir wurde kaum ein Stuhl angeboten. Der Dezernent erklärte mir knapp: »Herr Schwarz, am besten, Sie vergessen alles oder Sie schreiben ein Buch darüber.«

Dieses Buch liegt Ihnen, geneigte Leserinnen und Leser, jetzt vor.

Für mehr als ein Jahrzehnt Unterstützung, also vom Kennenlernen bis ins Jahr 2021, gilt mein besonderer Dank meiner Freundin Antje Penk, Kemberg, für ihre Mitarbeit auch an diesem Buch. Dank gebührt zudem meinem Sohn Jens Schwarz, Aschersleben, meinem Bruder Hubertus Schwarz, Merseburg, Ebs Schäfer, Halle (Saale), und Christian Schmidt, Baasdorf.

Siegfried Schwarz

Wettin-Löbejün, im Frühjahr 2021

I

Montag, 1. April 1935 · Vater, Mutter und Oma Emma · Die Russen – meine ersten Begegnungen · Aussiedlung oder besser gesagt: Vertreibung · Vater kehrt heim!

Montag, 1. April 1935. Gegen Mittag erblickte ich nach einer Hausgeburt, wie damals üblich, das Licht der Welt als Sohn der zweiundzwanzigjährigen Martha und dem drei Jahre älteren Bruno. Beide waren Landarbeiter auf dem größten Hof im Dreihundert-Seelen-Dorf Klemmerwitz im preußischen Landkreis Liegnitz in Schlesien. Neben der Hebamme und Oma Emma, meine Großmutter mütterlicherseits, gab es keine Zuschauer während des Geburtsvorgangs. Vater Bruno war auf der Arbeit gewesen und kam wie üblich pfeifend zum Mittagessen. »Du kommst hier getrommelt und gepfiffen, und hier ist gerade ein strammer Junge zur Welt gekommen! Der wär bald gestorben, weil ihm die Nabelschnur um die Gurgel gewickelt war«, begrüßte ihn Oma Emma.

Nach dem Wochenbett musste meine junge Mutter wieder ihrer Arbeit nachgehen. Nun war es Oma Emma, welche sich um mich Winzling sowie meinen fünf Jahre älteren Bruder Waldemar kümmerte. Sowohl bei der Getreide- als auch bei der Hackfruchternte wurden die Kinder der Landarbeiter, die noch nicht schulpflichtig waren, mit aufs Feld genommen. Die Kleinsten im sogenannten Landauer, einem kleinen vierrädrigen Korbwagen mit Deichsel.

Bis zum Sommer 1939 war die Kindheit ungetrübt. Ich und Vater Bruno hatten ein inniges Verhältnis. Aber eines Morgens im Juli 1939 vermisste ich beim Aufstehen die väterliche Schulter. Ich fragte meine Mutter, wo er denn sei. »Er ist bei den Soldaten«, antwortete sie.

Tatsächlich war mein Vater freiwillig in die Wehrmacht eingetreten und nahm am Überfall auf Polen am 1. September 1939 teil. Anfang des Jahres 1940 kam er für einen längeren Urlaub nach Hause. Das Ergebnis war mein Bruder Hubertus, welcher im November die Familie vergrößerte. Nun musste unsere Mutter allein für ihren Unterhalt und den der Kinder sorgen. Sie arbeitete dafür noch härter auf dem Gut. Noch einmal, und zwar kurz vor dem Russlandfeldzug, kam Vater Bruno auf einen Kurzurlaub nach Hause. Es war das erste Mal, dass er seinen jüngsten Sohn zu sehen bekam. Danach verlor sich seine Spur.

Oma Emma kümmerte sich in dieser Zeit um sechs Enkel, da auch der Ehemann von Marthas Schwester beim Militär war.

Im Spätsommer des Jahres 1944 kamen in immer kürzeren Abständen Militärtransporte durchs Dorf und fuhren Richtung Westen. Auf Lkw wurden verwundete und getötete Soldaten transportiert. Die Durchfahrenden riefen der Familie oft zu: »Haut ab, die Russen kommen!« Sie sollten recht behalten, denn das Dorf Klemmerwitz befand sich nur rund siebzig Kilometer von Breslau entfernt. Diese Stadt wurde im Januar 1945 durch die Rote Armee heftig umkämpft. Der Geschützdonner war bis in unser kleines Dorf zu hören.

