Ländlicher Schmerz

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Ländlicher Schmerz
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Corinna Bille

 (1912–1979), schrieb zahlreiche Novellen und Romane (auf deutsch erschienen der Roman «Theoda» und der Erzählungsband «Schwarze Erdbeeren»). Sie war verheiratet mit dem Schriftsteller Maurice Chappaz.



«Corinna Bille entstammte einer der großartigsten europäischen Landschaften, dem Wallis, und obwohl sie leidenschaftlich gern reiste, blieb das Wallis ihr Lebensmittelpunkt, aus dem sie den ungeheuren Reichtum an Stoffen, Farben, Mythen und Menschen bezog, den ihr Schreiben auszeichnet. Corinna Bille war auch deshalb die Tochter dieses Landes, weil sie nicht nur stolz, stark, sehnsüchtig, träumerisch, innig und leidensfähig war, sondern eine Unbezähmbare.»

Peter Hamm, Die Zeit





S. Corinna Bille



Ländlicher Schmerz



Erzählungen



Mit einem Nachwort von Anne Cuneo



Aus dem Französischen von Elisabeth Dütsch



Limmat Verlag



Zürich






Für meinen Vater






LÄNDLICHER SCHMERZ



Dennoch tötet jeder, was er liebt, und

 alle sollen es wissen: Die einen tun es

 mit einem hasserfüllten Blick, andere mit

 zärtlichen Worten, der Feige mit einem

 Kuss, der Tapfere mit einem Schwert!



Oscar Wilde




Die Heilige



Ihre Augen waren kalt wie das Wasser und wechselten die Farbe wie das Wasser – je nach dem Grund, je nach dem Himmel … Sie hatte viel zu langes rotes Haar: Bis auf die Füsse fiel es ihr hinunter. Jeden Tag brauchte sie eine Stunde, um ihre Zöpfe zu flechten, aber sie weigerte sich, sie kürzer zu schneiden. Ihr Haarknoten sah nicht aus wie der von anderen Frauen; er war so gross und schwer, dass er den ganzen Nacken und den Ansatz der Schultern bedeckte. Sie hatte eine gerade Nase, reine Züge und eine so weisse Haut, dass sich jedermann darüber wunderte. Aber wer ihre schmalen, immer geschlossenen Lippen sah, bekam es mit der Angst zu tun.



So übermässig lang wie ihr Haar war auch das Goms, wo ihr Dorf lag. Ein ganz schwarzes Dorf, dessen Häuser sich dicht aneinanderdrängten und mit Eichhörnchenaugen auf einen Berg starrten, der auch ganz schwarz wurde, wenn das Wetter umschlug.



Als kleines Mädchen hatte man sie «Irrwisch» genannt; jetzt getraute man sich nicht mehr und sagte «Flavie», wie sie wirklich hiess. Aber auch jetzt noch wurde es heller, sobald sie die Dorfstrasse herunterkam.



Jeden Morgen ging sie zur Messe. Der Gemeindepriester schätzte sie hoch und führte sie als Beispiel an. Sie hatte fünf Brüder und zwei Schwestern. Der älteste Bruder war Missionar, der zweite Kartäuser, ein anderer Pfarrer im Unterwallis, der vierte Kapuziner, und der letzte studierte noch am Priesterseminar. Auch die beiden Schwestern waren geistlichen Standes. Die eine unterrichtete die Taubstummen im Kloster von Géronde, die andere lebte als Nonne im Kloster von Brig. Es hiess, Flavie habe sie alle dazu gedrängt, in einen ­Orden zu treten. Sie übte auf ihre Umgebung eine seltsame Macht aus. Es war eine solche Gewissheit in ihr, eine solche Willenskraft, gepaart mit einer grossen Sanftmut: Da blieb einem nichts anderes übrig, als sich zu fügen.



