Die Bande vom Vorwald

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Die Bande vom Vorwald
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Siegfried Böck

DIE BANDE

VOM VORWALD

Ein Elsternabenteuer

aus Brommelshausen

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2016

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2016) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Die seltsamen Waldgeschichten

Mal ganz ehrlich. Wer hat schon jemals von einem Ort mit dem wunderlichen Namen Brommelshausen gehört? Ich wette, allzu viele werden es nicht sein. Ich für meinen Teil hatte bis vor Kurzem noch keinen blassen Schimmer von der Existenz dieses Städtchens. Das wäre bestimmt auch bis in alle Ewigkeiten so geblieben, wenn ich nicht von diesen seltsamen Brommelshausener Geschichten gehört hätte und für Geschichten, egal welcher Art, bin ich ja bekanntlich immer zu haben. Für gute Geschichten bin ich sofort bereit, bis in weit abgelegene Provinzen vorzudringen, und wenn es sein muss, sogar bis nach Brommelshausen.

Mit den Brommelshausener Geschichten hatte es allerdings eine ganz besondere Bewandtnis. Zuerst vermutete ich ja, dass diese Geschichten sich mit irgendwelchen komischen oder, wie schon gesagt, seltsamen Ereignissen aus der Brommelshausener Stadt- und Klatschgesellschaft beschäftigen. Dem war aber nicht so, obwohl im schmucken städtischen Rathaus durchaus mal seltsame Beschlüsse gefasst werden können. Es geht in den Geschichten auch nicht um den FC 08-Brommelshausen, der übrigens am vergangenen Sonntag eine herbe 5:0-Klatsche gegen Fortuna Untermoosbach einstecken musste. Bei dem schlechten Tabellenstand des Vereins ist aber auch so eine Niederlage mit fünf Toren Unterschied kein erwähnenswertes, geschweige denn seltsames Vorkommnis.

Nein, in Brommelshausen erzählt man sich ganz andere Geschichten – nämlich Waldgeschichten. Die Brommelshausener nennen sie so, weil alle diese Erzählungen ihre „grüne Bühne“ im Stadtwald von Brommelshausen haben. Nun ist es bei Waldgeschichten naheliegend, dass Tiere darin vorkommen, und genau das trifft hier auch zu. Es sind Tiergeschichten, die vom Alltagsleben und von den Abenteuern der dortigen Waldbewohner erzählen, wobei die Tierakteure mit ausgeprägten menschlichen Eigenschaften ausgestattet sind. Das heißt, sie sprechen, fühlen und handeln wie Menschen. Oft sind die Geschichten lustig, manchmal weniger lustig und ab und zu auch überhaupt nicht lustig, denn sie schildern auch tragische und gefährliche Ereignisse, welche die gefiederten und bepelzten Bewohner erleben müssen. Mancher wundert sich auch mit leichtem Schaudern, was sich im scheinbar so beschaulichen Stadtwald alles so abspielt.

Es sind also Tiergeschichten aus einem Stadtwald. Eigentlich nichts Besonderes, denn Tiergeschichten findet man in jeder Dorfbücherei und es gibt genügend Schreiberlinge, die sogar davon leben, indem sie mehr oder weniger gute Tiergeschichten zu Papier bringen.

Das Seltsame an diesen Waldgeschichten ist aber, dass niemand weiß, wer der Urheber dieser Geschichten ist. Es gibt keinen Schriftsteller, der die Waldgeschichten als sein geistiges Eigentum in Anspruch nehmen will, zumindest hat sich noch keiner von der schreibenden Zunft bei mir gemeldet.

Manch einer könnte nun sogar auf die Idee kommen, dass die Waldgeschichten gar keine Fantasiegeschichten aus einer Schriftstellertastatur sind, sondern wahre Begebenheiten schildern. Zugegeben, eine gewagte Idee, aber ich könnte es mir trotzdem sehr gut vorstellen.

Falls es aber doch einen mysteriösen, unbekannten Schreiberling geben sollte, der diese Geschichten erdacht hat, probier ich jetzt zum allerletzten Mal, diesen Heimlichtuer ausfindig zu machen.

„Haaalloo, ist hier irgendjemand, dem die Waldgeschichten gehören!?“

Ich habe noch einmal zwei Monate gewartet, gesucht und noch einmal gewartet, aber niemand hat sich auf meine Aufrufe gemeldet. So nehme ich an, dass die Waldgeschichten wirklich keinen Besitzer haben und ich sie hier und jetzt erzählen darf.

