Freiheit und ihre Dialektik

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Freiheit und ihre Dialektik
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Sabine Hollewedde

Freiheit und ihre Dialektik

Kritik der Philosophie in der kritischen Theorie


An der Fakultät IV Human- und Gesellschaftswissenschaften der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg unter dem Titel »Die Dialektik der Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft. Kritik der Philosophie in der kritischen Theorie« eingereichte Dissertation. Erstgutachter: Prof. Dr. Ulrich Ruschig. Zweitgutachter: Prof. Dr. Hans-Georg Bensch.

Die Rosa-Luxemburg-Stiftung förderte die Arbeit durch ein Promotions-stipendium.

Das Institut für Philosophie der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und die Rosa-Luxemburg-Stiftung unterstützten den Druck finanziell.

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Satz: Germano Wallmann · Gronau · www.geisterwort.de

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ISBN Printausgabe 978-3-86674-638-1

ISBN E-Book-Pdf 978-3-86674-896-5

ISBN E-Book-Epub 978-3-86674-897-2

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.dnb.de› abrufbar.

Inhalt


Cover
Titel
Impressum
I Einleitung
II Kritische Theorie und Kritik der Philosophie
II.1 Die Kritik idealistischer Dialektik
II.2 Philosophie und der Erfahrungsgehalt von Gesellschaft
II.3 Das Subjekt des kapitalistischen Produktionsprozesses
II.3.1 Das widersprüchliche Wesen der bürgerlichen Gesellschaft
II.3.2 Erscheinungen des Subjekts ›Wert‹ im unmittelbaren Produktionsprozess
II.4 Der Fetischcharakter der Ware – Signum kapitalistischer Herrschaft
II.4.1 Der Grund für den Fetischcharakter der Ware
II.4.2 ›Fehlgeleitete Opposition‹. Kritik an der Hypostasierung des Fetischs
II.5 Die Kritik der Philosophie und die Kritik am Kapital
II.5.1 Folgen für eine kritische Theorie
II.5.2 Habermas’ Tilgung der Kritik der politischen Ökonomie
III Die Idee der Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft
III.1 Die transzendentale Idee der Freiheit
III.2 Die Antinomie der Moralphilosophie
III.3 Freiheit und Geschichte
III.3.1 Freiheit– Recht – Geschichte
III.3.2 Fortschritt
III.3.3 Der objektive Geist und der Erfahrungsgehalt der Hegel’schen Philosophie
III.4 Freiheit und Privateigentum in der klassischen deutschen Philosophie
III.4.1 Kants Begründung des Privateigentums
III.4.2 Das Scheitern der vernünftigen Herleitung des Privateigentums
III.4.3 Freiheit, Eigentum und Vertrag bei Hegel
Exkurs I: Zur ›Rekonstruktion‹ bürgerlicher Gesellschaft als Anerkennungsverhältnis
III.5 Individuelle Freiheit und Kapitalverhältnis
III.5.1 Die Freiheit der Warenbesitzer und der doppelt freie Lohnarbeiter
III.5.2 Die Einheit von Zirkulation und Produktion
III.5.3 Bürgerliche Freiheit und die Herrschaft des Werts
Exkurs II: Vertragsfreiheit im Kapitalismus
IV Die Dialektik der Freiheit und die Kritik des Kapitals
IV.1 Immanente Kritik des Kant’schen Begriffs der Freiheit
IV.2 Die Kritik der Hegel’schen Dialektik
IV.3 Die Kritik der Philosophie und die Befreiung
Literaturverzeichnis
Danksagung
Über die Autorin
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I Einleitung

Die bürgerliche Gesellschaft ist bestimmt durch den Widerspruch von Lohnarbeit und Kapital. Dieser Widerspruch ist Grundlage der Freiheit der Subjekte in dieser Gesellschaft, welche ihre Freiheit mittels Unterwerfung unter den Zweck dieses herrschenden widersprüchlichen Verhältnisses verwirklichen und durch die Verwirklichung ihrer Freiheit das Kapitalverhältnis reproduzieren.

