Hab Frau, kann arbeiten!

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Über den Autor

Sebastian Dittié ist 1957 in Duisburg geboren. Er hat Reiseverkehrskaufmann gelernt und Betriebswirtschaft studiert. Von 2004 bis 2017 war er in der Personal- und Arbeitsvermittlung tätig. Daraus entstand diese Realsatire, die den Leser an die Hand nimmt und ihn an nicht zu erwartenden Abenteuern und ungewöhnlichen Erlebnissen teilhaben lässt.

Sebastian Dittié

Hab Frau, kann arbeiten!

Tagebuch einer Personalvermittlung

Engelsdorfer Verlag

2018

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2018) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Wetter, Uhrzeiten und andere Urgewalten

Floristik und allerlei Blühendes

Grüße aus Absurdistan

„Wünsch dir was“ und von Handtaschen sowie anderen Accessoires

Neues aus Absurdistan!

Krankheiten, Naturkatastrophen und andere Phänomene

Vollhorst-Bastelanleitung und lügen wie gedruckt

Weiteres aus Absurdistan

Nachwort

Vorwort

Dieses Buch erzählt von dem Alltag einer privaten Agentur, die den Vermittlungsspagat zwischen Arbeitgebern und Bewerbern sowie den Vorgaben und Beeinträchtigungen durch Arbeitsagenturen und Jobcentern versucht.

Ein heroischer Kampf mit dem Ziel einer versöhnlichen, friedlichen, für alle Seiten zufriedenstellenden Besetzung freier Stellen.

Zu den hier geschilderten Abläufen werden üblicherweise Vorbehaltsklauseln vorangestellt wie:

Ähnlichkeiten mit Personen sowie mit der Handlung selbst können nur zufällige Kollision zwischen blühender Fantasie und einer realistischen Begebenheit sein.

Oder die Schilderung wird mit dem Hinweis versehen:

Dieses Buch ist als Gebrauchsanweisung für professionelle Arbeitslosengeldbezieher nicht geeignet, da auch Angestellte der Arbeitsagenturen, Jobcenter oder ähnlichen Einrichtungen zu den Lesern gehören können.

Natürlich basiert dieses Buch auf tatsächlichen Ereignissen, die wir, meine Frau und ich, über Jahre während unserer Tätigkeit als Personal- und Arbeitsvermittler mit Behörden, Arbeitssuchenden, Firmen und sonstigen Zeitgenossen erleben durften.

Neben der alltäglichen Dokumentation sammelten wir von Anbeginn Besonderheiten, die nun im Tagebuch eines Arbeitsvermittlers zusammengefasst wurden. Die Namen der agierenden Personen wurden geändert.

Was noch zu sagen bleibt – ach, lesen Sie es selber.

Viel Vergnügen wünscht

Ihr Sebastian Dittié

Wetter, Uhrzeiten und andere Urgewalten

„Mist“, meine Frau stand am Fenster, welches zur Straßenseite zeigt. Sie stand und schaute, nichts weiter sagend bis auf dieses „Mist“.

„Ist was mit deinem Auto?“, fragte ich vorsichtig.

Wir leben in einer Wohnanlage, die aus Mehrfamilienhäusern besteht. Diese liegen an einer Sackgasse, in der wir auf beiden Seiten parken können. Die meisten Anwohner nutzen ihre zugewiesenen Stell- oder Garagenplätze nicht, sondern parken – mehr oder weniger aus Bequemlichkeit – auf der Straße. Gäbe es eine Möglichkeit, das Auto vor der eigenen Wohnungstür zu platzieren, so würde vermutlich ausschließlich diese genutzt werden. Da wir nur über einen Garagenplatz verfügen, aus beruflichen Gründen aber zwei Autos haben, muss eines immer an der Straße zwangsgeparkt werden. Nun gibt es unter den Anwohnern Einparkkünstler, die die Abstände zwischen zwei parkenden Fahrzeugen in vollem Umfang ausnutzen. Sie ändern erst auf ein geräuschvolles, knirschendes Alarmsignal hin, das nicht von einer elektronischen Einparkhilfe herrührt, ihre Fahrtrichtung. Um aus solchen Manövern resultierende Folgeschäden zu beseitigen, nutzen sie dann einen herkömmlichen Radiergummi, mit dem sie die Restspuren ihrer einzigartigen Einparkkunst an den beschädigten motorisierten Parkplatzbegrenzern zu vertuschen suchen. Dazu haben wir, ohne überheblich sein zu wollen, einige Erfahrung sammeln müssen, sodass meine Frage durchaus ihre Berechtigung hatte.