Fangen wir einfach an.

Brommelshausen, sein Stadtwald und seine Besonderheit

Wie schon angedeutet, gibt es über Brommelshausen nicht sehr vieles zu berichten. Es ist ein abgeschiedenes, verschlafenes Landstädtchen im ebenfalls abgeschiedenen und verschlafenen Grünwaldviertel, irgendwo in der tiefsten Provinz. Es spricht eigentlich nicht sehr viel dafür, einfach mal so seine Koffer zu packen und auf einen Sprung dorthin zu fahren. Ehrlich gesagt, spricht überhaupt nichts dafür.

Natürlich kann es ab und zu mal vorkommen, dass es den einen oder anderen durch einen seltsamen Zufall oder durch eine GPS-Fehlnavigation doch einmal nach Brommelshausen verschlägt. Falls jemandem so etwas passieren sollte, dann – ein Tipp unter Freunden – wäre ein Abstecher in den dortigen Stadtwald nicht der schlechteste Zeitvertreib. Wer jetzt meint, dass es bestimmt nicht sehr aufregend sein kann, in einem Wald neben einer verschlafenen Kleinstadt herumzulaufen, der hat nicht einmal ganz unrecht. An dem Wald selbst ist auf den ersten und auch auf den zweiten Blick nichts, aber auch gar nichts zu bemerken, was einen vom Hocker reißen würde. Es ist ein ganz normaler Wald mit großen, alten Bäumen, lauschigen Waldwiesen, einem Wiesental mit einem kleinen Bach und einer Lichtung mit dem reizenden Namen „Tannengrün“, die genau in der Mitte des Waldes liegt.

Was ist nun das Besondere am Brommelshausener Stadtwald?

Die Bäume, das Wiesental und die Lichtung sind es bestimmt nicht. Es sind auch nicht die großen Tiere des Waldes, obwohl er von beeindruckenden Wildschweinrotten und Rehrudeln bevölkert wird.

Nein, das Besondere an diesem Wald hat Federn, und zwar schwarzweiße Federn und dazu noch einen langen Schwanz, der beim Fliegen aufgeregt auf und ab wippen kann. Diese schwarzweißen Federkleidträger sind eigentlich auch wieder nichts Besonderes, denn sie gehören zu einer überall bekannten Sippe von Gefiederten, von der jedes kleine Kind sagen kann: „Schau mal, Mama, da fliegen aber viele Elstern!“

Jawohl, ganz gewöhnliche Elstern. Die Elstern im Brommelshausener Stadtwald nehmen allerdings eine Art Sonderstellung ein, denn nur ihnen eilt der zweifelhafte Ruf voraus, einen, wie soll man sagen, etwas lockeren Lebenswandel zu führen. Vor allem bei ihren ungeliebten Verwandten, den etwas spießigen Schwarzbefrackten, gelten die verrückten Schwarzweißen als eine Sippschaft, die in der ehrwürdigen Rabenvogelfamilie nichts mehr zu suchen hat. In ihren strengen Krähenaugen ist die schwarzweiße Verwandtschaft einfach nur laut, streitsüchtig, neugierig, boshaft, frech und zu allem Überfluss auch noch diebisch. Wie sollen die Schwarzweißen, die alle so komische Namen wie Emil, Eddy oder Edgar tragen, auch sonst in den Besitz dieser vielen glänzenden und geheimnisvollen Gegenstände gekommen sein, welche die Nischen ihrer Nestburgen bis zum Rand ausfüllen?

„Geklaut haben sie diese wertvollen Sachen!“, so würden es auf jeden Fall die Schwarzbefrackten behaupten.

Übrigens: Im Wald heißen die Elstern nicht Elstern und die Krähen auch nicht Krähen, sondern Schwarzweiße und Schwarzbefrackte. In der Geschichte werden aber, aus verschiedenen Gründen, beide Namen verwendet. Bei anderen Waldbewohnern sind solche mehrfache Namensgebungen ebenfalls üblich.

Ein besonderer Dorn in jedem ehrlichen Krähenauge ist auch die Unart der Schwarzweißen, sich in provozierenden, schwarzen und weißen Federkombinationen zu kleiden. Eine Beleidigung für jede alte Rabentradition.

Kurz gesagt, Elstern und Krähen können sich nicht besonders leiden, aber das soll ja selbst in den besten Verwandtschaften gar nicht so selten vorkommen.

