... und dann geschah es

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Sanne Prag

... und dann geschah es

Ein Mystik-Krimi

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorspann

NACHMITTAG

VORMITTAG, ZWEI WOCHEN SPÄTER

MITTAG

VORMITTAG, WOCHEN SPÄTER

SPÄTER VORMITTAG

AM NÄCHSTEN TAG

NACHMITTAG, ZWEI TAGE SPÄTER

ABEND

FRÜHER MORGEN

VORMITTAG

MITTAG

NACHMITTAG

ABEND

ABEND, SPÄTER

MITTAG DES FOLGENDEN TAGES

NACHMITTAG

NACHMITTAG SPÄTER

MITTAG ZWEI TAGE SPÄTER

NACHMITTAG

EIN ANDERER VORMITTAG

SPÄT NACHTS

VORMITTAG DARAUF

MITTAG

AM NÄCHSTEN VORMITTAG

NACHMITTAG

SPÄTER NACHMITTAG

ABEND

FRÜH

VORMITTAG

NACHMITTAG

NACHMITTAG

ABEND

NACHT

MORGEN

VORMITTAG

NACHMITTAG

SPÄTER NACHMITTAG

NACHT

MORGEN

MORGEN

NACHMITTAG

NACHMITTAG SPÄTER

DER NÄCHSTE VORMITTAG

NACHMITTAG

NACHMITTAG SPÄTER

NACHMITTAG

SPÄTER

NACHT

FRÜH

VORMITTAG

NACHMITTAG

NACHMITTAG

NACHMITTAG

SPÄT NACHTS

NACH MITTERNACHT

MORGEN

MORGEN

NACHTRAG

Impressum neobooks

Vorspann

Der Ort: Ein düsteres aber sehr kostbares Treppenhaus mit einem schön gearbeiteten Geländer, das in die Höhe stieg zu einem schwachen Licht. Ein Dom, vier Stöcke hoch, blaugrau, dämmrig.

Eine Frau im blaugrauen Mantel betrat das Haus. Ihr blasser Schal, der verhüllte Kopf machte sie unsichtbar, blass angepasst schien sie im Hintergrund zu verschwinden. Sie bewegte sich mit Vorsicht. Kurzes Anhalten, Lauschen, Atempause. Dann schlich sie weiter, ging auf Zehenspitzen. Lautlos, die Füße über den Steinboden tragend mit Stöckelschuhen. Über glatten Steinboden wegen der Reinigung, große blasse Platten. Der Stöckel durfte nicht aufsetzen, musste immer freischwebend in der Luft gehalten werden. Im ersten Stock rutschte sie aus. Es hallte durch den Dom. Sie fluchte leise und verschwand in einem dunklen Gang. Man hörte Schlüssel klappern. Ein Geräusch hinter der Türe nebenan! Frau Wallraff hatte die Schlüssel gehört! Warum waren Schlüssel verdammt noch einmal aus Metall und klapperten so. Aber das Geräusch hinter der Türe entfernte sich wieder. Tiefe Erleichterung, der Atemkrampf löste sich.

Es war finster, weil die Gangbeleuchtung wieder einmal ausgefallen war. Sie tastete nach dem Schlüsselloch steckte ihren Finger hinein um dann an der Hand entlang den Schlüssel einzuführen, aber er klemmte. Sie zog und schob ihn hin und her. Er drehte sich nicht. Dann kramte sie wieder in der Tasche. Ihre Hand verschwand im tiefen Raum, ihr Arm verschwand. Es dauerte eine gute Zeit. Sie zog einen sehr großen Schlüsselbund heraus und eilte zum Anfang des Ganges, wo immerhin schlechtes Licht herrschte. Sie schaute die Schlüssel in ihrer Hand unglücklich an.