„Nein“, ertönte es knapp vom Fenster. „Wir haben schönes Wetter.“

Nun hätte vielleicht an einem Wochenende diese Aussage keine besondere Aufmerksamkeit erregt, aber heute war Freitag, also ein ganz normaler Wochentag. Allerdings hat schönes Wetter, dazu an einem Wochentag, insbesondere an einem Freitag, gravierende Auswirkung auf unsere Tätigkeit in der Arbeitsvermittlung.

Klar könnte man meinen, dass schönes Wetter – zumal kurz vor dem Wochenende – sich auf die Stimmung und Gemütslage positiv auswirkt. Hinsichtlich unserer beruflichen Aufgabe ist es jedoch eindeutig ein zwar nicht wissenschaftlich evaluiertes, jedoch bestehendes Vermittlungshemmnis. Wir mussten uns mental darauf einrichten, dass unser Plan für den heutigen Arbeitstag einer Änderung unterlag.

Bis zu dem Moment, als wir unser Büro betraten, spulte sich das obligatorische Aufsteh-Frühstücks-Wegfahr-Ankunfts-Standardprogramm ab.

In Hinblick auf die zu befürchtenden Vermittlungsstörungen durch das schöne Wetter ließ der erste Bürokaffee uns das Unumgängliche leichter ertragen.

Arbeitgeber sind vormittags und unter den genannten Wetterbedingungen leichter als Bewerber zu erreichen. Also verlagerten wir unseren Schwerpunkt. Wir beschäftigten uns zunächst mit dem Abfragen aktueller Mitarbeiterbedarfe, Rückfragen zu bereits Vermittelten und mit der Erledigung sonstiger Angelegenheiten des Arbeitgebers, sofern dieser nicht aufgrund einer Besprechung, Tagung, Konferenz, Messe, einem Geschäftsessen, Krankheit, Kur, Bildungs- und Erholungsurlaubs oder durch ein wichtiges Diktat mit der Sekretärin abgelenkt war.

An einem Freitag sind diese Aufgaben gemäß eines unserer Bürogesetze bis zum frühen Nachmittag umsetzbar. Je näher jedoch der Feierabend rückt, umso schwieriger gestaltet sich die Chance, Geschäftspartner zu erreichen. Diese sinkt schließlich gegen Null.

Das kräftige „Hallo“ meiner Frau riss mich aus meinen Überlegungen. Es kam so plötzlich und unerwartet, dass ich die Abspulroutine des „Arbeitsaufgabenbereichs bei schönem Wetter“ unverzüglich unterbrach und auf Erwartungsmodus umschaltete.

„Was ist passiert?“

Ich wandte mich in Richtung meiner mit mir verheirateten Kollegin, die hinter ihrem Computerbildschirm offensichtlich an Höhe gewonnen hatte. Ihr Kopf ragte auf einmal über das EDV-Equipment hinaus und war klar und deutlich und in voller Größe zu erkennen. Piloten können bei unvorhergesehen eintretenden Ereignissen anhand ihres Bordhandbuchs die für den Sonderfall vorgesehenen Checklisten prüfen und diese Punkt für Punkt abarbeiten. Einen Simulator oder ein entsprechendes Bordhandbuch für besondere Situationen gibt es für Arbeitsvermittler nicht. So ging ich intuitiv an die Sache ran. Vergewissernd, dass das schöne Wetter noch anhielt, die Temperatur nicht übermäßig angestiegen war, konnte ich zunächst eine Fata Morgana innerhalb unseres Büros ausschließen. – Abgehakt, es handelte sich nicht um irgendeine Erscheinung.

Also musste es einen anderen Grund geben, der das sekundenschnelle Anwachsen der mir Gegenübersitzenden ausgelöst hatte.

Mit meiner in den Jahren gewachsenen „Büro-Forensik-Erfahrung“ und der damit verbundenen Kombinationsfähigkeit konnte die Ursache nur im laufenden Gespräch liegen. So entschloss ich mich, meine Aufmerksamkeit auf das geführte Telefonat zu richten.

„Ja, dann telefonieren wir besser nochmals am Montag. Erreiche ich Sie dann auch zu Hause?“, setzte meine Frau soeben ihr Gespräch fort. Die Antwort musste positiv ausgefallen sein, ich vernahm deutlich: „Gut, dann rufe ich Sie gegen neun Uhr vormittags an.“

Etwas seltsam kam mir dann aber doch das Ende des Telefonats vor: „Dann wünsche ich Ihnen ein schönes Wochenende, gute Erholung und viel Spaß!“

 

Gute Erholung und viel Spaß? Also krank und doch belustigt?