Wenn auch die liebe Krähenverwandtschaft sich nach Kräften bemüht, keine gute Feder an der schwarzweißen Sippe zu lassen, alles darf man ihr doch nicht glauben. In Wirklichkeit besitzen die Schwarzweißen auch Eigenschaften, die sie ganz sympathisch erscheinen lassen. Sie sind nämlich auch fürsorglich, hilfsbereit, fröhlich und haben dazu noch einen ausgeprägten Familiensinn. Kurzum, bei den Elstern findet man alle nur denkbaren Charaktereigenschaften, nur sind einige dieser Eigenschaften bei ihnen vielleicht etwas stärker ausgeprägt als bei anderen Bewohnern des Stadtwaldes. Gerade dieses eigenwillige und manchmal wirklich chaotische Wesen macht die Elstern zu idealen Abenteurern und deshalb haben sie im Stadtwald auch schon mehr als einmal für anständigen Wirbel gesorgt.

Ach ja, wildes, chaotisches Elsterleben mit gefährlichen oder auch komischen Abenteuern oder auch nur der normale Elsternalltag. Wie faszinierend wäre eigentlich so ein kleines Abtauchen in die Welt der Eddys, Edgars, Ellys, Erichs, Emils, Ellas und wie sie sonst noch alle heißen mögen. Ganz bestimmt wäre es ein bezauberndes Erlebnis, aber dazu wird es wohl keine Gelegenheiten geben, denn die Sippe der Schwarzweißen lässt aus guten Gründen keine Menschen an ihrem Leben teilhaben.

Irgendjemand muss es aber doch geschafft haben, sich bei den Schwarzweißen und auch bei anderen Waldbewohnern einzuschleichen, denn wie in aller Welt sollten die Waldgeschichten sonst zustande gekommen sein? Mir ist das immer noch ein Rätsel.

 

In den Geschichten dreht es sich aber nicht ausschließlich um die Schwarzweißen, wenn diese auch fast überall die Hauptrollen einnehmen. Neben ihnen gibt es nämlich noch viele weitere Waldbewohner, unter anderem einen mürrischen Schwarzspecht, freche Kleiber mit einer starken Vorliebe für korrekte Umgangsformen und einen überängstlichen Waldkauz mit einer etwas dicklichen Figur. Dass es im Wald nicht zu lustig wird, dafür sorgen ein paar weniger sympathische Bewohner, vor denen sich die anderen sehr in Acht nehmen müssen. Hier seien nur der verschlagene Marbert Marder und die lautlose Strega, wie die riesige Uhufrau genannt wird, erwähnt. Auch dem Grauen, dem gefürchteten Wildkater, geht man besser aus dem Weg. Außerdem soll auch noch eine einbeinige Habichtsfrau mit dem ausgefallenen Namen Accellara Habicht irgendwo ihr Unwesen treiben. Aber es gibt auch noch einen netten, alten Forstmeister, der heißt Waldemar Sägebrecht und wer weiß, vielleicht stammen die Geschichten sogar von ihm, denn im Brommelshausener Stadtwald kennt sich niemand besser aus als er.

Wer mehr über den Wald, den Elsternschwarm und über die anderen Waldbewohner erfahren will, dem bleibt, wie schon gesagt, die Möglichkeit, selber einmal dorthin zu fahren. Mit viel Geduld und viel Glück kann er vielleicht den einen oder anderen Waldbewohner mal kurz zu Gesicht bekommen. Wem das aber zu anstrengend ist, der kann sich auch einfach bequem zurücklehnen, eine heiße Tasse Kakao bereitstellen und dieses Buch weiterlesen.

Ein alter, schnupftabakliebender Forstmeister und sein Stadtwald

Den Wald erreichen wir am besten mit dem roten Stadtbus der Linie 1, denn der fährt bis zur Endhaltestelle „Brommelshausener Forst“ am nördlichen Stadtrand. Den richtigen Bus zu finden, ist nicht schwer, denn Brommelshausen ist eine kleine Stadt und hat nur die eine Buslinie, nämlich diese Linie 1. Vielleicht wollte ein vorausschauender Stadtplaner ursprünglich noch eine Linie 2 dazuplanen, wer weiß das schon. Die ganze Fahrt vom Bahnhof quer durch die Stadt dauert höchstens zehn Minuten und das auch nur deshalb, weil der Bus jede Minute anhält, um Fahrgäste aus- und einsteigen zu lassen. An der Endhaltestelle „Brommelshausener Forst“ steigen wir dann selber aus und folgen dem Kirschenweg, der direkt hinter dem Wartehäuschen, leicht ansteigend, zu einem kleinen Wohnviertel führt. Nach ungefähr 300 Metern biegen wir rechts in den Pflaumenweg ein und das war’s dann mit Brommelshausen. Wir haben den Stadtrand erreicht. Am Ende des Pflaumenweges öffnet sich der Blick auf den Wald und der ist so nah, dass die einzelnen Bäume schon mit bloßem Auge sehr gut zu unterscheiden sind.

