Toxische Männlichkeit. Erkennen, reflektieren, verändern. Geschlechterrollen, Sexismus, Patriarchat, und Feminismus: Ein Buch über die Sozialisierung von Männern.

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Toxische Männlichkeit. Erkennen, reflektieren, verändern. Geschlechterrollen, Sexismus, Patriarchat, und Feminismus: Ein Buch über die Sozialisierung von Männern.
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Sebastian Tippe

TOXISCHE
MÄNN
LICH
KEIT

Erkennen, reflektieren, verändern


Für Jamie und Laurin!

1. Auflage 2021

© 2021, edigo Verlag GmbH, Köln

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

www.edigo-verlag.de

ISBN 978-3-949104-01-5

eISBN 978-3-949104-04-6

Umschlaggestaltung: Irina Rasimus, Köln

Umschlagfotos: © Guenter Albers, Mix and Match Studio, Olivier Le Moal/shutterstock

Satz: Silvia Kretschmer, Düsseldorf

Druckherstellung: oeding print GmbH, Braunschweig

Die Zertifizierung mit dem V-Label garantiert ein 100 % veganes Druckprodukt.

Alle Bestandteile, wie Papiere, Farben, Lacke und Klebstoffe sind frei von tierischen Inhaltsstoffen.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort von Christina Mundlos

1.Einführung in das Thema

1.1Einleitung

1.2Die soziale Konstruktion von Geschlecht

2.Wo zeigt sich toxische Männlichkeit?

2.1Männer als Gewalttäter

2.2Männer im öffentlichen Raum

2.3Männer am Arbeitsplatz

2.4Männer und Sexualität

2.5Männer in der Familie und Partnerschaft

2.6Männer und ihre Gesundheit

2.7Zusammenhang von Antifeminismus, Antisemitismus und Rassismus

3.Wie kann toxische Männlichkeit abgebaut werden?

3.1Selbstreflexion

3.2Männer als Gewalttäter

3.3Männer im öffentlichen Raum

3.4Männer am Arbeitsplatz

3.5Männer und Sexualität

3.6Männer in der Familie und Partnerschaft

3.7Männer und ihre Gesundheit

3.8Forderungen

3.9SHESPECT – Unterstützung für Frauen bei Hate Speech und Sexismus e. V.

3.10Gruppe „Toxische Männlichkeit – erkennen, reflektieren und verändern“

3.11Feministische Jungenarbeit

3.12Methodenbeispiele

4.Erfahrungsberichte

5.Perspektive

6.Literaturverzeichnis

„Toxische Männlichkeit, die mit Gewaltbereitschaft, Dominanzgehabe und Kriegstreiberei einhergeht, ist nicht die Natur des Mannes, sondern, wie wir heute aus der Interdisziplinären Patriarchatskritikforschung wissen, Ergebnis des Missbrauchs von Männern durch das Patriarchat, denn nicht nur Frauen werden durch das Patriarchat missbraucht, sondern auch viele Männer. Es ist Zeit, dass wir uns gemeinsam von den patriarchalen Gehirnwäschedogmen befreien.“

Kirsten Armbruster. Autorin, Naturwissenschaftlerin & Patriarchatskritikerin

„Männer gewinnen ihre Menschlichkeit zurück, wenn sie sich vom traditionellen beschränkenden Männerbild befreien, und können sich dann aufs Neue mit sich selbst verbinden, mit anderen Männern, mit Frauen, mit ihrem Partner, mit Kindern und mit der Welt.“

Jens van Tricht, Autor von „Warum Feminismus gut für Männer ist“, Gründer von Emancipator, Aktives Mitglied der ‚Steering Committee‘