Sie hatte eine Vision, eine Erinnerung, ein Bild aus der Vergangenheit: Tante Ida mit dem Rücken zur Türe, einen Arm hoch, wie einen gebrochenen Flügel, den anderen Arm unten durch. Sie nahm wieder den ersten, den verdächtigsten Schlüssel. Dann versuchte sie die gleiche Haltung einzunehmen und fand, dass sie in dieser Haltung ihr ganzes Gewicht gegen die Türe lehnen konnte und dann den Schlüssel drehen. So ging es verhältnismäßig leicht. Sie öffnete die Türe, die in den Gang hinaus klappte – und stand vor einer Wand, einer Wand von Angesammeltem.

Visionen wie die Mauern von Jerusalem, der Berg Sinai kreisten in ihrem Kopf und ein tiefes Ohnmachtsgefühl nahm Platz in ihrem unteren Rücken. Wie sollte sie diese Wohnung durchsuchen? Hilflose Panik setzte ein, unterbrochen von einem Schrei, der in der Tiefe verhallte, langsam die Bergwand hinunter. Grässlich, panisch, nicht erreichbar.

Ihr Entsetzen war plötzlich wieder da. Es ließ sie konfus werden, hilflos den auferstandenen Gespenstern ausgeliefert. Sie würde nie mehr irgendwo hinunter schauen können. Sie sah sich selbst nach hinten kippend, fallend, in rasendem Tempo dem Tod entgegen, klar erkennend: Das war das Ende, Schmerz und aus. Die scharfen Bergzacken genau unter ihr, sie sah sich zerbrochen, im nächsten Augenblick nicht mehr menschenähnlich am Fuße der Zacken liegen. Ich – das ist Menschenkörper – das ist Hände zum Greifen, Füße zum Gehen, Sinnliches, der Geschmack einer Zitrone, der Geschmack von Fleisch und Matzes, der Duft von Veilchen, die Frühling bedeuten, Hühneraugen und Müdigkeit. Das ist Ich, und nachher ist vielleicht der Geist im Raum geblieben, aber der Körper ist zerschmettert. Der größte Teil vom „Ich“ ist damit ausgeschaltet. Etwas, das warm gewesen, wurde kalt, zu hilflosem Stein. War da noch ein Rest? War noch etwas von Tante Ida da? Sie wusste nicht ob dieser Gedanke zu Ende gedacht werden sollte…

Der Moment, als Tante Ida stürzte, kam immer wieder. Unaufgefordert stand das Bild hinter ihren Augen und zog einen Krampf im Magen nach sich, sowie dieses Gefühl von Überforderung und Ausweglosigkeit.

Die Wand, die Wohnung, die Suche waren eine Folge des Todes, des Sturzes vom Bergpfad – denn sie stand in Tante Idas Wohnung.

Tante Ida hatte gesammelt. Und Esther musste den Schmuck finden, kostbaren Schmuck, den Tante Ida immer sorgfältig versteckt hatte. Sie musste durch diese Mauer durch. Da ihr die Trompeten fehlten, um sie zum Einsturz zu bringen, Gott gerade Pause machte und sie auch keinen Bagger hatte, musste sie das Problem selbst lösen, wie sie immer alle Probleme gelöst hatte, der kleinen Ida zuliebe.

 

Die kleine Ida war ihre Cousine, sowie die alte Ida Schwester ihrer Mutter war. Beide trugen den gleichen Namen. Die kleine Ida war immer schon ihr Schützling gewesen. Ein dunkles Gefühl von Mutterschaft trieb sie, immer für die kleine Ida zu denken, zu tun, zu planen und jetzt den Schmuck aus diesem Berg zu holen, aus dieser Arche der Einkäufe.

Die Wohnung war riesengroß und Esther wusste, dass Tante Ida sich nicht gerne von irgendwas getrennt hatte. Immer schon hatte sie aufgehoben, was sie heimtrug, alles, ohne Ausnahme. Jetzt war Esther einige Jahre nicht mehr in der Wohnung vorbeigekommen. Die Barrieren waren gewachsen.