Es kommt aber öfters vor, dass Ausflügler ihre Wanderung schon jetzt für einen Augenblick unterbrechen und staunend vor dem allerletzten Haus im Pflaumenweg stehen bleiben. Dieses Haus ist aber auch ein Hingucker, denn es unterscheidet sich total von den anderen Häusern in der Siedlung. Die Wände bestehen aus Holz, besser gesagt aus dunkelbraun gestrichenen, aufeinandergestapelten Baumstämmen, und das ganze Haus macht den Eindruck, als hätte man es direkt von Alaska oder Kanada hierher nach Brommelshausen versetzt. Es ist ein rustikales Blockhaus, wirklich wie aus der kanadischen Wildnis entnommen und mit ein wenig Fantasie könnte sich manch einer sogar vorstellen, dass Jäger und Trapper darin wohnen, was hier in Brommelshausen natürlich unmöglich wäre. Das Blockhaus im Pflaumenweg ist allerdings ein wenig größer und vermutlich auch ein bisschen komfortabler eingerichtet als die kargen Hütten in der nordischen Wildnis. Sehr ungewöhnlich ist auch das kapitale Hirschgeweih mit seinen sechzehn säbelartigen Enden, das über der wuchtigen Eingangstür prangt. Ungewöhnlich deshalb, weil weit und breit kein anderes Haus mit einem Hirschgeweih über der Eingangstür zu finden ist und das gilt bestimmt nicht nur für Häuser in Brommelshausen. Wie gesagt, dieses letzte Haus im Pflaumenweg ist wirklich sehenswert.

Interessant ist aber auch der bullige, grüne Geländewagen, der vor dem Haus geparkt ist, zumindest für große und kleine Jungs, denn wer hätte nicht selber gerne so einen Geländewagen. Ein solcher Wagen ist natürlich ideal für Arbeitsfahrten im Wald und deshalb ein passendes Gefährt für Leute, die beruflich viel im Wald zu tun haben. Schaut man auf die Plakette an der Windschutzscheibe des Geländewagens, so kann man lesen:

Amtliches Forstfahrzeug für den Stadtwald Brommelshausen. Berechtigter: Herr Forstmeister Waldemar Sägebrecht

In dem einzigen Blockhaus in ganz Brommelshausen und Umgebung wohnt nämlich der alte Forstmeister Waldemar Sägebrecht, zusammen mit seiner besseren Hälfte, der Frau Forstmeisterin Waldtraud Sägebrecht. Wenn man diesen sehr amtlich und streng klingenden Aufdruck auf der Plakette liest, könnte man fast ein bisschen erschrecken, denn unter einem Forstmeister stellt man sich doch leicht einen sehr energischen, wahrscheinlich auch humorlosen, drahtigen Mann in schneidiger grüner Försterkleidung vor, der kleine Jungs aus dem Wald vertreibt, wenn er sie dabei erwischt, wie sie mit ihren Taschenmessern dünne Äste von einem Haselstrauch abschneiden, um daraus Pfeile und Bogen zu basteln.

Doch dieser Eindruck täuscht, denn unser Forstmeister Sägebrecht ist das glatte Gegenteil davon, nämlich ein gemütlicher, etwas beleibter älterer Mann mit Lachfalten und einem grauen Bart im wind- und wettergegerbten Gesicht. Der alte Sägebrecht ist Forstmeister mit Leib und Seele und hängt so an seinem geliebten Stadtwald und an den Tieren, die darin leben, dass die Frau Forstmeisterin Waldtraud Sägebrecht schon öfters im Scherz zu ihm gesagt hat: „Waldemar, manchmal weiß ich wirklich nicht mehr, ob du mit mir oder mit deinem Stadtwald verheiratet bist.“