«Und sie? Warum ist denn sie nicht Nonne geworden?», erkundigten sich die unbequemen Frager. Die einen antworteten: «Das verbietet ihre zarte Gesundheit.» Die andern: «Es ist gut, wenn auch die Laien eine Heilige bei sich haben.» Die bösen Zungen gaben zu verstehen: «So fällt ihr die ganze Erbschaft zu.» Sie blieb also daheim bei ihren schon betagten Eltern. Der Vater und zwei Knechte kümmerten sich um die Güter und das Vieh; die Mutter ging manchmal noch mit aufs Feld hinaus. Im Übrigen besorgte sie die Küche. Flavie rührte kaum eine Arbeit an. Es wäre ihnen nicht in den Sinn gekommen, von ihr zu verlangen, dass sie auch Hand anlege. Erstaunlich bei Bauern: Sie begnügten sich mit Flavies Schönheit, ihrem Wissen, ihrer Tugend. Vielleicht erinnerten sie sich an die Geschichte von Maria und Martha.



An der Kirchweih tanzte sie nie. Sie war jedoch immer dabei, etwas abseits auf einer Anhöhe, von wo sie das Fest überblickte. Die jungen Leute hatten ihre Absagen satt und luden sie nicht mehr zum Tanzen ein. Um sie herum bildete sich eine Leere, als hätte sie einen Zauberkreis gezogen, und mitten drin stand sie unantastbar, sehr aufrecht, mit zusammengepressten Lippen.



Die Männer sahen trotzdem zu ihr hinüber; das konnte sie ihnen nicht verwehren. Merkte sie es überhaupt? … Während sie sich im Takte drehten, warfen sie ihr dann und wann einen fragenden Blick zu und vergassen darob ihre Tänzerinnen. Einer vor allem sah sie an. Ein unbeholfener Junge mit Augen voll Zärtlichkeit, Germain. Schon lange liebte er sie und sprach mit keinem darüber.



Am Anfang macht einen die Liebe glücklich, auch wenn sie fast hoffnungslos ist. Das brennt heiss in Blut und Seele. Man kennt sich kaum mehr aus: Die Berge haben eine andere Färbung, der Himmel auch, und das Dorf fängt an, dem Paradies zu gleichen, weil sie darin wohnt. Und jedes Mal wenn man ihr begegnet, ist es, als bekäme man ein schönes Bild geschenkt … Man verbirgt es sorgfältig im Herzen, um es später in aller Ruhe zu betrachten, wie man es in den Kindertagen mit den Bildchen machte, die einem ein herumziehender Kapuziner in die Hand drückte und auf denen Engel zu sehen waren mit glänzenden Flügeln und Heilige in goldenen Gewändern. Aber bald merkt man, dass diese Liebe zu tief mitten im Herzen steckt, als dass man sie noch herausreissen könnte; dann ist sie kein Glück mehr, sie wird zur Qual. «Ah, wenn ich sie haben könnte, diese Frau, alle Tage, alle Nächte, ganz für mich!» Und diese Qual gibt einem ungeahnten Mut.



An der Kirchweih im April erkühnte sich Germain, Flavie um eine Polka zu bitten. An den Sonntagen und Festen war sie noch unnahbarer als gewöhnlich. An solchen Tagen schienen alle Frauen des Dorfes grösser als sonst. Das machten ihre bebänderten Hüte aus – jeder ein kostbarer Turm –, die ihnen die Würde von Statuen verliehen.



Als die Dorfleute Germain auf Flavie zugehen sahen, waren sie höchst überrascht und gespannt; sogar die Musik fiel aus dem Takt. Die einen lachten: «Die bekommt er nicht.» Die andern bewunderten ihn: «Der hat wenigstens keine Angst vor ihr!» Justines Gesicht verdüsterte sich, denn ­Justine liebte Germain. Und als er mit Flavie zurückkam, staunten sie alle. Das Paar erklomm den Tanzboden. Die Musikanten hielten einen Augenblick inne, dann legten sie los. Flavie, die sonst nie tanzte, war in Germains Armen geschmeidiger als ein Lärchenzweig.