War das Messietum? Esther kannte liebenswerte, ein wenig chaotische Messie-Menschen, die sich nicht trennen konnten, weil immer alles in Planung war, weil sie einfach keine Entscheidung treffen konnten. Die Dinge wurden gebraucht, weil dies oder jenes damit gemacht werden sollte. So war das bei Tante Ida nie gewesen. Nein, die Dinge waren nicht verplant, nicht für Tätigkeiten gedacht. Da war eher ein Drang, etwas einzuholen, wie wenn sie ein großes Schleppnetz ausgelegt hätte. Alles, was sich darin fing, war ihres. Sie trug es heim, scheinbar ohne irgendeinen Plan, was damit gemacht werden könnte.

Und wie bitte sollte Esther in diesem gewaltigen Depot die Wertsachen finden? Sie ringelte sich durch eine schmale Passage, die in dem hallenartigen Vorzimmer geblieben war. Die Passage führte sie in eine wirklich große Küche. Die Türe ging nicht ganz auf, und Esther hatte in Erinnerung, dass man niemals mit Gewalt eine Türe in diesem Haus aufschieben sollte. Niemals! Denn hinter der Türe könnte ein Papierstoß umfallen und man war gefangen. Sie spähte ums Eck. Natürlich war ein riesiger Papierstoß im Weg. Die Mitte des Raumes wurde von einem mächtigen Tisch eingenommen, der etwa einen halben Meter hoch mit Papier bedeckt war, anscheinend nicht zu Stößen geordnet. Da und dort machten sich kleine Haufen aus der Masse davon.

Sie hob vorsichtig einen kostbaren Seidenvorhang vor einer Etagere auf. Dort stand in Tante Idas eckiger Schrift `Fetzen zum Wegwerfen´. Sie ließ den Vorhang vorsichtig zu Boden gleiten. Neben der Küche war ein palastartiges Badezimmer aus weißem und schwarzem Marmor. Hier stand in großen Körben Wäsche, viel Wäsche. Auf mehreren Sesseln und kleinen Tischen lagen hohe, wackelige Stöße von Katalogen. Eine Wand war mit Plastikbehältern zugestapelt. Sie waren voll. Die hatte es beim letzten Mal noch nicht gegeben. Unter dem Waschbecken wurden Zeitungen gesammelt. Viele Zeitungen. Sie waren in den Jahren zu drei Stößen von je einem halben Meter angewachsen, gelegentlich durchfeuchtet, hatten sie sich zu einer Masse zusammengebacken, leicht gelblich, mit gewelltem Rand. Drei Kästen enthielten Kartons mit nie verwendeten Föhnen, Super-Haarstyling-Sets, Kerzenleuchtern und Schwimmreifen, Badematten usw.

Und wieder kam der Schrei. Scharf und panisch drängte er sich vor. Eine Mahnung an das Leben. Sie spürte ihn eiskalt im Nacken.

Er hallte von den Bergwänden wieder, war aber neben ihr im Badezimmer und war sehr stark. Viel stärker als der kleinen Brust von Tante Ida zuzutrauen gewesen wäre.

Die nächste Türe hatte früher ins Schlafzimmer geführt, - in einen mächtigen, ziemlich düsteren Raum, wie sie sich erinnern konnte. Es schien weiterhin Schlafzimmer gewesen zu sein. Das gewaltige Doppelbett stand auf einer Stufe und beherbergte Puppen. Sie füllten das Bett. Wo sollte da jemand schlafen? Alle hatten teure Gewänder an und glupschten mit ihren gläsernen Augen aus den Falten der Spitze und des Brokates. Einige waren sorgfältig zugedeckt und saßen dicht nebeneinander, fest eingepackt zwischen Decke und Polster, sie steckten fest in ihrem Kokon. Einige waren perfekte Babyrekonstruktionen, die Esther die Gänsehaut über den Rücken jagten. Tote Babies, die wie lebendig aussahen. Andere waren kleine Mädchen in schönen Kleidern. Es gab keine kleinen Jungen.