„Frauen leben im Durchschnitt fünf Jahre länger als Männer. Allein dieser Umstand sollte eigentlich Argument genug dafür sein, sich auch aus männlicher Sicht mit dem Zusammenhang von Fürsorge, Care-Arbeit und Selbstsorge zu beschäftigen. Die durchschnittlich kürzere Lebenserwartung von Männern ist ein Problem, das wir angehen könnten, würden wir uns trauen, das aktuelle Männlichkeitsbild schon bei der Erziehung von Kindern infrage zu stellen. Es setzt auf Unabhängigkeit, Abenteuer und Coolness und vermittelt schon kleinen Jungen: Sei alles, bloß kein Mädchen! Empathie und Rücksichtnahme dagegen sei weiblich, so vermittelt nicht nur Werbung, die sich um Babynahrung oder Erkältungsmedizin dreht. Langfristig führt dieses Rollenbild dazu, dass Männer meinen, Schmerzen aushalten zu müssen bzw. nicht zugeben zu dürfen, dass sie infolge (zu) spät zu fachärztlichem Personal gehen, höhere Risiken eingehen und deshalb mehr Unfälle haben im Straßenverkehr und bei gewaltvollen Auseinandersetzungen. Anstatt Jungen andere Wege der Konfliktbewältigung oder des positiven Gefühlsausdrucks zu eröffnen, ihnen zu ermöglichen, Schwäche, Unsicherheit und Trauer zu zeigen, werden sie darin bestätigt, ein „echter Kerl“ zu sein“.

Almut Schnerring, Autorin von „Die Rosa-Hellblau-Falle. Für eine Kindheit ohne Rollenklischees“ sowie „Equal Care: Über Fürsorge und Gesellschaft“

„Das Patriarchat schadet allen Menschen – Frauen und Männern. Männer sind vordergründig Profiteure der einseitigen Machtverteilung. Das müssen sie auch reflektieren und lernen, sich zurückzunehmen, um sich von den Ideologien des Patriarchats zu befreien. Denn: Das traditionelle Bild des starken, ewig-potenten, erfolgreichen Mannes engt den Handlungsspielraum von Männern extrem ein. Nach wie vor fehlen für Jungen männliche Vorbilder, die ein vielseitiges Bild von Männlichkeit zeigen – zwischen den Abziehbildern des Superhelden und den angeblichen Opfern des Feminismus, die sich vor allem unter Väterrechtlern und Maskulisten zeigen. Dazu braucht es das Wissen um unsere vorpatriarchale Herkunft und unsere soziobiologische Veranlagung. Menschen haben nur aufgrund von Kooperation und Empathie in einer mutter- und damit lebenszentrierten (matrifokalen) Lebensweise so lange überleben können. Die massiven Probleme der heutigen Zeit wurzeln in der Entstehung des Patriarchats: Der Erkenntnis von Vaterschaft im Rahmen der Viehzucht vor ca. 6.500 Jahren. Dieser Zeitraum ist ein Wimpernschlag unserer Evolution, hat aber gereicht, uns an den Rand unserer Selbstzerstörung zu führen. Daher gehört auch Vaterschaft in der bis heute verherrlichten (sic!) und ideologisch verinnerlichten Form gehörig hinterfragt, damit wir wirklich tragfähige Konzepte des Zusammenlebens und Überlebens entwickeln können. Die heute noch auf wenigen Orten der Welt existenten matrifokalen Lebensgemeinschaften zeigen: Auch Männern geht es deutlich besser in dieser eigentlich unserer Veranlagung entsprechenden Lebensform. Gewalt – insbesondere geschlechtsspezifische Gewalt – existiert nicht, wenn Frauen wirtschaftlich dominieren. Die Menschen sind insgesamt glücklicher.“

Rona Duwe, Patriarchatskritikerin

Vorwort von Christina Mundlos

Toxische Männlichkeit durchzieht unsere Gesellschaft in sämtlichen Bereichen. Die Auswirkungen spüren Frauen täglich. Egal, ob sie auf dem Bürgersteig ausweichen müssen oder die Beförderung nicht bekommen, ob sie vergewaltigt, belästigt oder gestalkt werden, ob sie ihre eigenen Bedürfnisse verdrängen und die aller anderen befriedigen müssen, ob sie mal wieder zum Hepeating des Kollegen applaudieren sollen oder massiv von Altersarmut bedroht sind. Ich selbst habe so gut wie alle der toxischen Verhaltensweisen von Männern, die im Buch beschrieben werden, schon erlebt. Viele davon mehrfach täglich. Diese Zustände sind eben nicht nur strukturell bedingt, sondern werden täglich von Millionen von Männern mit ihrem Alltagshandeln hergestellt und bestätigt. Wir könnten hier von DOING TOXIC MASCULINITY sprechen.

