Wenn die Giraffe mit dem Wolf tanzt

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Wenn die Giraffe mit dem Wolf tanzt
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KOHA-Verlag GmbH Burgrain

Alle Rechte vorbehalten

10. Auflage: 2013

Lektorat: Nayoma De Haën

Satz: David Luczyn

Gesamtherstellung: Karin Schnellbach

E-Book-Umsetzung: Medialike GmbH, München

ISBN 978-3-867287-22-7

»Wir sind hier, weil es letztlich kein Entrinnen vor uns selbst gibt. Solange der Mensch sich nicht selbst in den Augen und Herzen seiner Mitmenschen begegnet, ist er auf der Flucht. Solange er nicht zulässt, dass seine Mitmenschen an seinem Innersten teilhaben, gibt es für ihn keine Geborgenheit. Solange er sich fürchtet, durchschaut zu werden, kann er weder sich noch andere erkennen - er wird allein sein. Wo können wir solch einen Spiegel finden, wenn nicht in unseren Nächsten? Hier in der Gemeinschaft kann ein Mensch erst richtig klar über sich werden und sich nicht mehr als den Riesen seiner Träume oder den Zwerg seiner Ängste sehen, sondern als Mensch, der - Teil eines Ganzen - zu ihrem Wohl seinen Beitrag leistet. In solchem Boden können wir Wurzeln schlagen und wachsen; nicht mehr allein - wie im Tod - sondern lebendig als Mensch unter Menschen«.

Richard Beauvais, 1964

Vorwort

Ich habe mich sehr gefreut, als Serena Rust mich fragte, ob ich für dieses Buch ein Vorwort schreiben wolle.

Es verbindet uns nicht nur, dass ich einer ihrer Lehrer bin und sie zu meinen besonders begeisterten Schülerinnen gehört, sondern es verbindet uns auch die Art, mit der Gewaltfreien Kommunikation umzugehen. Zahlreiche Stunden haben wir die verschiedenen Aspekte dieser Methode untersucht, ja seziert, in Frage gestellt und uns dann – meist auf höherer Ebene – auf ein neues Verständnis geeinigt. Ich mag die Art, wie Sere­­­n­­a Rust die Gewaltfreie Kommunikation durchdringt und trotzdem nicht im Kopf hängen bleibt. Als reine Kopfmethode funktioniert sie ja ohnehin nicht, sondern sie ist eher eine gelungene Form der schwingenden Verbindung zwischen Verstand und Gefühl. Sie werden es in diesem Buch nacherleben können.

Einige Motive wie z.B. der »Giraffenfallschirm« gefallen mir sehr und durch die Illustrationen von Stefan Stutz ist dieses Buch bei aller Ernsthaftigkeit für mich ein ausgesprochen vergnügliches Erlebnis gewesen.

Die meisten Texte zur Gewaltfreien Kommuni­kation stammen aus dem englischsprachigen Raum und liegen uns als Übersetzungen vor. In der eigenen Muttersprache verfasste Texte sprechen uns jedoch persönlicher an. Ich meine, hier ist ein gut strukturiertes und sehr lesbares Buch entstanden, das sowohl zur Einführung in das Thema als auch zur Vertiefung für Fortgeschrittene dienen kann. Selbst mir als »Altem Hasen« sind einige Dinge noch einmal in einem anderen Licht erschienen.

Außerdem ist dieses Buch für mich ein erfreu-liches Feedback über die Ausbildung, die Serena Rust bei mir erhalten hat.

Herzlich willkommen im Kreis der Kolleg/innen, liebe Serena und vielen Dank für diese Bereicherung.

Klaus-Dieter Gens

Prolog – Herz-Sprache

»Es gibt einen Ort, jenseits von richtig und falsch. Dort begegnen wir uns.«

Rumi

»Worte sind Fenster oder Mauern« – so hieß das Einführungs-Seminar in die Gewaltfreie Kommunikation, auf dem ich vor einigen Jahren Mar­shall B. Rosenberg zum ersten Mal »live« erlebt habe. Damals dachte ich keineswegs, dass ich Gewaltfreie Kommunikation nötig hätte. Meiner Meinung nach war ich im Umgang mit meinen Mitmenschen durchaus zugewandt und freundlich. Dass mir gelegentlich die Hutschnur platzte und ich in einem reinigenden Gewitter kräftig aus mir herausging, dass Gespräche manchmal quälend, zäh oder strapaziös wurden oder in unlösbare Konflikte eskalierten, akzeptierte ich, wenn auch betrübt, als normal. Manche Themen sind eben schwierig.