Der Rest des Raumes war voll mit Kartons und Truhen, übereinander gestapelt. Es gab noch mehr Puppen, vielleicht nicht die bevorzugten, nicht die Elite, denn sie waren nicht im Bett. Sie hatten aber auch kostbare Gewänder an. Einige Teddybären lagen herum und schauten aus den Kästen, vielleicht die Haustiere?

Das war wohl der Raum, in dem die wesentlichen Dinge aufbewahrt wurden. Sie würde hier ihre Suche beginnen. Zuerst wollte sie nur kurz durch die anderen Räume schauen. Es gab noch zwei große Zimmer. Das neben dem Schlafzimmer war toter Raum war nie benützt. Es hatte den leicht modrigen Zustand unbenützter Herzeige-Zimmer, in denen lange kein Leben vorbeigekommen war. Die Spitzendeckchen vergilbt, und alles von mumifiziertem Staub bedeckt, gewaltige Kristallschüsseln, die ihre Fracht an Haarnadeln, Glückwunschbillets und einzelnen Ohrringen behüteten, und rundum war bis an die Decke Gestapeltes.

Esther hoffte sehr, dass in diesem Zimmer nichts versteckt war, aber sicher konnte sie nicht sein. Sie schaute nur kurz ins letzte Zimmer. Dort wenigstens war kein Schmuck verborgen in dunklen Ecken.

Ein völlig anderer Raum. Ein anderer Mensch. Es war in Weiß mit wenig Hellblau gehalten und absolut rein. Hier gab es kein Papier, keine Lager von irgendetwas. Das Zimmer leistete Widerstand gegen die Welt der restlichen Wohnung. Das war schon immer so gewesen. Das Zimmer der kleinen Ida.

Esther wanderte wieder ins Schlafzimmer, krempelte sich seelisch die Ärmel auf und hob den Deckel einer chinesischen Truhe. Sie hatte Visionen von kompostierten Liebhabern aus jungen Jahren, deren mumifizierte Körper hier aufbewahrt wurden. Sie musste sich disziplinieren, um den Blick hinein zu versenken. Tante Idas Geist schaute über ihre Schulter. Am Grunde lag ein Hut, sonst nichts. Ein angenehmer Geruch von Sandelholz stieg auf.

Beim Rundblick stach ihr eine Holzkiste mit der Aufschrift einer Waffenfirma aus dem zweiten Weltkrieg ins Auge. Sie fühlte sich davon angezogen, die Kiste war verdächtig. Sie hob sie aufs Bett. Drin war ein Medikamentenlager gewaltigen Ausmaßes. Auch das hatte sich nicht geändert. Sie setzte sich aufs Bett, die Puppenaugen im Rücken. Sie öffnete jede Packung, jedes Döschen, leerte den Inhalt in die Hand und dann in einen großen Sack, der neben ihr stand. Aus der Aspirin-Packung rollte ihr ein Brillantring entgegen. Eine mit Rubinen besetzte Uhr gab‘s beim Kamillentee. Wo war nur der Aquamarin? Ihr Zauberring.

NACHMITTAG

Esther betrat ein Hotelzimmer, in der Hand ein Nylonsäckchen mit Schmuck. Das legte sie aufs Bett und begann sich auszuziehen, als ob ihr die Kleidung lästig wäre. Sie steckte den blassen Schal in den Papierkorb und hängte den blaugrauen Mantel an die Türe. Sie würde ihn zur Caritas bringen. Dann holte sie das neue Stück aus dem Kasten – ihren Traumschlafrock, rot, prächtig, aber völlig unpassend für einen Todesfall.

„Ida! Schaust du dann mal, was ich alles gefunden habe?“

Die `kleine´ Ida saß im Bett und hatte einen Puppenkopf in der Hand, den sie bemalte. „Das mach ich ihr zu Ehren.“, meinte sie und schaute intensiv in das Puppengesicht. Esther lächelte. „Es waren ziemlich viele im Schlafzimmer.“

„Ja, wie die von Engeln umgebene Madonna hat sie dort gelebt. Ihre Begleiter, Kinder, Diener, alles in einem waren die Puppen.“

„Schaust du trotzdem? Ich glaube, es fehlt noch Schmuck. Ich fürchte, ich muss noch einmal gehen.“

„Ich hab keine Ahnung. Hast du in den Medikamenten geschaut?“ fragte Ida zerstreut.