 

Gegenstand der Philosophie ist die Freiheit. Seit der Aufklärung und insbesondere seit der Kant’schen Philosophie ist die Freiheit der Subjekte Zentrum der philosophischen Reflexion. Unhintergehbar ist die Erkenntnis der klassischen deutschen Philosophie, dass die Subjekte durch ihre Vernunft als Freiheitswesen zu bestimmen sind und damit ihre Würde bewiesen ist. Doch was bedeuten diese Freiheit und Würde angesichts ihrer Verwirklichung im Kapitalismus? Was bedeutet die Verwirklichung dieser Idee in der bürgerlichen Gesellschaft für die Idee der Freiheit? Philosophie ist gerichtet auf Wahrheit, und zwar auf einen emphatischen Begriff von Wahrheit, in welchem es um die »ernstesten Dinge« geht.1 Einer Philosophie, die ihrem Weltbegriff2 gerecht zu werden strebt, geht es um den Ausdruck der Erfahrung der zerstörerischen Widersprüche kapitalistischer Herrschaft – nicht um deren rationale Kittung: »man möchte fast sagen [was Philosophie inspiriert, ist; S. H.]: den Schmerz in die Mittel des Begriffs übersetzen.«3 Der die bürgerliche Gesellschaft prägende Widerspruch wird zu einem Widerspruch in der Philosophie und lässt ihre Ideen dialektisch werden. In der Erkenntnis und in dem Aussprechen dieser Dialektik liegt die Aufgabe von Philosophie. Kritische Theorie ist deshalb wesentlich Kritik traditioneller Philosophie.

Kritische Theorie der Gesellschaft hat sich nicht äußerlich einer traditionellen oder idealistischen Theorie gegenübergestellt, sondern ist nur bestimmbar durch die Kritik idealistischer und positivistischer Theorie. Marx, der Adorno und Horkheimer mit der Kritik der politischen Ökonomie als Begründer einer kritischen Theorie der Gesellschaft galt, hat die Kritik idealistischer Philosophie mit der Kritik der kapitalistischen Gesellschaft verknüpft und nicht gegen die traditionelle bürgerliche Auffassung von der kapitalistischen Gesellschaft eine eigene materialistische Weltanschauung gesetzt. »Materialismus ist seitdem keine durch Entschluß zu beziehende Gegenposition mehr, sondern der Inbegriff der Kritik am Idealismus und an der Realität, für welche der Idealismus optiert, indem er sie verzerrt.«4 Kritik am Idealismus und an der gesellschaftlichen Realität sind in der kritischen Theorie wesentlich verbunden. Adorno betont, dass die von Horkheimer geprägte Bezeichnung »kritische Theorie« nicht dazu dienen sollte, »den Materialismus akzeptabel zu machen, sondern an ihm zum theoretischen Selbstbewußtsein [zu; S. H.] bringen, wodurch er von dilettantischen Welterklärungen nicht minder sich abhebt als von der ›traditionellen Theorie‹ der Wissenschaft.«5

In einer Vorlesung über negative Dialektik betont Adorno, dass für ihn »die beiden Termini Kritische Theorie und Negative Dialektik […] das gleiche [bezeichnen; S. H.]. Vielleicht mit dem einen Unterschied, daß Kritische Theorie ja eben wirklich nur die subjektive Seite des Denkens, also eben die Theorie bezeichnet, während Negative Dialektik nicht nur dies Moment angibt sondern ebenso auch die Realität, die davon getroffen wird«6. Für Adorno waren also eine kritische Theorie der Gesellschaft und negative Dialektik nicht voneinander zu trennen, wobei negative Dialektik ›umfassender‹ begriffen wird als ein sowohl die subjektive wie die objektive Seite umfassender Begriff.