„Was war das denn?“, fragte ich neugierig nach.

„Oh, mach dir dazu keine Gedanken, es ist schönes Wetter, somit stellen wir mal wieder das Schönwetter-Vermittlungshemmnis-Phänomen fest, das du mir doch ständig bei dessen Eintreten predigst!“

Eine schon fast vorwurfsvoll anmutende Antwort meiner mir gegenübersitzenden, leicht grinsenden Kollegin.

„Das war eine Bewerberin auf die Verkaufsposition in Grömitz, die sich heute über E-Mail beworben hat. Sie hatte aber jetzt keine Zeit, mit mir zu sprechen, da sie im Strandkorb sitzt und sich von der Sonne eine dunklere Pigmentierung verpassen lässt! Das ‚Hallo’ entschlüpfte mir, als sie mir mitteilte, dass sie, statt über Arbeit zu sprechen, doch lieber am Strand liegen wolle, wobei ich eigentlich nur stören würde.“

Eine Antwort, die keine weiteren Fragen offenließ und erneut bestätigte, dass schönes Wetter kontraproduktiv für eine zügige Vermittlungstätigkeit ist. Blieb die Frage: „Hat die Bewerberin denn überhaupt echtes Interesse?“

Wir entschlossen uns, dieses am Montag zu klären, und uns keine weiteren Gedanken zu machen. Die machte sich die Bewerberin ja schließlich auch nicht.

Leider geht es uns immer wieder so, dass wir das Wochenende gefühlsmäßig ausblenden und dem Eindruck erliegen, wir würden uns unmittelbar nach Verlassen des Büros am Freitagnachmittag nahtlos montags früh wieder dort einfinden. Wir stellen uns Woche für Woche immer wieder die gleiche Frage: „Wo ist eigentlich das Wochenende geblieben?“

Unser Kalender scheint falsch zu sein, unsere Woche verfügt nur über fünf Tage, Samstag und Sonntag existieren nicht. Aber das ist eben nur ein Eindruck, denn die Wochenenden gibt es ja schon und zwar für diejenigen, die an diesen Tagen arbeiten müssen. Diese Erfahrung habe ich selbst in der Vergangenheit über mehrere Jahre gemacht.

Der Montag hatte begonnen und wir saßen über der allwöchentlichen Morgenbesprechung, die allgemein mit der Prüfung der „To-do-Liste“ beginnt:

1 Wetter prüfen: es nieselt – gute Grundvoraussetzung.

2 Bewerberin vom Freitag anrufen – nicht so gute Ausgangsposition.

3 Am Wochenende eingegangene Bewerbungen sichten, prüfen, bewerten, bearbeiten.

Und so weiter und so weiter und so weiter …

Nachdem wir noch schnell ein paar Informationen ausgetauscht hatten, reanimierten wir unseren Arbeitsbereich aus dem Wochenendkoma und starteten in den gewohnten Vollmodus gemäß dem Motto: „Good morning, Vietnam“, aus dem gleichnamigen Spielfilm.

„Wieso erreiche ich denn nur die Bewerberin nicht? Wir hatten uns doch am Freitag telefonisch verabredet!“, konstatierte meine Frau ärgerlich, zog die Schultern hoch und legte den Hörer wieder auf.

„Vielleicht befindet sie sich ja gerade an einem Ort, wo sich nur selten ein Telefon befindet?“, lächelte ich beschwichtigend.

„Quatsch, wir haben klar und deutlich neun Uhr abgemacht. Wenn es einer ernst mit seiner Bewerbung meint, kann ich wohl erwarten, dass er auch zur verabredeten Zeit zur Stelle ist!“

„Versuch es doch noch mal und warte ab, bis die Verbindung automatisch abgebrochen wird. Wenn du das mehrmals im viertel- oder halbstündlichen Abstand probiert hast und deine Bewerberin immer noch nicht erreichst, kannst du sie direkt in der KDV ablegen. Das Interesse deiner Kundin wird dann gar nicht so sehr ausgeprägt sein.“

In der KDV werden alle jene Vorgänge erfasst, die noch nicht in die Vermittlung aufgenommen worden sind beziehungsweise aus verschiedenen Gründen bislang nicht aufgenommen werden konnten. Bei hoffnungslosen Fällen heißt diese Ablage scherzeshalber „Kannst-du-vergessen“-Datei. Hier landen nämlich auch alle die Bewerber, die bislang nicht erreicht werden konnten, deren Kontaktdaten nicht korrekt sind, die erhebliche Einschränkungen in Flexibilität aufweisen oder sich durch andere abenteuerliche Begründungen disqualifizieren.