„Ja, da habe ich das alles gefunden, aber ich weiß nicht, ob es noch mehr gibt. Warum hat sie die Sachen eigentlich immer in die Medikamente gegeben?“

„Hat sie ja nicht“ murmelte Ida voll auf den Puppenmund konzentriert. „Waren auch mal zwischen den Büchern. Wir hatten immer Suchaktionen, wegen der Einbrecher.“

„Welche Einbrecher?“

„Sie hat‘s vor eventuellen Einbrechern versteckt, aber irgendwie nicht immer am gleichen Ort. Ich nehme an, sie wollte den Gewöhnungseffekt bei den Einbrechern vermeiden.“

„Hattet ihr denn einen Einbruch?“

„Nein, das wäre, glaube ich, schwierig geworden.“ Ida war nicht bei der Sache. Sie war sehr auf den Puppenkopf konzentriert, zu sehr. Ida wollte keine praktischen Probleme.

„Ich hab zwischen den Büchern geschaut. Gab es ein besonderes Regal?“

„Weiß nicht“ murmelte Ida. Sie malte gerade eine Braue. “Hast du den Urlaub schon gebucht? Auf den Bildern im Internet sieht man sicher, ob das Hotel rote Teppiche hat. Ich weiß eigentlich nicht, warum rote. - Sie können natürlich nicht mausgrau sein, und dunkelblau ist noch schlimmer.“

„Ida, mein Schatz, ich kann das nicht alles ausräumen. Die Wohnung hat 180 m2 und ist über vier Meter hoch, ich kann das nicht schaffen.“ Esther fühlte die Übermacht der Notwendigkeit, ein flaues Gefühl im Magen und Kreuzschmerzen beim Gedanken an die Herausforderung.

Ida malte die Braue mit großer Sorgfalt und wischte sie dann weg. „Wie kommst du drauf, dass du das machst?“

„Nun, wer sonst?“

„Ich weiß nicht“, meinte Ida und setzte den Pinsel mit großer Sorgfalt an.

Esther kam unter Druck. Sie musste eine Lösung finden. Ganz dringend eine Lösung. Die Wertsachen mussten heraussortiert werden aus dem allen, aus dem Berge Sinai. – Die guten ins Kröpfchen, die schlechten ins Töpfchen, fiel ihr ein. Nur, wo waren ihre hilfreichen Tauben? Sie lief beunruhigt im Kreis. `Selber machen´ stand in großen Lettern über ihren Gedanken, weil das immer dort stand. Allein schon der nebelhafte innere Vorwurf machte sie wütend. Sie wollte sich nicht wie ein Maulwurf durchgraben und nach Wertsachen in irgendwelchen Ritzen schnüffeln! Sie war dem Weinen nahe, aber keine Lösung in Sicht.

„Hast du Ezra schon gesagt, dass Mutter einen Unfall hatte? Wir haben ihn seit damals nicht gesehen. Das ist Wochen her. Vielleicht kann er auf einen Kaffee kommen? Ich möchte ihn gerne wieder treffen“, meinte Ida am Pinsel vorbei.

Ezra! Ja, Ezra und eine Studentenpartie. Das war die Lösung. Gut bezahlt, sehr gut bezahlt. Das war es! Für jedes Fundstück extra. Ezra war Spielgefährte aus der Nachbarschaft, Mitverschwörer, wenn auch um einiges jünger. Ezra, der immer auf Jobsuche war, um sein viertes Studium zu finanzieren, war die Lösung.