Anders sehen es viele zeitgenössische Interpreten, die Adorno zu einem philosophischen Klassiker stilisieren und negative Dialektik als eine philosophische Methode definieren. Im Vorwort zur Zweitauflage des Adorno Handbuch fassen die Herausgeber den Stand der Diskussion über negative Dialektik bzw. kritische Theorie zusammen: »Lange Zeit galten negative Dialektik und Kritische Theorie als zwei Namen derselben Sache. Das hat sich geändert. Es gibt auf der einen Seite die Überzeugung, dass Adornos Philosophie zwar von gesellschaftstheoretischen Motiven lebt, aber weder selbst eine Gesellschaftstheorie ist noch eine solche ersetzen kann. Auf der anderen Seite finden sich Autoren, die gezielt dialektisch arbeiten und das gerade um der Sozialwissenschaften willen und in deren Rahmen. Beide Tendenzen entwickeln in Auseinandersetzung mit Adorno Modelle, in denen Dialektik methodische Operationen strukturiert wie reale Verhältnisse beschreibt bzw. deutet.«7 Adorno hat hingegen hervorgehoben, dass er negative Dialektik nicht als bloße Methode versteht, sondern als die Objektivität, welche durch kritische Theorie nicht bloß beschrieben oder gedeutet, sondern immer zugleich kritisiert wird; zur subjektiven Seite der Theorie hin beinhalte negative Dialektik die kritische Theorie der Gesellschaft, wie sie Horkheimer als »ein einziges entfaltetes Existenzialurteil«8 bestimmte. Als ein »Problem in der Rezeption, das nicht selten in ein unterkomplexes Verständnis von Philosophie und gesellschaftlicher Veränderung abgleitet«, betrachten es dagegen die Herausgeber des Handbuchs, dass ihrer Diagnose nach die »Identifikation mit Adorno […] sich seit je mehr durch politische Positionierung als über die Kritik seines philosophischen Werks« bildete.9 Wenn aber für Adorno selbst diese Trennung zwischen kritischer Theorie und negativer Dialektik gar nicht infrage kam, so verfehlt die hier aufgemachte Alternative sowohl den philosophischen wie auch den politischen Gehalt der Negativen Dialektik. Dieser inwendige Zusammenhang von politischem und philosophischem Gehalt, die untrennbare Verbindung von Kritik der politischen Ökonomie und Kritik der Philosophie wird im Folgenden ausgeleuchtet.

Für eine kritische Theorie der Gesellschaft ist die Kritik der Philosophie der bürgerlichen Epoche zentral und mit Kritik der Herrschaft in der bürgerlichen Gesellschaft verknüpft. Im Anschluss an Marx, der in seinen Schriften zur Kritik der politischen Ökonomie die Funktion der die bürgerliche Wirklichkeit prägenden Ideale für die Fortsetzung von Herrschaft und die immanente Widersprüchlichkeit dieser Ideale darstellt, zeigen insbesondere Adorno und Horkheimer die Dialektik in den Ideen der klassischen deutschen Philosophie auf. In neueren Publikationen ›Kritischer Theorie‹ wird dagegen häufig hinter diese von Marx bereits vollzogene Verbindung von Kritik der Philosophie und Gesellschaftskritik zurückgefallen und die Forderung aufgestellt, normative Grundlagen zu rekonstruieren (s. Honneth) oder normative Maßstäbe der Gesellschaftskritik durch Kant auszuweisen. Die von Habermas proklamierte ›Wende‹ der ›Kritischen Theorie‹ basiert auf der Kritik an einer »Konzentration auf den Gegenstandbereich der Ökonomie«10, welcher auch Adorno und Horkheimer verhaftet geblieben seien.11 Die Frage nach der Begründung und Legitimität von Kritik sei somit erneut aufgekommen12, was Habermas mit seinem Entwurf einer »kommunikativen Rationalität« einleitet, welcher zur Grundlage einer kritischen Theorie werden müsse.13 Die Frage nach dem Verhältnis kritischer Theorie zur Marx’schen Kritik der politischen Ökonomie und zur Philosophie ist daher weiterhin zu stellen.

Die klassische deutsche Philosophie ist mit dem Aufkommen der bürgerlichen Gesellschaft historisch verbunden. Freiheit und Gleichheit wurden sowohl zu gesellschaftlichen Zielen wie zum Zentrum der Philosophie. Die Freiheit des Willens wurde mit der Einrichtung der bürgerlichen Gesellschaft zur Grundlage der Verfassung dieser Gesellschaft. Hegel feierte die Französische Revolution dafür, dass in ihr sich das »Prinzip der Freiheit des Willens […] gegen das vorhandene Recht geltend gemacht« habe14. »Der Gedanke, der Begriff des Rechts machte sich mit einem Male geltend, und dagegen konnte das alte Gerüst des Unrechts keinen Widerstand leisten.«15 Die Philosophie feierte diese Befreiung als Verwirklichung ihrer Ideen und sah ein Zeitalter der Vernunft hereinbrechen. Hegels Formulierungen hierzu sind sehr treffend, wenn er den Zusammenhang von Philosophie und Herrschaft gerade in Bezug auf die Verwirklichung des Prinzips der Freiheit des Willens bezieht: »Das Bewußtsein des Geistigen ist jetzt wesentlich das Fundament, und die Herrschaft ist dadurch der Philosophie geworden.«16