Die Lage wurde prekärer. Die Front rückte beinahe täglich näher. So begannen die Landarbeiterfamilien zu packen und traten die Flucht nach Westen an. Auch wir. Bei eisiger Kälte und meterhohem Schnee.

Nur zwei Tage später, im Morgengrauen, erreichten russische Panzer das Dorf, in welchem wir Flüchtenden in einem Saal auf Stroh übernachtet hatten. Wir hatten Glück. Nachdem sich die Russen vergewissert hatten, dass in dem Saal tatsächlich nur Alte, Frauen und Kinder waren, taten sie etwas sehr Menschliches: Sie umfuhren das Dorf in Richtung Westen. Urplötzlich befanden wir uns hinter der Front. Das bewegte unseren Flüchtlingszug, in unser Dorf zurückzukehren. Doch nur wenige Tage später, der Januar war noch nicht zu Ende, hieß es dann endgültig, vor der Hauptfront zu flüchten.

Ein Bauer namens Klose, bei dem Oma Emma wohnte, spannte einen Lanz Bulldog an einen Anhänger, mit dem wir dann im Treck bis Aussig (Ústí nad Labem) kamen. In einer nahe gelegenen Kleinstadt fanden alle eine Unterkunft. Erst nach dem 8. Mai 1945, dem Kriegsende, trat Bauer Klose mit uns die Heimreise an. Als wir zwanzig bis dreißig Kilometer von unserem zeitweiligen Quartier, der erwähnten Kleinstadt, entfernt waren, stellten sich uns Bewaffnete entgegen. Es können Tschechen oder auch Polen gewesen sein. Sie nahmen uns alles weg: den Traktor, den Anhänger und sämtliche Habseligkeiten, die wir bis zu diesem Zeitpunkt hatten retten können. Nun mussten wir zu Fuß weiter. Nach ewigen Tagesmärschen kamen wir in unserem Dorf, Klemmerwitz, an. Unsere dortige Zweizimmerwohnung auf einem Nebenhof des Gutes, wo meine Eltern jahrelang gearbeitet hatten, war nicht mehr bewohnbar. Wir kamen im Nachbarort unter.

Auf dem Klemmerwitzer Haupthof war nun eine russische Kommandantur eingerichtet. Die leitenden Offiziere und Soldaten setzten sich aus einem bunten Völkergemisch zusammen, Europäer und Asiaten.

Besonders fasziniert war ich von den vielen Reitpferden der Roten Armee. Mein Interesse an den Tieren brachte mich den Soldaten näher. Ich freundete mich mit ihnen an. Im Sommer 1945 durfte ich sogar zusammen mit den Soldaten die Pferde hüten. Ich war inzwischen zehn Jahre alt und fühlte mich groß und fast schon erwachsen.

Im Herbst wurde es richtig spannend. Ich durfte mit den Soldaten auf den Koischwitzer See hinausfahren zum Fischen. Mit einem Schlauchboot ging es auf das ungefähr siebzig Hektar große Gewässer. Eine Handgranate ersparte Angel, Netz und viel Zeit. Nach der Detonation mussten die toten Fische nur noch aus dem Wasser gesammelt werden. Wichtig war dabei, dass man die Handgranate weit genug vom Boot aus ins Wasser warf. Einmal geriet mir der Wurf zu kurz. Die Detonation schleuderte mich aus dem Boot, und ich fand mich im See wieder. Zunächst hielt ich mich mit Hundepaddeln über Wasser. Schließlich gelang es mir, ins Boot zurückzuklettern. Ich habe leider nie richtig schwimmen gelernt.

Klitschnass und frierend kam ich in der Kommandantur unter der Obhut des Soldaten Stjopa an. Stjopa war mein Freund. Er diente mit zwei Kaltblutpferden und einem Kastenwagen als Kurierfahrer zwischen unserem Dorf und dem Güterbahnhof Liegnitz. Oft haben wir gemeinsam Nahrungsmittel und Material für das Personal der Kommandantur vom Bahnhof geholt.

Mein älterer Bruder Waldemar hatte sich mit zwei Soldaten aufs Schnapsbrennen verlegt. Mit Kartoffeln von leerstehenden Grundstücken leistete auch ich einen Beitrag dazu. Dass das Schnapsbrennen illegal war, brauche ich wahrscheinlich nicht zu erwähnen. Die russischen Soldaten wussten, wie man feststellen konnte, ob es sich bei der entstandenen Flüssigkeit um trinkbaren Alkohol handelt: Ein Offizier gab eine kleine Menge davon auf eine Untertasse, zündete diese an und erkannte an der Farbe der Flamme, ob die Sache auf dem richtigen Weg war.