– Irrwisch, sagte einer laut.



Und die andern wiederholten: «Irrwisch!»



Zuerst war Germain ganz benommen, seine Augen wurden blind und seine Ohren taub … Er begriff nicht, wie er das hatte wagen können. Aber jetzt, da er sie festhielt, seine Liebste, stieg die Freude wieder in ihm auf und auch der Mut. Er fing an, sie beim Tanzen zu betrachten. Seine ausgehungerten Augen nahmen von ihr auf, so viel sie konnten. Noch nie hatte er sie so nahe gesehen. Er entdeckte mancherlei: auf ihren Wangen ein paar Sommersprossen, wie die ersten Sterne an einem noch hellen Himmel, in der Un­terlippe einen kleinen Riss und im Kinn ein leichtes Grübchen. Und er sah, dass ihre Wimpern weder rot noch blond waren, sondern wie die winzigen Goldkörnchen, die manchmal im Rhonesand aufblitzen. Das gab ihrem Gesicht einen übernatürlichen Ausdruck. Den eines Engels oder den eines Dämons? Germain fragte sich das nicht.



*



Von diesem Tage an gingen sie jeden Sonntag miteinander spazieren. «Er hat es fertiggebracht, sie zu zähmen», stellten die Leute fest. Aber mit der Hochzeit eilte es ihr nicht. Sie konnte sich nicht entschliessen und fand tausend Vorwände, um den Tag hinauszuschieben. Germain wurde ungeduldig: Er hatte so lange auf sie gewartet!



«Hast du mich lieb, ja oder nein?» Sie antwortete ja und blickte ihm fest ins Gesicht, aber der junge Mann hatte den Eindruck, sie sehe ihn nicht. «Du siehst immer aus, als dächtest du etwas», warf er ihr hilflos vor, «und man kann nichts von dir erraten.» Um seine Unruhe loszuwerden, küsste er sie; dann vergass er alles.



Die Woche über sah er sie nur für einen Augenblick auf der Strasse oder hinter einer Scheibe. Sie nickte ihm geheimnisvoll zu in ihrem grossen, bunt geblümten Kopftuch, das sie wie alle Frauen im Dorf unter dem Kinn gebunden trug. In diesen rauen Gegenden, wo der Winter so lange anhält, empfindet man ein Bedürfnis nach Blumen: Man trägt sie auf Stoffen, stickt sie in die Schürzen und zieht richtige Blumen auf dem Fenstergesimse. Aber für Germain gab es keine schönere und keine echtere Blume als Flavie.



Entweder verändert sie die Liebe gründlich und macht aus ihr eine gute Ehefrau, oder dann ist er im Begriff, sich mit einem Bild zu verloben, meinten die Besonnenen. Diese Äusserungen enthielten einen Schuss Eifersucht von Seiten der Männer, aber auch von Seiten der jungen Mädchen. Justine, die Übergangene, weinte in die roten Rosen ihres Kopftuchs und machte Umwege, um Germain nicht zu begegnen.



Flavie entschloss sich noch immer nicht. Man könnte meinen, sie habe Angst, dachte Germain, was für eine merkwürdige Frau … Er fand sich gar nicht mehr zurecht. Eines Abends suchte er seinen Onkel, den Dorfgeistlichen, auf. Dieser hatte sich dem jungen Mann immer besonders wohlwollend gezeigt. Der wird mir recht geben, hoffte er.



– Kommst du, um die Hochzeit verkünden zu lassen?, fragte ihn der Pfarrer mit einem breiten Lächeln.



– Ja … Nein …



Der Bräutigam wusste nicht, wie er sein Anliegen vorbringen sollte.



– Was ist denn nicht in Ordnung?

 



– Nun … es ist wegen Flavie.



– Du hast eine gute Wahl getroffen.



– Ja schon, aber ihre Mutter ist krank gewesen.



– Aber jetzt ist sie doch wieder gesund.