Das Verhältnis von Vernunft und Wirklichkeit in der an Marx anschließenden kritischen Theorie arbeitet auch Marcuse in Vernunft und Revolution als die Entstehung der Gesellschaftstheorie im Anschluss an die Hegel’sche Philosophie heraus. Mit Marx, so Marcuse, ist die ›negative Philosophie‹ Hegels in eine kritische Theorie der Gesellschaft überführt worden, was ein notwendiger Schritt war: »Wenn es über diese Philosophie [die Hegel’sche Philosophie; S. H.] hinaus irgendeinen Fortschritt geben sollte, so mußte es ein Schritt über die Philosophie selbst hinaus sein, ein Schritt, der zugleich über die gesellschaftliche und politische Ordnung hinausging, mit der die Philosophie ihr Geschick verbunden hatte.«17 Wie dieser Schritt auszusehen habe, dies arbeitet die kritische Theorie – angefangen bei Marx – durch die kritische Auseinandersetzung mit idealistischer Philosophie heraus.18 Dabei stellt das Verhältnis von Vernunft und Wirklichkeit den Angelpunkt der Kritik dar. Marcuse: »Der Übergang von Hegel zu Marx ist in jeder Hinsicht der Übergang zu einer wesentlich anderen Gestalt von Wahrheit, die in den Begriffen der Philosophie nicht interpretiert werden kann.«19 Diese ›andere Gestalt von Wahrheit‹ ist an das besondere Verhältnis von Theorie und Praxis in der bürgerlichen Gesellschaft gebunden. »Wir werden sehen, daß alle philosophischen Begriffe der Marxschen Theorie gesellschaftliche und ökonomische Kategorien sind, während Hegels gesellschaftliche und ökonomische Kategorien allesamt philosophische Begriffe sind.«20 Adorno und Horkheimer waren seit Beginn ihrer Zusammenarbeit in den 1930er Jahren mit der Frage beschäftigt, wie eine andere Gestalt von Philosophie aussehen müsste und wie nach dem Scheitern des Hegel’schen Idealismus und auf Grundlage der Marx’schen Kritik der politischen Ökonomie Philosophie und Gesellschaftstheorie auszusehen hätten.21

 

›Kritische Theorie‹ wird in dieser Arbeit im engeren Sinne als dasjenige Theorie-Konzept verstanden, welches das Institut für Sozialforschung um Adorno und Horkheimer entwarf und fortentwickelte, wobei die Marx’sche Kritik der politischen Ökonomie als dessen notwendige Basis verstanden wird – was im Laufe der Arbeit begründet wird. Zur ›kritischen Theorie‹ werden hingegen nicht all jene sozialphilosophischen und soziologischen Theorien gezählt, welche heute auch unter diesem Label bekannt geworden sind und vermarktet werden: die sogenannte kommunikationstheoretische Wende, welche Habermas in den 1980er Jahren proklamierte, um die angeblich offene Begründungsfrage kritischer Theorie zu klären; die prominent von Honneth vollzogene Umdeutung kritischer Theorie in eine (dem Anschein nach) an Hegel anschließende Theorie der Anerkennung; auch die Versuche, die Marx’sche Theorie einer von politischen Implikationen bereinigten ›neuen‹ Lektüre zuzuführen. Derlei Entwicklungen können ihren Gegenstand nicht begreifen und stellen angesichts des Gegenstandes – der fortschreitend zerstörerischen kapitalistischen Herrschaft – eine Kapitulation der Theorie dar.

Solche Kapitulation, die zuallererst die Philosophie vollzog, widerspricht, so soll gezeigt werden, dem Anspruch der Philosophie selbst. In der klassischen deutschen Philosophie finden sich Widersprüche, welche nicht philosophie-immanent aufzulösen sind. Kritische Theorie hat an solchen Widersprüchen anzusetzen und muss ihnen auf den (gesellschaftlichen) Grund gehen. Im zweiten Kapitel werden daher Grundbegriffe kritischer Theorie in Bezug auf die Frage ›Was heißt Kritik der Philosophie?‹ herausgearbeitet. Dabei wird deren immanente Beziehung auf das Wesen der bürgerlichen Gesellschaft hervorgehoben. Es zeigt sich, dass die Kritik am Positivismus und am Idealismus in den Gesellschaftswissenschaften eine zentrale Bedeutung für die kritische Theorie hat. Entgegen verbreiteter Interpretationen ist die Marx’sche Kritik der politischen Ökonomie die Grundlage jeglicher kritischen Theorie. Deswegen sollen hier deren fundamentale Begriffe erläutert werden.