 

Vertilgt wurde der Schnaps bei lustigen Trinkgelagen. Sie waren oft begleitet von dem Akkordeonspiel eines mongolischen Soldaten. Es wurde auch gesungen und zuweilen sogar getanzt. Die Soldaten zeigten mir die Tanzschritte und forderten mich auf, diese nachzumachen. Ab und zu kam es vor, dass auch ich ein Glas vom Selbstgebrannten trank. Und weil niemand den Namen »Siegfried« richtig aussprechen konnte – schon gar nicht unter dem Einfluss von Alkohol –, hieß ich von da an »Sülfried«.

Im Zusammenhang mit dem mongolischen Akkordeonspieler gab es ein Ereignis, das mich erschütterte: Auf dem Gutshof wurden eines Tages circa zehn bis fünfzehn Reitpferde eingepfercht, um eine rossige Stute aus der Herde zu entnehmen, für die sich ein stattlicher Apfelschimmelhengst interessierte. Als besagter Soldat an die Stute herantrat, um ihr ein Halfter anzulegen, schlug unvermittelt der schöne Hengst aus und traf mit einem Huf voll in das Gesicht des Mongolen, der blutüberströmt zu Boden stürzte und die Besinnung verlor. Blitzschnell wurde ein sowjetischer Militär-Lkw zum Einsatz gebracht, mit welchem man den Verunglückten ins russische Hospital nach Liegnitz transportierte.

Die sprichwörtliche Zähigkeit von Mongolen traf auch voll und ganz auf den Akkordeonspieler zu. Denn gerade einmal vier Wochen waren vergangen, als der stets freundliche und lustige Mann wieder unter uns war. Allerdings waren in seinem Gesicht, vor allem im Bereich der Nase, aber auch an anderen Stellen, zum Teil noch nicht ganz verheilte Wunden sichtbar, die Narben hinterlassen würden.

Während mein väterlicher Freund Stjopa sicherlich der älteste im Personalbestand der Soldaten war, machte ich auch die Bekanntschaft mit einem nur siebzehn Jahre alten Scharfschützen. An seinem mit Zielfernrohr ausgestatteten Gewehr befanden sich links und rechts am hölzernen Schaft, bis zum Gewehrkolben reichend, circa ein Zentimeter lange Kerben. Als ich im Sommer 1945 in unserer nicht mehr bewohnbaren Wohnung im Kleiderschrank eine kurze, schwarze Cordhose fand und auch gleich anzog, brach das Unheil über mich herein. Ich wusste nicht, ob dieses Kleidungsstück zu einer Jungvolkuniform gehörte oder eine Hose meines älteren Bruders Waldemar war, welcher im Kreisverband Liegnitz der Hitlerjugend (HJ) Funktionsträger gewesen war.

Als ich dem Scharfschützen, die besagte Hose tragend, begegnete, schaute er mich mit großen Augen an und fasste mit einer Hand an eines der kurzen Hosenbeine. Er sagte, mich dabei zornig anschauend: »Faschist!« Mit dem ausgestreckten Zeigefinger der rechten Hand zielte er auf mich und drückte diesen Finger. Die gleiche Bewegung machte er, als er mir die am Gewehr eingekerbten Stellen zeigte. Auf einer Reihe von Kerben mit dem Zeigefinger streichend, wiederholte er mehrfach zornig: »Faschist!« Er zeigte mir also die durch ihn erfolgten tödlichen Schüsse auf die Deutschen.

Von umstehenden Soldaten, es kann auch Stjopa gewesen sein, wurde mir verständlich gemacht, dass der Siebzehnjährige im Krieg seine gesamte Familie verloren hatte. Einige Zeit nach diesem Vorfall war der junge Soldat nicht mehr bei der Truppe. Es hieß, er sei nach Hause entlassen worden.

Ich begleitete Stjopa bei allen möglichen Fahrten, Feiern und Gelagen. Stjopa war ein älterer Russe mit dickem Kaiser-Wilhelm-Bart auf der Oberlippe und grauem Haar. Er war für mich zum Vaterersatz geworden. Meine Liebe zu Stjopa ging so weit, dass ich mich im Juni 1946 meiner Aussiedlung widersetzte. »Ich gehe mit Stjopa nach Russland«, erklärte ich meiner Mutter und meinen Brüdern rundheraus.