 

Dieses Buch ist ein Wegweiser für Männer, die Unterstützung brauchen bei der Suche nach all ihren toxischen und sexistischen Verhaltensweisen und der Veränderung dieser. Insbesondere der erste Teil bietet einen umfassenden Überblick über die verschiedenen Aspekte toxischer Männlichkeit. Im zweiten Teil geht es dann ans Eingemachte: Männer werden zu einer „Entgiftungskur“ aufgefordert, die es in sich hat. An schlechten Tagen befürchte ich, dass man das Gift vermutlich nur noch mit einem sehr großen Bunsenbrenner wegflammen kann. An guten Tagen setze ich auf den Einfluss der wenigen radikalfeministischen Männer wie Sebastian Tippe. Das vorliegende Buch ist daher ein sehr guter Anfang. Schlussendlich zeigen die vielfältigen Erfahrungsberichte von Frauen und Männern, dass toxische Männlichkeit mitten unter uns ist.

Es mag für Männer ein heilsamer Schock sein, wenn ihnen beim Lesen des Buches und der Auseinandersetzung mit dem Ausmaß toxischer Männlichkeit das Lachen vergeht. Leserinnen sollten aber gewarnt sein: Es empfiehlt sich nicht unbedingt, das Buch am Stück zu lesen, denn die Fülle an Benachteiligungen und das Ausmaß der Gewalt gegen unser Geschlecht kann sehr aufwühlen und belasten. Auch wenn viele Aspekte toxischer Männlichkeit bekannt sind, ist es bedrückend und frustrierend, sich mit allen gleichzeitig zu befassen. Ich habe bereits selbst sieben Bücher über Sexismus und Diskriminierungen geschrieben und musste beim Lesen pausieren, da das gesamte Bild, das aus den einzelnen Puzzle-Teilen entsteht, erschreckend ist. Deshalb ist dieses Buch so bitter nötig. Sebastian Tippe hält mit seinem Buch Männern den Spiegel vor und bietet damit einen Blick auf die negativen Einflüsse von toxischer Männlichkeit auf unsere Gesellschaft, die die meisten wohl lieber verdrängen möchten.

Es bleibt zu hoffen, dass dieses Buch von vielen Männern gelesen UND beherzigt wird. Auch, wenn vielleicht die weiblichen Leserinnen überwiegen werden. Männer werden von Sebastian Tippe zum Umdenken ermutigt. Frauen könnte die Lektüre dazu anregen, ihre angestaute Wut in feministische Aktivitäten zu kanalisieren. Zudem kann es entlastend wirken, dass sich ein Mann hier derart deutlich solidarisch mit Frauen positioniert. Schließlich bleiben feministische Statements von Männern oftmals Lippenbekenntnisse – spätestens, wenn es um die eigenen Privilegien geht. Das wird beispielsweise auch am Thema Pornografie und Prostitution deutlich. Selten sind Männer bereit, auf das Privileg zu verzichten, einen Frauenkörper kaufen und benutzen zu können. Tippe positioniert sich aber auch hier klar und bereichert sein Buch mit einem Bericht von Huschke Mau.

Darüber hinaus sind vor allem auch die Tipps und Methoden für die Mädchen- und Jungenarbeit sehr wertvoll und sollten daher bei SozialarbeiterInnen, Schulen und Jugendämtern Beachtung finden.

Das Buch stellt einen sehr wichtigen Beitrag dar für die Problematisierung und das Aufbrechen der schädlichen typisch männlichen Verhaltensweisen.