Esther machte ihrer Begeisterung Luft. „Ich bin froh, dass dir das eingefallen ist. Sehr erleichtert, denn ich muss ja in einer Woche wieder arbeiten, und dann wäre das Ganze schwierig geworden.“

Jetzt sah Ida das erste Mal von ihrem Puppenkopf auf, und sie war beunruhigt. Ihre großen, blassen Augen waren vor Schreck aufgerissen. „Wieso arbeiten?“

„Ida, ich bin eine arbeitende Frau, seit Jahren.“

„Sag deiner Firma, dass du nicht kommen kannst wegen einem Todesfall.“

„Das geht einen Tag wegen Begräbnis und Amtswegen, aber nicht viel mehr.“

Ida zog die Knie zur Brust und schlang ihre Hände um die Beine. Der Puppenkopf schaute leer mit einem Auge zur Zimmerdecke. Sie wirkte so sehr klein, obwohl sie eigentlich ein großes Mädchen war. Eigentlich war sie ja auch kein Mädchen, sie war 33, nur drei und ein halbes Jahr jünger als Esther. Aber dennoch war sie immer ein Mädchen, und das hatte sich nie geändert. „Du musst nicht arbeiten, wir haben genug Geld von Vaters Fabrik“, sagte sie fast trotzig.

„Stimmt schon, dass ich immer arbeiten musste, aber es ist befriedigend. Ich bin gut in dem, was ich mache. Mein Boss verlässt sich auf mich. Ich verstehe mich als arbeitende Frau.“

Ida dachte ernsthaft nach. Nach einer langen Pause fragte sie: „Was machst du denn da in deiner Firma?“

„Die Frage ist mehr, was ich nicht mache. Ich tue einfach alles. Überwache das Lager, erfinde Ausreden für den Boss, hindere den Polier alle 14 Tage daran, zu kündigen, stelle fest, wer in die Kassa gegriffen hat. Man nennt das Sekretärin…“

„Vielleicht kannst du meine Sekretärin werden? Ich zahl dir das Doppelte und du machst das Gleiche für mich“, sagte Ida einfach.

Esther kippte aus der Überlegung, wie sie Ida helfen, sie unterstützen, absichern konnte, in eine völlig neue Rolle. Ein Job, ein gut bezahlter Job, angemeldet und mit Krankenkasse. Pensionsberechtigt und wirklich gut bezahlt.

„Ok, aber ich habe Kündigungsfrist.“

„Sei frech, vielleicht entlässt er dich gleich. Oder sag, dass du schwanger werden möchtest.“

 

Ida in Not hatte viele Ressourcen.

„Was wäre denn jetzt zuerst wichtig? Ein Haus natürlich, ja. Du sagst, du willst nicht mehr in die Wohnung, und bei mir ist es auch nicht so angenehm, wolltest du ja auch nicht.“

Ida hatte ihr massivstes Problem geregelt und sah keinen Grund mehr zu planen. Sie rollte sich auf ihrem Bett ein und murmelte nur „Ja, ich glaube, wir brauchen ein Haus.“

„Wenn wir die Stadtwohnung verkaufen, geht sich ein schönes Haus aus.“

„Ich will die Wohnung nicht verkaufen. Ich will nur nicht drin wohnen.“

Esther musste Ida zwingen, das mit den Finanzen für sie sichtbarer zu machen, überblickbarer. Sie würde alles bezahlen müssen, Kostenvoranschläge einholen. Sie brauchte Unterschriften, Berechtigung für das Konto.

VORMITTAG, ZWEI WOCHEN SPÄTER

In Ezras Taschen klimperten Brillantohrringe aus der Kaiserzeit und ein Armband, von dem er nicht genau wusste, was es war - hatte er im Badezimmer in der Schüssel mit den kleinen Schwämmen gefunden, unten drunter. Es hatte sich also doch gelohnt, jedes Schüsselchen und jedes Döschen zu inspizieren. Waren es wirklich Brillanten oder nur Glas, oder vielleicht irgendein Bergkristall?

Seine Finger fühlten sich seit Tagen staubig an. Hubert hatte gestern tatsächlich die Mumie eines Hundes in einem Glaskasten gefunden. Ida musste wissen, was das zu bedeuten hatte.