Gewaltfreie Kommunikation? Das klang nach Zähne ziehen, nach Biss verlieren und Kraftlosigkeit. Ich war ein wenig skeptisch.

Aber ich war auch neugierig. Marshall Rosenberg war angekündigt als jemand, der mit seiner Methode schon auf der ganzen Welt gearbeitet und sogar in schwierigen politischen Konflikten zwischen Palästinensern und Israelis erfolgreich vermittelnd gewirkt hat. Es ging also anscheinend noch um mehr als um eine neue Kommunikationstechnik.

Bei dem Seminar hatte ich dann die Gelegenheit, in einem Rollenspiel praktische Erfahrungen mit der Gewaltfreien Kommunikation zu sammeln. In dem mit der einfühlsamen Haltung und der Methode der Gewaltfreien Kommunikation geführten Dialog fühlte ich mich vorbehaltlos angenommen.


Erleichtert konnte ich alles ausdrücken, was mir in meiner Rolle auf der Seele lag. Ein offener, kraftvoller Verbindungsstrom entstand. In diesem Raum erwachte wie selbstverständlich auch meine Bereitschaft, diesen mir fremden Menschen mit seinen Bedürfnissen gelten zu lassen. Schließlich empfand ich einen geradezu drängenden Wunsch, für seine und meine Bedürfnisse eine konkrete Form zu finden. Die Lösung fiel uns wie ein reifer Apfel in den Schoß!

Die Kraft und Wärme der Verbindung waren die Grundlage, auf der die konkrete, umsetzbare Lösung leicht erwuchs. Nebenbei bemerkt: Ohnehin wirkte der Konflikt im Licht dieser offe­nen Begegnung bereits viel harmloser.

Diese sehr kraftvolle und zutiefst überzeugende Erfahrung wurde zu meiner Initial-Zündung. Ihrem Geheimnis, ihrer Magie wollte ich auf die Spur kommen.

»Das Schönste, was wir entdecken können, ist das Geheimnisvolle.«

Einstein

Wenn eine solche Erfahrung einmal möglich war, ist sie grundsätzlich und immer wieder möglich, dachte ich mir. Aber welche Bedingungen sind es, die solche Erfahrungen unterstützen? Das wollte ich herausfinden, lernen, üben, leben, weitertragen …


Um eingängig und humorvoll darzustellen, wie es in der Kommunikation funken kann und wie sie baden geht, verwendet Marshall Rosenberg zwei Tiere als Symbole, den »Wolf« und die »Giraffe«.

Die Vier-Schritte-Technik der Gewaltfreien Kom­munikation ist dabei die Landkarte zur Fülle der Giraffenverständigung. Der Weg dorthin liegt manchmal sehr klar vor unseren Füßen und zu anderen Zeiten verliert er im tanzenden Spiel von Licht und Schatten für eine Weile seine Festigkeit. Auf einigen Strecken müssen wir uns vielleicht erst einen Pfad durch unwegsames Dickicht bahnen, auf anderen erwarten uns weite Blicke über sanft geschwungene Blumenwiesen und wir genießen die kraftvoll wärmenden Sonnenstrahlen.

Nicht von ungefähr heißt dieses Buch »Wenn die Giraffe mit dem Wolf tanzt«. Es geht um mehr innere Bewegungsfreiheit, um eine Erweiterung unserer Reaktionsmöglichkeiten, um Wahlfreiheit und Verantwortung. Gelassenheit ist eine wertvolle Begleiterin bei diesem Tanz – Gelassenheit, Geduld und viel Mitgefühl mit uns selbst. Der Weg ist das Ziel!

Mit diesem Buch lade ich dich auf eine Schatzsuche ein. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als eine herzliche Verbindung zu dir selbst und anderen. Geteilte Freude ist doppelte Freude. In dieser Volksweisheit drückt sich ein wesentliches Prinzip der Giraffensprache aus, in der Verbindung, Mitgefühl und Kreativität eine große Rolle spielen. Ich schreibe es für alle, die sich einen ersten Eindruck davon verschaffen wollen, wie lebendige, effektive Verständigung ge­­lingen kann.

Wölfe und Giraffen



Wozu Gewaltfreie Kommunikation?

»Frage dich nicht, was die Welt braucht. Frage dich, was dich lebendig werden lässt und dann geh los und tu das. Was die Welt nämlich braucht, sind Menschen, die lebendig geworden sind.«

Harold Whitman

Stell dir vor: Dein Mann macht dir einen Vorwurf … und du bist nicht gekränkt! Oder andersherum: Du bist enttäuscht oder sauer über etwas und du kannst es so sagen, dass deine Frau dich versteht! Wäre das nicht wunderbar?