Gerade da fiel mir dunkel ein, dass wir doch vor etwa drei Monaten eine Bewerbung erhalten hatten, in der die persönliche absolute Flexibilität besonders hervorgehoben wurde, wobei deren besondere Ausgeprägtheit in eindrucksvoller Weise präzisiert wurde. Um meinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen, fischte ich mir noch mal die entsprechenden Daten aus der KDV.

Ach ja, ich erinnerte mich nun, die Ausschreibung gab vor, dass sowohl der Samstag als auch der Sonntag als Arbeitstag vorgesehen waren. Und selbst im Bewerbungsanschreiben wurde dies zumindest erwähnt. Endlich hatte ich das Schreiben in der Hand. Mit einem Schmunzeln las ich folgende Zeilen:

Sehr geehrte Damen und Herren,

über Ihre Internetseite bin ich auf das Stellenangebot „Verkaufshilfe in Vollzeit gesucht“ aufmerksam geworden.

Da ich alle Voraussetzungen, wie die flexible Einsatzbereitschaft in allen Schichten innerhalb der Öffnungszeiten (werktags von 8–20 Uhr), uneingeschränkt erfülle und etwas Verkaufserfahrung mitbringe, möchte ich mich auf die ausgeschriebene Stelle bewerben.

So bin ich wie folgt flexibel einsetzbar:

Montag von 9.30–13.00 Uhr,

Dienstag von 10.00–12.30 Uhr,

mittwochs geht leider nicht,

Donnerstag 10.00–14.30 Uhr und

Freitag 9.00–12.00 Uhr.

Samstag ist Familientag, aus familiären Gründen schließe ich für mich die Arbeit am Wochenende generell aus.

Sollte meine Bewerbung von Interesse sein, so bitte ich um die Einladung zu einem persönlichen Gespräch. Damit ich rechtzeitig planen kann, zirka 14 Tage vorab.

Über eine Berücksichtigung meiner Bewerbung freue ich mich und verbleibe

mit freundlichen Grüßen …

„Na endlich, wo waren Sie denn?“, tönte es mir entgegen. „Ich versuche schon die ganze Zeit, Sie zu erreichen. Was ist geschehen? Wir haben uns doch für neun Uhr verabredet, um das weitere Vorgehen betreffend Ihrer Bewerbung zu besprechen.“

Die Antwort war leider nicht zu verstehen, der Telefonlautsprecher war natürlich nicht aktiviert, sodass meine Neugierde im Augenblick des Geschehens unbefriedigt blieb. Denn aus Datenschutzgründen ist das Mithören nur dann erlaubt, wenn der Gesprächspartner hierzu sein „Okay“ gegeben hat, auch wenn die somit herrschende Beschränkung in diesem Fall nur mir galt, da ich als einziger Kollege meiner Mitarbeiterin und Ehefrau direkt vis-à-vis im selben Raum saß und sich keine weitere Person in Hörreichweite befand. So war ich auf Gedeih und Verderb auf meine Kombinationsfähigkeit angewiesen.

Ich stellte mich der Herausforderung und ging alle mir geläufigen Möglichkeiten durch, um mich schließlich für eine zu entscheiden. Mir fiel, bei aller Überlegungsanstrengung und gebotener Eile, nur eine ein:

– Abwarten! –

Zu weiteren Überlegungen kam ich nicht. Meine Frau hatte wohl meine Situation erkannt und erlöste mich aus meiner Anspannung.

„Ach, Sie haben bis jetzt geschlafen? Da habe ich Sie wohl aus dem Bett geholt? Aber wir waren doch für neun Uhr verabredet, es ist bereits elf Uhr dreißig. Sind Sie sicher, dass Sie sich auf die ausgeschriebene Stelle bewerben möchten, immerhin beginnt hier der Frühdienst um sechs Uhr!“

„Natürlich, wenn ich arbeite, wird das anders“, war die anzunehmende, aber sehr schwach wirkende Antwort, die ich zwar aufgrund der Stummschaltung nicht vernehmen, aber aus der eindeutigen Gestik und Mimik meiner Frau schließen konnte. Sie bat jedenfalls etwas genervt und leicht verärgert die Gesprächspartnerin um die rasche Nachreichung von noch fehlenden Unterlagen.