Im dritten Kapitel wird in Anlehnung an das zweite Modell der Negativen Dialektik der Begriff der Freiheit in der klassischen deutschen Philosophie und in der bürgerlichen Gesellschaft entfaltet. Ausgehend von der transzendentalen Idee der Freiheit, wie sie Kant in der Kritik der reinen Vernunft in einer Antinomie entwickelte und in der Kritik der praktischen Vernunft durch das moralische Gesetz positiv bestimmte, werden die Antinomien der Moralphilosophie auf die kapitalistische Verfassung der Gesellschaft bezogen. In einer Gesellschaft, in der das widersprüchliche Prinzip der Verwertung des Werts zum beherrschenden Subjekt geworden ist, steht auch die Moral(-philosophie) vor unauflöslichen Antinomien, was Adorno an Kant zeigte. Die Reflexion auf Moralphilosophie führt nicht zur Herstellung eines neuen moralischen Prinzips, sondern treibt Vernunft durch das Bewusstsein der unauflösbaren Antinomien dazu, den Bereich der klassischen Moralphilosophie zu überschreiten. Mit Hegel ist Freiheit historisch zu bestimmen. Das Unterkapitel zu »Freiheit und Geschichte« beinhaltet eine kritische Auseinandersetzung mit dem Hegel’schen Begriff des Weltgeistes. Mit der bürgerlichen Gesellschaft begann sich die Idee individueller Freiheit zu verwirklichen. Nachdem diese bürgerliche Gesellschaft durchgesetzt war, wurde diese Idee wirklich und herrschend. Die Idee der Freiheit ist, geht man von Hegel aus, mit dem kontinuierlichen Fortschreiten des Weltgeistes verknüpft. Dies gilt als ›historischer Fortschritt‹. Doch dieser ›Fortschritt‹, der über die Opfer des Fortschritts hinwegfegt, geht mit dem progressiven Voranschreiten der Akkumulation des Werts einher. Deswegen ist der Begriff des historischen Fortschritts von einer Dialektik erfasst, welche nicht hegelsch aufzulösen ist.

Mit Marx ist zu zeigen, dass und wie die Idee der individuellen Freiheit und die Herrschaft des Kapitals in eine Einheit getreten sind, was die Idee der Freiheit (ihren Begriff und ihre Wirklichkeit) verändert. Die Argumentation muss daher von der Begründung des Privateigentums in der klassischen deutschen Philosophie, die das Privateigentum als Realisierung der ideellen Freiheit betrachtete, mit ihren Aporien, die insbesondere in Auseinandersetzung mit der Kant’schen Philosophie herausgearbeitet werden, zum Kern der Sache übergehen, nämlich zum Verhältnis von Freiheit und Kapital. Das Kapital negiert nicht einfach nur die Freiheit der Subjekte, sondern stellt die historische Verwirklichung der Freiheit dar, weshalb Freiheit nicht zum positiv gesetzten Maßstab der Kritik dienen kann. Die Idee der Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft und die Durchsetzung der Herrschaft des Werts sind nicht voneinander zu trennen. In dieser Konstellation ist Freiheit historisch als Einheit von Freiheit und Unfreiheit wirklich geworden. – Und dies ist der Grund dafür, warum einer kritischen Theorie die Kritik der Philosophie wesentlich ist.

Das vierte Kapitel führt die Argumentationen zusammen und bezieht die Ergebnisse kritisch auf aktuelle (in der Tradition kritischer Theorie sich wähnende) Positionen in der Sozialphilosophie, welche eine solche immanente Kritik gerade nicht vollziehen, sondern entweder unkritisch an die traditionelle Philosophie anschließen oder aber gleich die Philosophie aus der Gesellschaftstheorie ausschließen wollen. Resümierend wird das Verhältnis von Kritik der Philosophie und Kritik der politischen Ökonomie in einer kritischen Theorie der Gesellschaft erörtert. Die Loslösung der kritischen Theorie von ihrer grundlegenden Basis und ihrem geistigen Kraftzentrum führt dazu, dass ›kritische Theorie‹ zur Legitimationswissenschaft gemacht werden kann.