Vieles wäre angenehmer, wenn Wolfgang mit von der Partie wäre, praktischer. Wolfgang, sein Kumpel aus der Volkschule, Begleiter seiner Lebensstationen bis zu diesem Tag, war ein Genie der kurzen Wege, aber leider keine Option, wenn es um Wertsachen ging. Wertsachen, die einfach irgendwo und überall auftauchen konnten, waren für Wolfgang eine Versuchung. In dieser unübersichtlichen Landschaft der Wohnung würden sie spurlos verschwinden. Edmund, Hubert und Hille musste er auch still und vorsichtig im Auge behalten. Aber die drei waren eher verlässlich und schließlich war er ziemlich sicher, dass er erkannte, wenn sie etwas gefunden hatten. Das wäre bei Wolfgang sicher nicht der Fall. Wolfgang war in jeder Hinsicht ein Profi. Ezra hätte ständig das Gefühl gehabt, dass gerade etwas in Wolfgangs Taschen gewandert war. Das kleine Plastiksäckchen mit Schmuck wäre deutlich dünner. Seine Konzentration, seine Fantasie, seine Beobachtung wären schnell überfordert, und die Wahrscheinlichkeit gering, dass er ihn erwischt hätte. Wolfgang war nicht leicht zu händeln, obwohl er die Sachen meist wieder hergab, wenn Ezra ihn direkt ansprach.

Den halben Vorraum und eine Wand im Bad hatte er mit Hille und Hubert geschafft. Edmund kam ja dann auch noch, obwohl er mehr Dichter als Arbeiter war, und der fröhliche Jörg war dann auch frei und half. Dann waren sie fünf und mussten die Herkules-Arbeit schaffen, den Augias-Stall. Es würde noch Wochen dauern.

Warum mussten Menschen so viele Kästen in einem hallenartigen Vorraum haben? Kästen, die bis an die Decke reichten. Papas Wintermäntel und Mamas Wintermäntel und Omas Wintermäntel und Wintermäntel von Personen, die es längst nicht mehr gab. Und in jede einzelne Tasche musste geschaut werden. Dann viele Koffer, noch Koffer und noch Koffer und alle voll. Ezra war gereizt und fühlte sich schimmlig, denn er hatte einige uralte Lederkoffermonster entfernt, mit einer dünnen, grünen Schicht. Job war Job, aber er mochte keine dünnen, grünen Schichten auf dickem, uraltem Leder. Die Versuchung war groß, gar nicht erst hineinzuschauen und das Ganze in die Mulde zu kippen, aber Esther hatte ihn gewarnt vor seltsamen Verstecken, Sie hatte ihm von den Einbrechern erzählt und dem Gewöhnungseffekt. Es fehlte noch einiges, auch ein Aquamarinring. Esther nannte ihn immer ihren Zauberring – und der konnte überall sein, wirklich überall.

Ezra schaute mit Abscheu auf die mächtige Küchenkredenz. Wegen der Einbrecher fehlte wohl der Schlüssel. War wahrscheinlich an einem sicheren Ort. An welchem sicheren Ort? Der Kasten war aus massiver Eiche und es ging nur das Mittelfach auf. Dort steckte ein Schlüssel, und er hatte leichtfertig angenommen, dass der auch Meister der anderen Messingschlösser war. War er nicht.

Küchenkredenzen sind aber besonders verdächtige Möbel, vor allem die Gefäße im obersten Regal. Wolfgang hatte ihm immer erzählt, dass jeder Einbrecher dort zuerst seine Hände darüber gleiten ließe. Münzen, kleine Wertsachen, Schlüssel von Bankschließfächern mit einem Zettelchen mit der Nummer, alles da.

Da kam Hille mit tief gefurchter Stirne ums Eck. „Wir haben einen Fischeranzug gefunden, und in seiner Tasche war das da.“ Er hielt Ezra ein Stück Papier hin, feines Papier. Drauf stand in großen, wackeligen Lettern: Ich weiß, dass Schluss sein muss. Keiner kann das anders regeln. Ich habe vieles versucht, vielleicht nicht alles. Aber alles ist es wohl nie. Irgendetwas bleibt immer offen. Abschied von allem, weil es sein muss, nicht weil man es so gewünscht hat.