Christina Mundlos

1. Einführung in das Thema
1.1 EINLEITUNG

Toxische Männlichkeit – der Begriff ist in aktuellen Diskursen über übergriffiges Verhalten von Männern und (sexuelle) Gewalt gegen Frauen durch Männer in den sozialen Netzwerken, in journalistischen Artikeln, aber auch in anderen Formaten wie in Podcasts, im Radio oder TV angekommen und wird kontrovers diskutiert. Seit der #metoo-Bewegung, die ihren Anfang mit dem Weinstein-Skandal Mitte Oktober 2017 nahm und eine weltweite Bewegung anstieß, im Rahmen derer Mädchen und Frauen erstmals öffentlich das enorme Ausmaß sexueller Belästigungen und sexueller Übergriffe/Vergewaltigungen sichtbar machten, werden patriarchale Strukturen, strukturelle Benachteiligungen von Frauen und Sexismus sowie Gewalt durch Männer mehr und mehr thematisiert.

Die Firma Gillette präsentierte 2019 einen Werbeclip mit dem Titel „We Believe: The Best Men Can Be“, der problematische Anteile männlicher Sozialisation aufzeigt. Auffällig sind die enormen Gegenreaktionen auf den Clip und die Kommentare in den sozialen Netzwerken von Männern, die sich vehement gegen die Kritik an dem Konstrukt „Männlichkeit“ wehren. Der Begriff „Toxische Männlichkeit“ wird von vielen als Angriff gegen sie selbst, ihre „Männlichkeit“ und ihre Identität verstanden und als „Kampfbegriff“ abgetan. Es wird in den aktuellen Diskursen deutlich, dass Männer sich als pauschaler Vergewaltiger an den Pranger gestellt fühlen. Vergewaltigungen stellen ein extremes Ausmaß des Kontinuums von toxischer Männlichkeit dar, denn natürlich sind nicht alle Männer Vergewaltiger. Das Kontinuum beginnt sehr viel früher und sehr viel differenzierter: bei alltäglichen Denk-, Verhaltens- und Präsentationsweisen. Und diese schaden nicht nur Frauen und anderen durch Männer diskriminierten Menschen, sondern auch ihnen selbst.

Es entsteht aktuell nach und nach ein gesellschaftliches Bewusstsein (mit enormen Gegenbewegungen) für alltägliche Situationen, in denen Männer toxisches Verhalten zeigen, bis hin zu der Erkenntnis, dass neben der Benachteiligung und Diskriminierung von Frauen, Gewalt gegen Frauen inklusive den Themen Prostitution, Pornografie, „Pick-Up-Artists“ und Incels, Amokläufe, Religionen, rassistisch und antisemitisch motivierte Gewalt, Massentierhaltung, Klimazerstörung sowie Regierungsoberhäupter wie Donald Trump, Wladimir Putin oder der nordkoreanische Diktator Kim Jong-Un Symptome einer patriarchalen Welt und toxischer Männlichkeit sind.

Das Thema, das in der Soziologie und in der Geschlechter- und Frauenforschung kein neues ist, erhitzt nun die Gemüter unter dem Label „Toxische Männlichkeit“.

Die gewaltigen Gegenreaktionen auf das Video von Gillette und andere öffentliche Infragestellungen von Männlichkeit sind erschreckend: Der Clip vom 14. 01. 2019 wurde bis Anfang 2021 rund 36 Millionen Mal angesehen und erhielt auf YouTube 800.000 Likes gegenüber 1,6 Millionen Dislikes. Ähnliche Erwiderungen waren zu beobachten, als Hannover als erste große Stadt Deutschlands in ihren Behörden genderneutrale Sprache einführte und somit vom generischen Maskulinum abwich, bei dem bisher Mädchen und Frauen mitgemeint sein sollten, ohne jedoch explizit genannt zu werden. Offensichtlich fühlen sich Männer bedroht, wenn Männlichkeit und die Vorstellungen von Männlichkeit thematisiert und kritisiert werden. Seit dem antisemitisch motivierten Attentat in Halle (Saale) vom 9. Oktober 2019, bei dem der Täter unter anderem dem Feminismus die Schuld an seiner Situation gab, um somit sein Handeln zu legitimieren, werden zudem verstärkt die Parallelen zwischen rechten, antisemitischen und antifeministischen Einstellungen auch abseits des Hörsaals und wissenschaftlicher Literatur diskutiert.