Eine taktische Notbremse, um das Gespräch vorzeitig zu beenden, die anzuwenden ist, wenn man von dem Gegenüber nicht mehr so überzeugt ist. So erhält der Bewerber eine letzte, aber auch allerletzte Chance, die drohende Absage abzuwenden. Wird diese Gelegenheit nicht entsprechend der Anweisung und im vollen Umfang wahrgenommen, ist für uns sein Gang ins Nirwana der KDV unumstößlich und unabwendbar. Eine Begnadigung oder Reinkarnation hat es bislang nie gegeben! Ein bewährtes Verfahren und inzwischen eines der ungeschriebenen Bürogesetze.

Wir stellen immer wieder fest, dass wir viele Arbeitslose, überwiegend Leistungsempfänger der Arbeitsagenturen oder Jobcenter, erst zu fortgeschrittenen Tageszeiten erreichen können. Eine Eigenheit, die man Studenten – scherzhaft mit einem „Guten Abend, meine Damen und Herren, guten Morgen, liebe Studenten“ – zuordnet. Neben dem bereits geschilderten Wetterphänomen ist auch die zunehmende Erreichbarkeit von Arbeitslosen zu fortgeschrittenen Tageszeiten aufzunehmen. Ein zweiter Absatz kann ergänzt werden, nämlich dass die uneingeschränkte zeitliche Flexibilität einiger Arbeitsloser einer sehr weitgefächerten, individuell auslegbaren Interpretationsbreite unterliegt.

Diese inoffizielle, vielleicht etwas despektierliche, Erfassung einer Gesetzesmäßigkeit begossen wir nun mit einem frischen Pott Kaffee, um die bis ins Detail entsprechend erarbeiteten wichtigen Ergebnisse gebührend zu würdigen. Und wenn dies nicht so zutreffend war, dann war es zumindest eine äußerst zufriedenstellende und eine gerne aufgenommene Ausrede, die Arbeit kurz zu unterbrechen.

An dieser Stelle sei gesagt, dass, hätten wir bisher alle in der Praxis bestätigten Gesetzmäßigkeiten mit einem Schluck Alkohol begossen, dies sich sicherlich zu einem ernstzunehmenden Problem entwickelt hätte. Also ist Kaffee eine angenehme Alternative.

Ein Phänomen, das sich ebenfalls auf unsere Arbeit auswirkt, sind große Sportveranstaltungen.

„Wie bitte? Das kann doch nicht wahr sein! Sie wollen mich hochnehmen, oder? Wo ist die versteckte Kamera?“, reagierte ich auf die Information eines Geschäftsführers, an dessen Unternehmen ich einen mit großen Vermittlungshemmnissen behafteten Arbeitslosen erfolgreich vermittelt hatte, der jetzt auf einmal der Arbeit ferngeblieben war.

Er hatte keinen Schulabschluss vorweisen können, mehrere Ausbildungen abgebrochen, und trotzdem konnte ich den Arbeitgeber zu einem vom Bewerber zu absolvierenden Praktikum überzeugen. Dies hatte er auch mit Bravour gemeistert und damit den Hauptgewinn, eine sozialversicherungspflichtige Vollbeschäftigung mit anständigen Sozialleistungen, gezogen. Und nun dies!

„Tja, das kam auch für uns überraschend“, startete der Firmenchef seine Erklärung. „Er fehlte schon letzten Donnerstag unentschuldigt und ist auch am Freitag nicht zum Dienst erschienen. Da ich von ihm einen guten Eindruck hatte, genau wie in Ihrer Einschätzung beschrieben, dachte ich mir, dass ich mal bei ihm anrufe. Sein Sohn erzählte mir dann, dass er wohl den Vier-zu-zwei-Sieg der deutschen Nationalmannschaft gegen Ecuador am Mittwoch zu sehr gefeiert hätte, sodass er den Freitag zur weiteren Reha hatte anhängen müssen.“

Eine endgültige Entscheidung zum Fortbestand dieses Arbeitsverhältnisses war zwar noch nicht getroffen worden, aber ich konnte mir gut vorstellen, dass dieses nur mehr auf sehr wackligen Fundamenten stand.

Überraschend war für mich die Erkenntnis, dass besonders während sowie unmittelbar nach großen sportlichen Ereignissen, unabhängig vom Endergebnis, eine plötzliche Epidemie auszubrechen scheint, welche speziell sportinfizierte Mitarbeiter von der Arbeit fernhält. Wobei es sich in der Regel um die Mitarbeiter handelt, die sich zu der Disziplin des einarmigen Reißens der „Ein-Liter-Dimension“, also des Biertrinkens, hingezogen fühlen.