War das ein Brief zu einem Selbstmord? Ein Abschied? Eine Drohung oder vielleicht nur eine Erklärung, bevor irgendjemand nach Amerika fuhr? Wer hatte das geschrieben?

Ezra überlegte kurz und meinte dann: „Danke Hille, ich werde es Ida zeigen.“

Verdammt noch einmal, was hatte der wirklich gefunden? Normalerweise war Hille einfach und gradlinig. Nichts Hintergründiges an Hille, aber jetzt hatte er etwas bei Seite gebracht. Er würde dann in Hilles Taschen schauen müssen beim Duschen.

Der Brief war seltsam beunruhigend, auch wenn er eigentlich nichts damit tun konnte. Papier mit einer Drohung? Ein Brief voll Bedauern, aber auch voll Wut. Papier war in diesem Haushalt das Lebendige. Es wuchs, wurde feucht, wieder trocken, wellte sich und wurde vielleicht auch einmal verwendet. Es war die lebendige Seele in diesen Räumen.

Zurück zur Kredenz.

Wo würde jemand wohl einen Schlüssel verstecken?

Auf jeden Fall in Reichweite.

Man kann nicht jedes Mal durch die ganze Wohnung laufen, wenn man in die Küchenkredenz muss.

Ezra blickte um sich und sah drei Stellagen und ein großes, breites weißes Ding, von dem er keinen Namen wusste. Nicht zu vergessen Tisch und Herd. Beide verfügten über eine Lade. Würde die alte Ida etwas in die untere Herdlade geräumt haben? Die gingen meist schlecht auf und waren sehr unbequem, so weit unten. Aber vielleicht wollte sie es den Einbrechern schwer machen?

Auf jeden Fall war weder in der Herdlade noch in der Tischlade ein Schlüssel. Die Stellagen schienen ihm zu offen, zu zugängig. Schlüssel wurden nicht in Freiheit gehalten. Sie mussten tief drin in Laden und in Gefäße gesteckt werden, ganz sicher, mit festen Türen. Frischluft wäre für versteckte Schlüssel sehr gefährlich. Also machte er sich an das große, breite, weiße Ding. Es war aus solidem Holz, musste mehrere Hundert Kilo haben. Etwa wie ein kleiner Eisenbahnwaggon. Beim Hineinsehen entpuppte es sich als eine alte Spüle. Man konnte die obere Platte aufklappen, und da gab es zwei Gusseisenkessel. Ezra klappte die Platte hoch, aber das war Schwerarbeit. Die alte Ida konnte das nicht mehr gestemmt haben. Er holte seine Taschenlampe und lugte hinein, da war auch nichts zu sehen. Er öffnete die Türen unten. Natürlich konnte ein so schöner Raum in diesem Haushalt nicht unverwendet bleiben. Am Boden unter den Kesseln hatte sich Papier angesammelt. Viel Papier. Erfahrung mit den anderen Räumen hatte ihm gelehrt, keine mögliche Ablage außer Acht zu lassen. Seine Hand tastete vorsichtig an dem Eisengrat entlang, der neben den Kesseln lief. Da lag ein Schlüssel. Es lag da aber noch etwas in einem Säckchen. Darin war eine Perlenkette, dazu passende Perlenohrringe und ein Brief. Es war ein alter Brief. Das Papier hatte Flecken der Zeit. `-rücksichtslos. Dieses Geschenk soll dir Tränen bringen. Vielleicht bringt dich das dazu, einmal wahrzunehmen, wer die Menschen sind, mit denen du lebst. Einzigartige Möglichkeit zu einer Pause der Herrschaft, und dann erfährst du das, was du immer schon hättest wissen sollen´……. Ein seltsames Geschenk? Eine Verwünschung? Wer sollte eine Pause der Herrschaft machen? Wer verlangte das von wem?