Die Gewaltfreie Kommunikation ist eine Me­­thode, uns mit unserem mitfühlenden Wesen zu verbinden. Aus dieser inneren Kraft heraus und durch eine herzliche Verbindung zum anderen können wir Konflikte so angehen und lösen, dass das Leben aller bereichert wird.

 

Gandhi hat festgestellt, dass unsere natürliche Fähigkeit des Mitfühlens sich wieder entfaltet, wenn die Gewalt in unserem Inneren nachlässt. In diesem Sinn nennt Marshall Rosenberg seine Methode »gewaltfrei«.

In diesem Buch lernst du einen aus vier Schritten bestehenden, leicht verständlichen Prozess ken­­­nen. Er kann dir helfen, das bunte Vielerlei deiner Gedanken, Wünsche, Vorstellungen, Gefühle und Interessen zu entmischen und so neu zusammenzusetzen, dass du im Umgang mit deinen Gefühlen und Bedürfnissen zunächst weniger und dann irgendwann keine Gewalt mehr brauchst – weder gegen dich selbst noch gegen andere.

Du kannst dann sagen, wie es dir geht, ohne gleichzeitig Stolpersteine in den Fluss eurer Kommunikation zu rollen. Und du kannst verstehen, was mit dem anderen los ist, ohne dich von bissigen, verletzenden Formen seiner Aussagen beirren zu lassen.

Selbst unserer Anerkennung und unserer Dankbarkeit wachsen kraftvollere Flügel, wenn wir sie im Sinn der Vier Schritte ausdrücken und unsere Beziehungen starten damit zu ungeahnten Höhenflügen. Dazu später mehr im Kapitel über Wertschätzung.

Überhaupt ist jeder innere Dialog, jeder Austausch mit einem Mitmenschen geeignet, um die Lebendigkeit und Tiefe der »Einfühlsamen Kommunikation« zu genießen! Das Kind braucht nicht erst in den Brunnen zu fallen, unsere Gespräche müssen gar nicht erst in Konflikte eskalieren, um die Früchte dieses Prozesses zu ernten.

Häufig haben wir einfach nur keine Idee, wie wir aus den sich aufschaukelnden Teufelskreisen von Angriff und Gegenangriff aussteigen können. Die Gewaltfreie Kommunikation weist uns einen Weg, auf dem wir einander in Gesprächen und Konflikten unsere Gefühle zeigen und darüber sprechen können, was wir wirklich brauchen. Sie ermutigt uns, unsere Vorurteile und Feindbilder fallenzulassen und zu riskieren, andere Menschen wieder unvoreingenommen in ihren guten Absichten wahrzunehmen.


In dieser wohlwollenden Atmosphäre wächst und gedeiht unsere Bereitschaft, uns auszutauschen und für alle fruchtbare Lösungen zu finden. Da wir als soziale Wesen in vielerlei Hinsicht bei der Erfüllung unserer Bedürfnisse voneinander abhängig sind, gewinnen wir damit alle. Die Ge­waltfreie Kommunikation ist eine Sprache, in der unsere Herzen lebendig werden und unsere Verbindungen direkt, warm und offen.

Vielleicht regen sich bei dem einen oder anderen jetzt zweifelnde oder skeptische innere Stimmen? Mir ist bewusst, dass sich die Gewaltfreie Kommunikation mit manchen unserer gewohnten Vorstellungen und Selbstverständnissen reibt. Ich bitte dich, deine zurückhaltende Freundin Skepsis und deinen misstrauischen Freund Zweifel mitzunehmen, damit sie sich selbst einen Eindruck verschaffen. Ich verspreche ihnen, dass die Gewaltfreie Kommunikation ihnen in Zukunft viel Arbeit abnehmen wird!

Die Symbole Wolf und Giraffe

»Die Wahrheit ist nur wahr, wenn auch ihr Gegenteil in ihr Platz hat.«

Rudolph Mann

Gemeinsam mit Wolf und Giraffe tanzen wir durch die Seiten dieses Büchleins. Der Wolf ist der Experte für die uns allen sehr vertraute, vom bewertenden und interpretierenden Denken geleitete Art zu sprechen und zu hören. In diesem Büchlein hilft er uns zu erkennen, warum unsere Auseinandersetzungen mit anderen manchmal trotz bester Absichten ganz anders verlaufen, als wir uns das wünschen. Die Giraffe zeigt uns dann, wie wir dieselben Situationen fruchtbar transformieren können.