Sehr deutlich wurde die Angst von Männern um ihre Vormachtstellung, als die 16-jährige Klimaaktivistin und das Gesicht der Fridays-For-Future-Bewegung Greta Thunberg ihre Rede auf der UN-Klimakonferenz in New York am 24. September 2019 hielt und die weltführenden Politiker und Politikerinnen fragte, wie sie es wagen könnten, die Welt zu zerstören („How dare you?“). Greta Thunberg wurde daraufhin im Netz beleidigt aufgrund ihres Geschlechts, ihres Alters, ihres Aussehens, ihrer Größe, ihrer Herkunft, ihrer Zöpfe – die in Verbindung mit der NS-Zeit gebracht wurden – oder ihres Asperger-Syndroms. Es wurden in den sozialen Netzwerken Vergewaltigungs- und Ermordungsfantasien gepostet und eine ihr nachempfundene Puppe mit einer Schlinge um den Hals wurde an einer Brücke in Rom aufgehängt. Die Angriffe gegen Greta Thunberg sind persönlich, und sie kommen vor allem von Männern.

Als im Jahr 2020 die Corona-Krise die Welt in einen Ausnahmezustand stieß, wurden patriarchale Strukturen deutlicher denn je: Das Erziehungs-, Betreuungs-, Pflege- und Gesundheitssystem sowie der Einzelhandel mit Nahrungsmitteln werden auch in der Krise fast ausschließlich von Frauen gestemmt. Diese ermöglichen erst, dass das gesellschaftliche Leben und die notwendigen Versorgungen und Betreuungen aufrecht erhalten werden – und dies, während Frauen völlig unterbezahlt sind. Parallel waren es ebenfalls Frauen, die flächendeckend ehrenamtlich kostenlos Masken nähten und ihre Arbeit, wenn möglich, ins Home Office verlegten, während sie sich zeitgleich um die Kinder kümmerten und ihnen Hausunterricht erteilten. Der Großteil der Väter ging wie gewohnt der Lohnerwerbstätigkeit nach – auf der Arbeitsstelle oder ebenfalls im Home Office, nur meist ohne sich um die Kinder zu kümmern, sie zu fördern und zu beschulen. Teilweise verlegten Väter ihr Home Office sogar in Hotels anstatt nach Hause. Die patriarchale Gesellschaft ließ zudem viele Frauen, die ohnehin hilflos und ungeschützt waren, allein zurück. Darunter fallen vor allem Mütter, Alleinerziehende – also ebenfalls in der Regel Mütter – sowie beispielsweise Prostituierte. Erschreckend waren zudem die gewaltige Zunahme von häuslicher Gewalt durch Männer sowie Femizide. Das Corona-Virus legte den Finger in die Wunde und offenbarte die hässliche Fratze des Patriarchats.

Ich möchte mit Hilfe des vorliegenden Buches zur Auseinandersetzung mit all den Problemen männlicher Sozialisation ermutigen. Durch Reflexionsprozesse können sehr viele der problematischen Verhaltens- und Denkmuster durchbrochen und verändert werden. Ausschlaggebend dafür ist die Einsicht, dass das eigene Männlich-geworden-Sein problematische Anteile besitzt und es sich lohnt, diese näher zu betrachten und an ihnen zu arbeiten, um sie mit neuen Handlungs- und Denkoptionen zu überschreiben. Dies ist anstrengend und erfordert sehr viel Reflexion und Durchhaltevermögen. Eine Gesellschaft auf Augenhöhe ohne patriarchale Strukturen und ohne Gewalt durch Männer ist aber nur erreichbar, wenn männliche Geschlechterstereotype aufgebrochen und dekonstruiert werden. Dies führt nicht nur zu einer gleichberechtigteren und gewaltfreieren Gesellschaft, sondern auch dazu, dass die Lebenserwartung von Männern steigt. Es muss dabei jedoch nicht erst bei erwachsenen Männern, sondern bereits im Erziehungs- und Bildungssystem angesetzt werden.