Darüber muss der Forstmeister dann jedes Mal lachen und wenn er dann ausgelacht hat, greift er meistens in die Tasche seiner grünen Forstmeisterjacke und holt eine goldglänzende Schnupftabakdose hervor, um sich eine kräftige Prise von seinem guten und dazu noch sehr scharfen Schnupftabak zu gönnen. Auf dem Deckel der Dose ist ein ganzer Wald mit röhrenden Hirschen und einem flüchtenden Fuchs aufgemalt. Es ist also genau die passende Schnupftabakdose für einen Forstmeister und da diese Dose so passend ist, wird sie auch sehr oft hervorgeholt. Unser Forstmeister ist nämlich ein großer Liebhaber der gepflegten Schnupfkultur und eine deftige Prise von seinem guten Schnupftabak kann ihn in Hochstimmung versetzen.

Sehr schlecht gelaunt wird der Forstmeister Sägebrecht allerdings, wenn jemand seinen geliebten Schnupftabak versteckt und sei es nur zum Spaß. So etwas getraut sich nur die Frau Forstmeisterin und sie tut es auch ab und zu, nur um ihren Ehegatten wegen seiner übertriebenen Schnupftabakliebhaberei ein bisschen aufzuziehen. Ausschütten könnte sie sich dann vor Lachen, wenn ihr Waldemar grantelnd nach seinem braunschwarzen Genusspulver sucht.

Auf die absurde Idee, dem Forstmeister seinen Schnupftabak zu stehlen, auf so eine wirklich abnormale Idee würde natürlich niemand kommen. Oder etwa doch?

Das Hochhaus am Krähenbach

Hinter dem Forstmeisterhaus sind es nur noch ein paar Schritte, bis der Pflaumenweg in einen schmalen, aber geteerten Feldweg übergeht. Dieser Weg hat keinen richtigen Namen mehr, sondern ist nur noch der Feldweg Nummer 3. Ab hier ist Brommelshausen dann wirklich zu Ende. Für den alten Forstmeister Sägebrecht ist dieser geteerte Feldweg Nummer 3 eine gute Sache, denn er führt direkt zum Brommelshausener Stadtwald und ist praktischerweise genauso breit wie sein Geländewagen. Wer aber keinen Geländewagen besitzt und trotzdem zum Wald will, kann eigentlich auch ganz gut zu Fuß gehen, denn vom Forstmeisterhaus im Pflaumenweg bis zum Waldrand ist es nur ein kleiner Spaziergang durch ein paar Obstwiesen und Getreidefelder. Kurz vor dem Wald überquert man auf einer Brücke mit massivem Holzgeländer einen kleinen Bach, den Krähenbach. Die Bezeichnung „Bach“ ist bei diesem Rinnsal fast übertrieben, denn der Krähenbach ist, vor allem in den trockenen Sommermonaten, höchstens ein Bächlein oder auch nur ein Graben. Kleine Jungs und Mädchen und vielleicht sogar der alte Forstmeister Sägebrecht könnten mit Anlauf leicht darüberspringen, was aber bestimmt keiner machen würde, denn beide Ufer des Krähenbaches sind dicht mit hohen Brennnesseln und Weidengestrüpp bewachsen. Zumindest die Landung auf der anderen Seite des Baches könnte leicht in einem Brennnesselbusch enden und das wäre alles andere als angenehm.

Das Bächlein schlängelt sich mitsamt Brennnesseln und Weidengestrüpp mitten durch ein breites Wiesental, welches den Wald in eine nördliche und eine südliche Hälfte aufteilt. Wie es der winzige Krähenbach bloß geschafft hat, sich so ein großes Flusstal zuzulegen, ist mir schleierhaft, aber das muss ja nicht heißen, dass es dafür keine plausible Antwort gibt. Bei einer mächtigen, allein stehenden Kiefer biegt der Krähenbach dann scharf nach Süden ab und erreicht nach ungefähr zwei Kilometern den Rand des Stadtwaldes. Dort folgt ein weiterer scharfer Knick nach Westen, wo das Bächlein dann am Waldrand entlangplätschert, irgendwann den uns schon bekannten Feldweg Nummer 3 unterquert und schließlich im Zentrum von Brommelshausen in den großen Stadtfluss, nämlich in die Brommel, mündet.