Die Giraffe spricht und hört ganzheitlicher als der Wolf. Im Gegensatz zum Wolf kann sie ihre Gefühle und Bedürfnisse in das Gespräch einbeziehen. Das ist ein wesentliches Element der »Gewaltfreien Kommunikation«, weshalb sie auch »Einfühlsame Kommunikation« genannt wird.

Natürlich kommen Wolf und Giraffe mit ihren Ausdrucks- und Verständigungsweisen in Wirk-lichkeit nicht in Reinkultur vor. Es gibt keinen Menschen, der nur Wolf ist oder nur Giraffe! Beides sind Kommunikationsstile, die wir mit jedem Gesprächspartner, in jedem Moment, in jeder Situation anders gefärbt und gewichtet verwenden. Manchmal bin ich ein Wolf mit Giraffenflecken, ein andermal eine Giraffe, die auf Wolfspfoten tanzt.


Die auf Dominanz und Bewertungen ausgerichtete Wolfssprache beherrschen wir automatisch. Dachte ich zumindest zunächst. Genau genommen beherrschte sie jedoch mich, denn sie ist die kulturelle Mutter- und Vatersprache, in der wir von klein auf leben und die unser Denken geprägt hat.

Gelegentlich habe ich erlebt, dass tierliebe Menschen es als ungerecht empfinden, dass der Wolf bei dieser Rollenverteilung so schlecht wegkommt. Solltest du etwas Ähnliches empfinden, bitte ich dich, dieses Büchlein durchzublättern und dir die Zeichnungen anzuschauen. Ich hoffe, dass auf diese Weise meine herzliche Wertschätzung auch für den vordergründig oft beißenden Kommunikationsmodus des Wolfes spürbar zum Ausdruck kommt!


Ein Blick ins Giraffenparadies

»Die Welt in der wir leben, entsteht aus der Qualität unserer Beziehungen.«

Martin Buber

Hier kommt nun eine erste Kostprobe der Einfühlsamen Kommunikation, ein kleiner Dialog in der so genannten »Giraffensprache«.

»Wenn du so schnell fährst, fühle ich mich un-wohl.«

»Hast du Angst, dass etwas passieren könnte?«

»Ja, ich bin ein bisschen besorgt – und ich kann bei dem Tempo die Landschaft auch gar nicht genießen. Bitte fahre etwas langsamer!«

»Okay! Ich freue mich ja darüber, dass wir zum Vergnügen unterwegs sind. Ich fühle mich doch noch etwas angespannt vom Job. Was hältst du davon, wenn ich dort vorne am Restaurant anhalte und wir auf der Terrasse einen Kaffee trinken?« »Oh! Das gefällt mir!«

Wäre es nicht wundervoll, wenn unsere Gespräche so ablaufen würden? Und wenn das nicht nur zufällig in Sternstunden geschähe, sondern wenn wir ein klares Handwerkszeug hätten, damit wir uns bewusst so ausdrücken können, dass diese herzliche Verbindung entsteht?

Marshall Rosenberg hat einen Prozess von vier aufeinander folgenden Schritten entwickelt, in denen wir davon sprechen, wie es uns geht und was wir brauchen, um uns besser zu fühlen. Diese vier Schritte bilden die Brücke, über die wir aus unserer bisherigen »normalen« Art der Kommunikation in das Giraffenparadies gelangen. Ich stelle sein Modell hier kurz vor und gehe später ausführlich auf jeden einzelnen Schritt ein.

1. Schritt: Beobachten – ohne zu bewerten

Im ersten Schritt sage ich, was genau der Anlass ist, weshalb ich dieses Gespräch beginne. Wichtig ist, dass ich keine Bewertung in meine Aussage hineinmische.

Was genau war der Auslöser, auf den ich reagiert habe? Was habe ich gesehen oder gehört?

Wenn ich sage: »Du kommst 20 Minuten nach dem Filmanfang!«, drücke ich aus, was ich beobachte. Sage ich: »Du kommst schon wieder zu spät!«, mische ich hinein, was ich davon halte.

2. Schritt: Fühlen – ohne zu interpretieren

Im zweiten Schritt spreche ich mein Gefühl an. Ich kann z.B. ängstlich sein, froh, betroffen, frustriert, berührt oder traurig. Sage ich hingegen: »Ich fühle mich von meinem Chef übergangen!«, drücke ich aus, wie ich ein bestimmtes Verhalten meines Chefs interpretiere.