Ich möchte alle Männer und Jungen, pädagogischen Fachkräfte, Erziehende, Feministinnen und Feministen, Politikerinnen und Politiker sowie Interessierte dazu einladen, sich mit Hilfe des vorliegenden Buches der eigenen toxischen Anteile (und denen der anderen) bewusst zu werden, um daran zu arbeiten, diese zu verändern, Privilegien soweit wie möglich abzulegen, das patriarchal geprägte gesellschaftliche System zu hinterfragen, andere Männer zu sensibilisieren und Frauen im Kampf um Gleichberechtigung zu unterstützen.

Wir (Männer) werden niemals nachfühlen können, was es bedeutet, auf allen Ebenen strukturell benachteiligt und permanent sexualisiert und objektiviert zu werden. Der erste Schritt für uns ist daher die Anerkennung von toxischer, mit Privilegien einhergehender Männlichkeit im patriarchalen und kapitalistischen System. Es ist ein Anfang, wenn wir beginnen, Frauen zuzuhören, ohne uns angegriffen zu fühlen, ihre Realität nicht infrage stellen und sie auf dem Weg zu einer gleichberechtigen Gesellschaft begleiten.

Es wird sicherlich frustrierende Momente geben, Momente, bei denen sich Lesende angegriffen fühlen, bei denen beschriebene Zustände abgestritten werden und gesagt wird, dass dies so nicht zutreffen würde. Es ist wichtig, sich für die Veränderungsprozesse Zeit zu nehmen. Die Erfahrungsberichte von Männern und Frauen sowie von Expertinnen und Experten sollen auf diesem Weg unterstützen.

Anmerkung: Ich verwende im vorliegenden Buch zum einen geschlechtsneutrale Bezeichnungen, zum anderen spreche ich aber ebenso explizit von Männern und Frauen. Dies ist wichtig, um die gesellschaftliche patriarchale Schieflage, die an Geschlechterzuschreibungen geknüpft ist, benennen zu können. Zudem werden jegliche Statistiken (Gehalt, Gewalt usw.) nach der gesellschaftlichen Dichotomie erhoben.

Auch, wenn das Ziel ist, die Verknüpfung von biologischen Aspekten (die nicht immer eindeutig sind, jedoch existiert eine bimodale Verteilung von Clustering-Eigenschaften) und der Annahme, wie sich Menschen verhalten sollen, was sie leisten können, wen sie lieben dürfen etc., aufzulösen, so leben wir aktuell in einer binär-eingeteilten Gesellschaft, deren Machtmechanismen eben durch die Aufteilung Mann – Frau funktionieren. Diese müssen klar benannt werden, um sie dekonstruieren zu können.

Ein in der Zukunft liegendes Ziel ist es, Zuschreibungen an Geschlechter abzubauen, wohlwissend, dass es Menschen gibt, die Kinder gebären können und andere mit Penis, die einen Beitrag zur Zeugung leisten. Das Problem ist nicht, dass wir sie Mann und Frau nennen, sondern dass wir ihnen bestimmte Fähigkeiten zuschreiben und eine ganz spezielle Performance von ihnen erwarten.

 

All diese Vorstellungen von Geschlechtern führen nur zu eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten und Diskriminierung, Benachteiligung und Gewalt, jedoch nicht zu einer individuellen friedfertigen Entfaltung.

Ich wünsche auf dieser nicht einfachen Reise alles Gute.

Sebastian Tippe,

Hannover 2021