Aber gehen wir zurück zu der mächtigen, allein stehenden Kiefer. Wen es interessiert, wieso diese Kiefer als einzelner Baum so mutterseelenallein mitten im Wiesental steht, der sollte vielleicht mal den Forstmeister Sägebrecht fragen, denn der weiß ja alles über den Wald und seine Bäume und mit Sicherheit weiß er auch, warum diese riesige Kiefer ausgerechnet hier ihren Platz gefunden hat. Auf jeden Fall hat dieser einsame Standort dem Wachstum der Kiefer in keiner Weise geschadet. Im Gegenteil, denn die Kiefer ist fast so hoch wie eines der beiden Brommelshausener Hochhäuser, oben in der Siedlung am Brommelberg.

Die Kiefer als Hochhaus zu sehen, dieser Vergleich ist eigentlich gar nicht so abwegig. Genauso wie die Hochhäuser auf dem Brommelberg bietet auch die mächtige, allein stehende Kiefer erstklassige Wohnungen für eine ganze Menge grabender, krabbelnder, kriechender, kletternder und fliegender Gäste. Ganz unten, tief im Wurzelwerk der Kiefer, ist Familie Rötelmaus zu Hause. Die Rötelmausfamilie lebt ziemlich zurückgezogen in ihren selbst gegrabenen Wohnhöhlen. Die Nachbarn wissen nicht viel von diesen Mitbewohnern, nicht einmal wie sie heißen. Es wird aber gemunkelt, dass sie eine Menge Kinder haben sollen und diese manchmal vor lauter Hunger an den Wurzeln der Kiefer nagen müssen. Gesehen hat das aber bisher noch keiner und man weiß ja, von dem, was in der Nachbarschaft so alles geredet wird, muss nicht immer alles wahr sein.

Im unteren Drittel der Kiefer erkennt man sofort den Anflieger. Das ist der große, kahle Ast, der aus dem Nadelgewirr herausragt und für alles, was Flügel hat, einen hervorragenden Landeplatz abgibt.

Ein ganzes Stück weiter oben, so in den mittleren Stockwerken des Kiefernhochhauses, befindet sich die Spechtsiedlung. Auf der Wetterseite des Stammes, dort, wo das Stammholz immer etwas morsch und weich ist, hat der eigenbrötlerische, immer etwas mürrische Schwarzspecht Fidelius Klopfer bereits vor zwei Sommern drei übereinanderliegende Spechtwohnungen gezimmert. Irgendjemand nannte diesen Teil der Kiefer damals Spechtsiedlung und der Name ist bis heute geblieben. Warum der ewig schlecht gelaunte Schwarzspecht ausgerechnet hier drei übereinanderliegende Wohnungen gebaut hat, darüber haben sich schon damals alle Bewohner der Kiefer gewundert. Denn Fidelius Klopfer war unverheiratet und wie sollte er drei Wohnungen gleichzeitig bewohnen? Vielleicht, so wurde getuschelt, wollte er auf diese Weise als dreifacher Hausbesitzer auch nur den Schwarzspechtdamen imponieren. Genützt hat es leider nichts, denn Fidelius Klopfer blieb damals den ganzen Sommer über trotzdem unverheiratet. Er blieb sozusagen auf seinen Wohnungen sitzen. Wahrscheinlich war er auch den Schwarzspechtdamen zu eigenbrötlerisch und zu mürrisch.

Offenbar hatte auch Fidelius Klopfer selbst eingesehen, dass seine Besitztümer bei der Schwarzspechtdamenwelt keinen Eindruck hinterlassen, denn gegen Ende des Sommers war er eines Morgens einfach verschwunden und die drei übereinanderliegenden Spechtwohnungen auf einmal ohne Besitzer.

Aber nicht für lange Zeit, denn im Umkreis der mächtigen Kiefer hatten schon viele Wohnungssuchende immer wieder mit begehrlichen Blicken auf die leer stehenden Wohnungen geschielt. So lange der Schwarzspecht die Wohnungen noch überwachte, traute sich natürlich keiner der Interessenten auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, eine davon in Besitz zu nehmen. Dazu war der Respekt vor dem Schwarzspecht einfach zu groß. Erstens, weil er immer so mürrisch war, und zweitens natürlich auch deshalb, weil er einen riesigen spitzen Schnabel besitzt und mit diesem Spechtwerkzeug wollte niemand Bekanntschaft machen.