Durch das Potsdamer Abkommen lag unser Dorf nunmehr auf polnischem Verwaltungsgebiet. Wir Deutsche mussten aussiedeln. Die polnische Verwaltung forderte uns auf, uns auf dem Güterbahnhof Liegnitz einzufinden. Für mich war das keine Zukunft. Ich wollte bei Stjopa bleiben und mit ihm nach Russland gehen. Zweimal riss ich aus. Jedes Mal holte mich mein älterer Bruder zum Teil mit körperlicher Gewalt zurück. Erst nach ausführlichen Gesprächen und guten Worten gab ich mein Vorhaben zumindest vorerst auf.

Der Sammelpunkt »Ziegenteich« lag in Liegnitz, unserer Kreisstadt. Wir verbrachten dort unsere erste Nacht im Freien. Am nächsten Morgen schwamm im Teich die Leiche eines Mannes. Möglicherweise war der Verlust des bisherigen Lebens für ihn Grund gewesen, sich der Aussiedlung durch Freitod zu widersetzen.

Einen Tag später fuhren die Güterwaggons mit uns nach Görlitz, und von dort wurden wir nach Königsbrück gebracht. Unsere Unterkunft war ein mit Mauern umschlossenes Objekt, eine Art Kaserne. Nachdem ich mit Stjopa meinen Vaterersatz zurückgelassen hatte, wurde ich nun auch noch von meiner Mutter und Oma Emma getrennt. Kinder und Erwachsene wohnten in verschiedenen Arealen. Das war zu viel für mich. Der Verlust aller meiner Bezugspersonen machte mich zum Bettnässer. Ich war elf Jahre alt. Das war mir, seit ich zurückdenken konnte, nicht mehr passiert. Ich schämte mich furchtbar. Niemand sollte davon erfahren. Deshalb blieb ich oft so lange im Bett, bis Decke und Laken durch meine Körperwärme halbwegs wieder trocken waren.

In Königsbrück blieben wir nicht lange. Ein Aufteilungsschlüssel teilte uns Mittweida in Sachsen zu. Oma Emma wurde zu einem ihrer Söhne nach Dresden in die Ortschaft Cossebaude geschickt. Meine Mutter, meine beiden Brüder und ich fanden eine Bleibe in einer Baracke, in der bis Kriegsende Fremdarbeiter und Kriegsgefangene untergebracht worden waren. Unsere Tante, die Schwester meiner Mutter, lebte mit ihren drei Kindern ebenfalls in dieser Baracke.

Es war schwer für die beiden Frauen, sechs halbwüchsige Kinder täglich zu ernähren. Daher war meine Mutter erleichtert, als Waldemar, mein älterer Bruder, bei einem Bauern in Mutzscheroda, Kreis Rochlitz, in Lohn und Brot kam. So hatten wir einen Esser weniger. Trotzdem war es schwierig, an Lebensmittel zu kommen. In der Folge habe ich mehrfach bei dieser Großbauernfamilie deren Kühe gehütet und als Lohn Naturalien mit nach Mittweida nehmen können. Oft suchten wir noch nach dem ersten Frosteinbruch nach halbangefrorenen Steckrüben und Kartoffeln auf den bereits abgeernteten Feldern. Wir fanden bei unserer Suche auch erfrorene Kohlrabi, welche natürlich in unseren Säcken und später in Mutters Topf landeten. Die Mahlzeiten wurden in einer Gemeinschaftsküche zubereitet und fielen allzu oft sehr karg aus.

Ende Dezember 1946 bekamen wir zwei Zimmer in einem Dachboden in einem Hinterhaus zugewiesen. Nun wohnten wir im Zentrum von Mittweida, genau genommen am Markt 5.

Die erste Besichtigung unserer neuen Heimstatt war ernüchternd: Es gab keine Öfen und keine Heizung. Eine Toilette befand sich eine halbe Treppe tiefer, hatte jedoch keine Spülung. Die beiden Zimmer gingen rechts und links von einem kleinen Flur ab, der wenigstens mit Wasser versehen war. Die Wasserversorgung bestand aus einem Wasserhahn über einem trichterförmigen, gusseisernen Becken. Im linken Raum hatte ein vorheriger Bewohner einen Bügeltisch nebst einem Stuhl hinterlassen. Dahinter verliefen Heizungsrohre an der Wand, an die sicherlich auch einmal ein Heizkörper angeschlossen gewesen war. Den hatte jemand offensichtlich gebraucht und mitgenommen. Wenigstens elektrisches Licht war vorhanden.