Dass diese Disziplin, trotz breiten Zuspruchs, noch nicht olympisch ist, verwundert mich. Die Anerkennung als Breitensport wäre doch längst überfällig …

Es galt nun, zu retten, was zu retten war. Ich musste umgehend Kontakt zum Vermittelten aufnehmen. Eine tüchtige Zurechtweisung sollte das Arbeitsverhältnis und somit auch den Erfolg unserer Arbeit sichern.

„War das nicht zu heftig?“, fragte mich mein momentan einzig anwesender Lichtblick. Denn eine Chance zur Rechtfertigung oder auch nur zu einer Antwort hatte ich dem „Delinquenten“ während des gesamten Gesprächs nicht gegeben.

Aber ich fand es einfach zum Kotzen und hatte keine Lust mehr, mich für solche Flachpfeifen einzusetzen und unnötig Energie zu vergeuden.

Da saß ich nun und hatte eine Laune, die Milch sogar aus größerer Entfernung und in geschlossener Verpackung hätte gerinnen lassen. Wäre mir jetzt eine Bewerbung in die Finger gekommen, aus der gleichgeartete Vermittlungshemmnisse zu erkennen gewesen wären, ich hätte sie unverzüglich in die KDV-Ablage verbracht. Oder nein, wahrscheinlich hätte ich die Bewerbung sogar im Aktenvernichter versenkt, um eine Wiederkehr endgültig auszuschließen. – Wie kann man nur sein Leben und seine Zukunft wegen einer Sportveranstaltung gefährden?

 

„Hey, jetzt komm’ mal wieder runter!“

Die mir gegenübersitzende Fluglotsin wies mir geschickt eine für mich geeignete Landebahn zu, indem sie schlussfolgerte, dass eben gewisse Sportereignisse gewisse Urgewalten auslösen können.

So stellten wir eine neue Arbeitsvermittlergesetzmäßigkeit fest: Sportveranstaltungen wie Olympische Spiele, Fußballspiele und Turniere entwickeln eine eigene Arbeitsmoraldynamik.

Nach einer kurzen Debatte von schier endlosen dreizehn Sekunden einigten wir uns auf das von nun an zu beachtende Prozedere bei nennenswerten Sportveranstaltungen:

1 Da das Erreichen von Bewerberkunden und der Kontakt zu ihnen kurz vor, während oder unmittelbar nach einer Sportveranstaltung sehr schwierig ist, sollte die Arbeitsaufnahme nicht für diese Zeit, also kurz vor, während oder unmittelbar nach einer Sportveranstaltung, geplant oder mit dem Arbeitgeber vereinbart werden.

2 Bei Einstellungen empfiehlt sich das Studium des aktuellen Sportveranstaltungskalenders, längere Eingewöhnungszeiten sollten berücksichtigt werden.

3 Auch ist das Abbummeln von Überstunden unter Berücksichtigung von Sportveranstaltungen zu planen.

4 Mit Beginn und über die Dauer von Veranstaltungen ist mit geringerem Kundenverkehr zu rechnen.

Die Häufigkeit solcher Termine und Ereignisse auf das Gesamtjahr gesehen, zuzüglich der Summe der Schönwetterperioden, lässt einen Arbeitsvermittler schon ziemlich blass aussehen. Da bleiben unter dem Strich nur wenig tatsächliche Arbeitstage übrig. Rechnete man die Bewerbungen mit eingeschränkten und vermittlungshemmenden Vorgaben mit ein, ließe sich die benötigte Beschäftigungszeit eines Arbeitsvermittlers auf das Niveau einer Teilzeitkraft begrenzen.

Eine trübsinnige, deprimierende Überlegung, die aber zumindest auf diesen Montag nicht zutraf. Es nieselte immer noch und das Telefon hatte wieder sehr viel mehr geschellt als am Freitag.

Die Zeit war ebenfalls schnell vergangen und ein freundliches Rufen meiner Frau: „Hey, kommst du mit, wir haben Feierabend“, kam mir zur rechten Zeit. Ein Blick auf die über dem Kalender hängende Uhr ließ mit einem Schlag meine Laune steigen. Denn schließlich würde uns der nächste Tag erneut die Gelegenheit bieten, uns Gedanken über Wetter, Uhrzeit und anderer Urgewalten zu machen.

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