 

Einige Tage nach dem plötzlichen Wegzug von Fidelius Klopfer begannen manche der Wohnungssuchenden so langsam etwas mutiger zu werden. Allen voran die Spechtmeise Herr Kleiber. Eigentlich ist so eine Spechtwohnung viel zu geräumig für eine Kleiberfamilie, aber Herr Kleiber war schon immer ein Vogel mit einem speziellen Geschmack und einer Vorliebe für großzügige Räumlichkeiten. Auf jeden Fall schwirrte Herr Kleiber schon länger um die Spechtsiedlung herum, tat aber immer so, als käme er nur so ganz zufällig vorbei, um in der Rinde der Kiefer nach leckeren Käferlarven zu suchen.

Herr Kleiber ist ein kleiner, bunter Vogel, so eine Art Mischung aus einem kleinen Specht und einer Meise. Er beherrscht das seltene Kunststück, einen Baumstamm nicht nur hinauf-, sondern auch hinunterrennen zu können und dies mit einer halsbrecherischen Geschwindigkeit, dass es einem schon vom Zuschauen schwindlig werden kann. Wie gesagt, Herr Kleiber ist von kleiner Gestalt, was ihn aber in keiner Weise daran hindert, ein sehr ausgeprägtes Selbstbewusstsein an den Tag zu legen. Die Selbstsicherheit dieses Winzlings gipfelt nicht nur darin, riesige Spechtwohnungen in Besitz zu nehmen, sondern auch in dem seltsamen Tick, darauf zu bestehen, vom Rest der Welt nur mit Herr Kleiber angeredet zu werden. Als zivilisierter Vogel legt er ja schließlich Wert auf gepflegte Umgangsformen. Einen Vornamen hat Herr Kleiber anscheinend nicht oder er ist so komisch, dass er ihn bis heute niemandem verraten will. Egal wie es ist, wer gegen die Anredevorschrift des Kleibers verstößt, wird sofort mit den Worten zurechtgewiesen: „Herr Kleiber, bitte. So viel Zeit muss sein!“ Die Betonung liegt dann unüberhörbar auf dem Wort „Herr“.

Kurz und gut, Herr Kleiber fing an, die unterste der Spechtwohnungen immer öfters zu besuchen, blieb dann einmal für eine Nacht, wahrscheinlich um auszutesten, ob wirklich alles im Reinen war, dann blieb er noch einmal eine Nacht und noch eine Nacht und eine Woche später begann er zu bauen. Nach genauer Untersuchung des Eingangstores hatte Herr Kleiber nämlich festgestellt, dass dieses Tor vielleicht für einen zu groß geratenen Schwarzspecht angemessen sein möge, aber nicht für einen anständigen Vertreter der Kleibersippe. Also musste der Eingang unbedingt verkleinert werden, und zwar so weit, dass wirklich nur noch die kleinen Leute aus der Kleibersippe hindurchpassen. Ein kleibermaßgerechtes Einflugloch hat natürlich den Vorteil, dass andere Wohnungssuchende, wie die lästigen Verwandten aus dem Meisenvolk, die Wohnung nicht so einfach besetzen können, denn auch für diese Herrschaften wäre das verkleiberte Loch dann leider zu eng.

„Zit, zit, selber schuld“, pflegte Herr Kleiber dann zu sagen, „zit, zit, wer so groß und vollgefressen ist wie dieser dumpfbackige Konrad Kohlmeise und seine noch vollgefressenere Gattin Carolina Kohlmeise, na ja, der hat eben Pech gehabt und muss draußenbleiben, zit, zit.“

Ein Eingangstor zu verkleinern, ist für Herrn Kleiber von Haus aus eine leichte Übung, denn wie der Name Kleiber schon aussagt, ist er ein Meister im Zukleben oder Zukleibern. Vor allem mit dem Baustoff Lehm kennt Herr Kleiber sich glänzend aus und er weiß daher natürlich auch, wo es den besten Lehm im ganzen Brommelshausener Stadtwald gibt. Natürlich weiß er auch, wie man den feuchten Lehm mithilfe von eigenem Speichel und anderen Zutaten fachgerecht an den Rändern eines zu großen Einflugloches anklebt und wie man auf die erste Schicht Lehm eine zweite, eine dritte und, wenn es sein muss, noch viele weitere Schichten aufträgt. Selbstverständlich weiß Herr Kleiber auch, wie lange der Lehm trocknen muss, bis aus dem weichen Lehmbrei eine steinharte Mauer entstanden ist.