In dem anderen Raum standen zwei alte, große Holzbetten hintereinander, denn nebeneinander hätten sie keinen Platz gefunden. Mit diesen beiden Betten war der Raum vollständig möbliert. Mehr wäre nicht möglich gewesen, selbst wenn wir Möbel besessen hätten. Wenn man sich an den Kopfenden der beiden Betten vorbeidrängte, konnte man durch zwei Gaubenfenster hinuntersehen. Natürlich nur, wenn man groß genug war. Und ich war das nicht. Ich brauchte dafür einen Stuhl. Trotzdem konnte ich den Himmel und die Sterne sehen. Dafür benötigte ich keine Erhöhung.

Mit dem Einzug in das Hinterhaus wurden wir offiziell zu Einwohnern der Stadt Mittweida und im Einwohnermeldeamt erfasst. Das stellte für uns eine riesige Erleichterung dar und war ein erstes vorgezogenes Weihnachtsgeschenk dieses so schrecklichen Jahres. Wir hatten nunmehr ein Anrecht auf Lebensmittelkarten! Das hieß nicht, dass der Hunger vorbei war, aber es bedeutete, dass wir einen Anspruch auf Brot, Butter und Fleisch hatten. Wenn auch stark rationiert und in sehr geringen Mengen.

Aber noch hatten wir keine Küche, um etwas mit den Lebensmitteln anfangen zu können. Kurz vor den Weihnachtstagen kamen zwei Männer des Stadtbauamts und schufen einen Durchbruch zu einem Schornstein. Einen Tag später schlossen sie einen kleinen gusseisernen Küchenherd aus Nachkriegsproduktion an den Schornstein an. Der Herd war im Baukastensystem eher schnell und unprofessionell gefertigt. Die Feuerungs- sowie die Aschekastentür waren nur grob an den Rändern abgeschliffen worden und hatten noch einen großen, abstehenden Grat. Daher ließen sich beide Türen nur mit enormer Kraftanstrengung öffnen. Das spielte für uns aber keine große Rolle. Wir schufen aus diesem kleinen Raum eine improvisierte Küche. Nun hatten wir Lebensmittelkarten und einen Herd. Was nun noch fehlte, war Brennmaterial.

Mutter, ich und mein kleiner Bruder zogen in den Stadtpark und sammelten, was wir an Ästen und Zweigen tragen konnten. Wer schon einmal Äste und Zweige verbrannt hat, kann sich vorstellen, dass deren Hitze nicht zum Kochen einer Mahlzeit reicht. Hier begann nun meine kriminelle Karriere: In den Weihnachtstagen zog ich zu später Stunde, mit Rucksack und Fuchsschwanz, einer kleinen Handsäge, bewaffnet, in den Stadtpark und zerteilte vorwiegend kleine Birken auf Rucksackgröße. Birkenholz deshalb, weil es auch nass bei entsprechender Glut gut brennt. Kohle hätte es zwar auf Zuteilung gegeben, aber mein Bruder und ich fanden auch andere Wege, um an Rohbraunkohle und Steinkohle zu kommen.

Unser kleiner Küchenherd hatte seine Tücken. Immer, wenn ich zum Anfeuern die Tür öffnen wollte, musste ich kräftig am Griff ziehen. Dabei kam der Ofen hinterher und das linke, wackelige Bein fiel aus seiner Verschraubung. Der Ofen seinerseits war nun seiner Standfestigkeit beraubt und drohte umzukippen. Niemand mag einen gusseisernen Ofen während des Betriebs anfassen, weil er überall heiß ist. Ich musste also den Ofen mit der rechten Hand im Gleichgewicht halten und versuchen, mit der linken nach dem abgefallenen Bein zu angeln und dieses wieder unterzuschieben. Mein Kampf mit dem Ofen führte täglich zu Tränen der Wut, des Schmerzes und der Verzweiflung.

Durch das Heizen der Küche und den strengen Frost in diesem Winter vereiste die Innenwand der Gaube großflächig. Bei Kerzenlicht funkelten die Eiskristalle in vielen Farben.

Vor dem Jahreswechsel 1946/47 kam ich in die »Fichteschule«. Das letzte Mal war ich zu Hause in der »Zwergschule« gewesen, einer Dorfschule, die nur aus einem Raum bestand und in der alle Jahrgänge von eins bis acht unterrichtet worden waren. Das war zwei Jahre her, im Spätherbst 1944. Dementsprechend groß waren meine Schwierigkeiten, mich mit der Schule und dem Lernen wieder anzufreunden.

In meiner neuen Schule gab es in der Zehnerpause ein mit Marmelade gefülltes Weizenhörnchen sowie eine Tasse Milch. Dieses Frühstück war für mich der einzige Grund, überhaupt zur Schule zu gehen. Oft verließ ich das Gebäude danach, um zu »organisieren«. Darunter sind Diebstähle verschiedenster Art zu verstehen. Ich hatte Kinder und Jugendliche kennengelernt, welche am Stadtpark wohnten. Wir schlossen uns zu einer Gang zusammen und stahlen, was uns unter die Augen kam. In den Dörfern der Umgebung räumten wir den Bauern die Speisekammern leer. Wir nahmen uns Fahrräder, um mobil zu sein, und machten auch vor lebenden Hühnern und Kaninchen nicht halt. Natürlich fragte mich Mutter, wo ich all diese Dinge herhätte. Ich habe ihr nie die Wahrheit gesagt.

Im Spätherbst 1947 erzählte mir Mutter, dass Oma Emma zu uns nach Mittweida kommen würde. Oma Emma habe bei der Kartoffelernte helfen wollen. Als sie einen schweren Korb voll mit den Erdäpfeln auf den Kastenwagen kippte, geriet sie in die Speichen des Hinterrads. Der Kutscher bemerkte das nicht und trieb das vorgespannte Pferd zum Weitergehen an. Oma Emma konnte sich nicht befreien, der Wagen brach ihr die Beine.

Zwei gebrochene Beine, die nicht heilen wollten, machten meine Oma zum Pflegefall. Diese Aufgabe wollte oder konnte der Bruder meiner Mutter nicht erfüllen und brachte Emma kurzerhand mit einem Pkw zu uns nach Mittweida. Mutter und ihr Bruder hievten die alte Frau in unsere Kammern hinauf und verfrachteten sie in eines der beiden Holzbetten in unserem Schlafzimmer. Oma Emma konnte gar nicht mehr laufen. Auch ihre Notdurft musste sie im Bett verrichten. Das machte mein Leben schwierig, als auch meine Mutter krank wurde. Mit einer schweren Erkältung belegte sie das zweite Bett. Ich wurde nun zum Koch, Krankenpfleger und Mann für alle im Haushalt anfallenden Arbeiten. Omas Toiletteneimer entleerte ich im Klo eine halbe Treppe tiefer.

 

Ich hatte im Krankenzimmer keinen Platz mehr. Zum Glück lieferte die Volkssolidarität ein Sofa. Wir stellten es in die Küche. Es war von nun an mein Bett. Mein kleiner Bruder Hubertus schlief bei den beiden Frauen. Meine Oma wurde von Tag zu Tag schwächer. Irgendwann konnte ich sie nicht mehr pflegen. Sie kam ins Krankenhaus. Nur wenige Tage später starb sie dort, von ihren Qualen erlöst.

Der tiefgefrorene Boden auf dem Friedhof ließ es vorerst nicht zu, dass ein Grab ausgehoben werden konnte. Wir hatten auch keinen Sarg, in den wir unsere Oma Emma hätten legen können. Wie lange sie in der Leichenhalle auf ihre letzte Ruhestätte warten musste, daran kann ich mich heute nicht mehr erinnern.

Zur Jahreswende 1947/48 erreichte uns ein Brief, der Mutter und uns Kinder in helle Aufregung versetzte. Er stammte vom Suchdienst des Roten Kreuzes. Die Postbotin übergab ihn mir mit einem Lächeln, denn sie wusste, was solche Briefe in der Regel enthielten. Es waren meist gute Nachrichten. Wir erfuhren, dass Vater in Villach in der österreichischen Region Kärnten in englischer Kriegsgefangenschaft lebte und nun bald entlassen werden sollte.

Mutter war aufgekratzt. Ihr Mann lebte und würde zurückkommen. Dieses Glück teilte sie nur mit einigen wenigen Ehefrauen und Müttern. Aber wie konnte sich das anfühlen nach acht Jahren Trennung? Acht Jahren, in denen ihre Söhne groß geworden waren und sie durch die Flucht alles verloren hatte. Acht Jahre, in denen sie sich hatte allein durchschlagen müssen, nur mit ihrer Mutter und ihrer Schwester an der Seite. Acht Jahre, in denen ihre Welt untergegangen war.