Trotz all dieser meisterlichen handwerklichen Fertigkeiten von Herrn Kleiber war die Durchführung dieser Torverkleinerung mehr als eine Mammut-Heidenarbeit, denn das Tor war riesig und Herr Kleiber dagegen winzig klein. So sahen die staunenden Nachbarn einen lehmverschmierten Herrn Kleiber mehrere Tage emsig hin und her fliegen. Jedes Mal, wenn Herr Kleiber zurückkam, hatte er ein kleines Kügelchen Lehm in seinem spitzen Schnabel. Er klebte dieses Kügelchen sorgfältig an die vorgesehene Stelle am Eingangsloch, flog wieder davon, kam mit einem neuen Kügelchen zurück, klebte dieses Kügelchen an eine andere Stelle und hörte erst dann mit dem Gekleibere auf, bis wirklich nur noch er selbst sich durch die enge Einflugöffnung zwängen konnte. Kopfunter am Stamm der Kiefer hängend, betrachtete Herr Kleiber nun stolz und zufrieden sein Werk.

„Zet, zet, ich muss wirklich sagen, das Bauwerk ist mir meisterlich gelungen. Das ist jetzt mein Heim und meine Burg, zet, zet!“

Nachdem er dieses der Nachbarschaft lautstark mitgeteilt hatte, verschwand ein sichtlich erschöpfter Herr Kleiber für den Rest des Tages hinter seinen Burgmauern, die ihm jetzt niemand mehr streitig machen konnte.

Seither gehört Herr Kleiber zu den Bewohnern der Spechtsiedlung und hat hier in den Frühlings- und Sommermonaten, zusammen mit einer gewissen Frau Kleiber, auch schon mehrere Generationen kleiner, lärmender Spechtmeisen aufgezogen. Sobald die kleinen Kleiberlinge jedoch selbstständig geworden waren, war auch diese Frau Kleiber auf einmal verschwunden. Angeblich flog sie dann immer auf Kur, um sich von den Strapazen der Kindererziehung zu erholen. Nun gut, am Anfang wurde in der Nachbarschaft noch ein bisschen über die Kleibers und speziell über diese Frau Kleiber getratscht, dann immer weniger und irgendwann überhaupt nicht mehr und da fing man an die Kleibers zu akzeptieren. Denn trotz seiner Eigenheiten und seiner etwas gewöhnungsbedürftigen Art erwies sich Herr Kleiber letztendlich doch als umgänglicher und verträglicher Mitbewohner in der Wohngemeinschaft der mächtigen, allein stehenden Kiefer.

Die anderen beiden Wohnungen in der Spechtsiedlung blieben ohne feste Bewohner, wenn auch ab und zu eine namenlose Fledermaus den Tag in einer der beiden Höhlen verdöste. Bei Einbruch der Dämmerung verschwanden diese scheuen Besucher aber so heimlich, wie sie gekommen waren. Einmal übernachtete eine durchreisende Dohle in einer Spechtwohnung, aber auch dieser Gast blieb nur eine Nacht und flog am nächsten Morgen wieder seiner Wege.

Neben einer Vielzahl anderer Wohnungen und Nester gibt es in der Hochhaussiedlung der mächtigen, allein stehenden Kiefer auch eine Art von Supermarkt, ganz ähnlich dem großen Supermarkt in der Brommelshausener Hochhaussiedlung, und in beiden Märkten finden die hungrigen Besucher alles, was an Nahrungsmitteln für den täglichen Bedarf notwendig ist.

Die Abteilung für verpackte Lebensmittel befindet sich direkt unter der borkigen Rinde der Kiefer. Sie enthält ein sehr reichhaltiges Angebot an köstlichen, knackigen Käfern, leckeren Maden und delikaten Spinnen in allen Sorten, Größen und Geschmacksrichtungen. Der hungrige Besucher des Kiefern-Supermarktes braucht nur die Rinde mit dem Schnabel etwas anzuheben, dann vielleicht noch ein kurzer gezielter Schnabelhieb und schon liegt die Ware ausgepackt und schnabelfertig zubereitet vor ihm.

Wem das Auspacken zu anstrengend ist, kann sich auch mit unverpackten Lebensmitteln begnügen. Diese bestehen aus gefüllten Raupenspezialitäten, appetitlichen Fliegen, wunderbar süß schmeckenden Läusen, sauer zubereiteten Ameisen und manch anderen Leckereien. Die offene Ware ist für jeden gut sichtbar im Nadelwerk und auf den Ästen der Kiefer verteilt, allerdings muss der Kunde ein wenig beweglich sein, da manche der Leckereien die Angewohnheit haben, einfach davonzufliegen, sobald ein Schnabel oder eine Kralle nach ihnen greifen will.