Mein Vater stand wenige Wochen später vor der Haustür am Markt 5 in Mittweida. Ich erkannte ihn kaum wieder, Hubertus war er gänzlich fremd. Sprachlos stand meine Mutter einem wohlgenährten achtunddreißigjährigen Mann in englischer Winteruniform gegenüber und wusste nicht, was sie ihm sagen sollte. Doch dann brach das Eis, und wir waren glücklich, wieder beisammen zu sein. Später saß unser Vater am Küchentisch, starrte ins Leere und sprach stundenlang kein Wort.

Die neue Realität hatte ihn eingeholt. In der englischen Gefangenschaft hatte er von der Erwartung gelebt, nach Hause zurückzukommen, zu Frau und Kindern. Jetzt war er in einer fremden Stadt, in einer Dachmansarde, in einem Hinterhaus und besaß nichts als die englische Uniform. Seine Familie ernährte sich durch Diebstähle oder hungerte und fror. Sein Ideal, für das er in den Kampf gezogen war, lag zerstört am Boden. Hatte er dafür am Polenfeldzug teilgenommen, damit seine Kinder in einer fremden Stadt als Flüchtlinge aufwuchsen? Hatte er dafür darauf verzichtet, seine Söhne aufwachsen zu sehen, damit er nun in einer schlecht beheizbaren Dachwohnung hauste? Viel später verstand ich, in welch ein tiefes Loch mein Vater zu diesem Zeitpunkt gefallen sein musste. Er liebte die Natur, hatte immer auf dem Lande gelebt. Nun hockte er in einer für ihn fremden Stadt.

Doch mein Vater fing sich und startete sein Leben neu. Der Rat der Stadt vermittelte ihm eine Arbeit in einer Papierfabrik außerhalb von Mittweida. Lange blieb er dort nicht. Ein Onkel mütterlicherseits besuchte uns mit einer Neuigkeit, die meinem Vater keine Ruhe ließ: In der Sowjetischen Aktiengesellschaft (SAG) der Buna-Werke in Schkopau sollte es gutbezahlte Arbeit geben. Und nicht nur das! Zusätzlich würde jeder Arbeiter monatlich mit dem sogenannten Stalinpaket versorgt. Es beinhaltete Lebensmittel wie Salz, Zucker, Mehl und Fleisch.

Nur wenige Tage später verließ uns mein Vater in Richtung Schkopau. In einem Barackenlager wohnte er jetzt, in dem schon zu Kriegszeiten Arbeitskräfte untergebracht gewesen waren. Dort besuchte ich ihn öfters. Ich erinnere mich, wie ich im Metalldoppelstockbett über ihm schlief. Bei Vater gab es leckeren Kartoffelbrei. Dazu holten wir uns auf nicht ganz legalem Wege Kartoffeln von einem Feld neben den Buna-Werken. Vater kochte sie in einem Aluminiumtopf. Dann briet er Zwiebeln in Rapsöl und vermengte alles zu einem köstlichen Brei.

Vater arbeitete also ab 1948 in den Buna-Werken, und Mutter verdiente in einer Großwäscherei in Mittweida Geld für unseren Lebensunterhalt. Einmal im Monat trafen sich beide in Leipzig auf dem Hauptbahnhof. Dann übergab Vater das »Stalinpaket« für seine Familie, und Mutter kehrte mit der Bahn wieder heim.

Mittlerweile kamen wir ganz gut ohne ständiges Stehlen meinerseits zurecht. Außerdem betonte mein Vater, dass er keinen Dieb als Sohn haben wollte, und zeigte dabei auch auf, welche Strafen er für Stehlen als richtig erachtete. All das überzeugte mich, dass ich mich von meiner Gang besser fernhalten und meine kriminelle Karriere aufgeben sollte. Doch da ich außer Stehlen bisher keine Hobbys gehabt hatte, musste ich mir für meine Freizeit etwas Neues suchen. Fußball hielt ich für eine gute Idee. In einer gemischten Kinder- und Jugendfußballmannschaft erprobte ich mein Talent auf dem Rasen. Schon zu Beginn des Jahres 1949 gab ich jedoch meine Fußballkarriere auf.