– Ja eben …



Der Pfarrer begriff nicht.



– Ach was, lachte Germain gehemmt, das sind vielleicht nur so Ideen von Flavie, die nichts zu bedeuten haben; aber sie ist starrköpfig.



– Das sind alle Frauen.



– Es ist eben so: Damit ihre Mutter wieder gesund werde, hat sie ein Gelübde getan.



– Was hat sie denn versprochen?



Der junge Mann nahm einen mächtigen Schluck Luft und gestand:



– Sie hat gelobt, Jungfrau zu bleiben.



Der Onkel lachte laut heraus.



– Aha, deshalb schaust du so kläglich drein! Mach dir keine Sorgen, mein Junge, sie hat dieses Versprechen leichthin gegeben und es sich nicht weiter überlegt. Wir können ihr einen Dispens erteilen und sie stattdessen auf eine Pilgerfahrt schicken.



– Gut, nickte Germain, aber er traute der Sache noch nicht recht. Der Haken ist nur, dass ihr an diesem Gelübde so viel liegt.



– Hat sie die Absicht, mit dir zu brechen?, fragte der Pfarrer, plötzlich beunruhigt.



– Nein …



– Dann ist es vielleicht, um dich zu reizen.



Und die staubige Soutane wurde abermals vom Lachen geschüttelt.



*



Die Hochzeit wurde auf den letzten Tag im Juli festgesetzt. Am Morgen des zehnten war vor der Predigt das Eheversprechen erstmals bekannt gegeben worden.



Nach dem Gottesdienst hatten sich die beiden Verlobten unter die Lärchen gesetzt. «Wie gut der Wald riecht!», murmelte Flavie. Germain antwortete: «Gewiss, aber dein Geruch ist mir noch lieber.» Er beugte sich schnuppernd über sie und biss sie ein klein wenig in die Wange, nur um ihr Angst zu machen. Dann erfasste er ihre Lippen. Sie machte sich frei, einen winzigen Tropfen Blut im Mundwinkel. Da schob er den Haarknoten zurück und biss sie in den Nacken. Sie liess ihn gewähren, aber er konnte nicht sehen, wie sich der Blick des Mädchens verdunkelte.



Plötzlich überkam ihn wieder die Freude:



– Flavie, rief er, Flavie, du bist meine Frau!



– Noch nicht.



– Wir sind jetzt zusammen verkündet, du kannst nicht mehr zurück.



Und vor Begeisterung drückte er sie auf den braunen Teppich der Lärchennadeln nieder. Wütend schnellte sie auf. Sie ist kräftiger, als ich gemeint habe, dachte er und war stolz auf sie.



Jetzt fand sie die Sprache wieder:



– Du kennst ja mein Gelübde … Du wirst schon sehen! … Wenn ich etwas gelobt habe, so halte ich es.



– Aber du bist ja davon entbunden.



– Was verstehst denn du davon? Ein Gelübde ist etwas Heiliges.



Und als er lachend und selbstsicher in seinem Glück zu ihr sagte: Du wirst schon noch auf andere Gedanken kommen. Ach was, es geht dir wie allen Übrigen …, entgegnete sie:



– Ihr werdet schon sehen. Vergiss meine Worte nicht.



Germain wurde sonderbar zumute, ganz traurig. Er blieb sitzen, stumm, blind, die Hände auf den Boden gestützt, und die dürren Nadeln gruben sich in seine Handballen. Aber als er wieder ins Dorf zurückkam und am Gemeindehaus ihr Eheversprechen angeschlagen sah, dachte er nicht mehr an ihre Worte. Er war wieder ein starker Mann, ein Mann, der alle Berge ringsum in seiner Hand hielt.



Dann kam der Hochzeitstag. Flavie hatte sich ein Kleid aus schönem schwarzem Tuch schneidern lassen mit vielen Fältchen an den Ärmeln und über den Hüften. Dazu trug sie den Falbelhut, mit einem goldbestickten schwarzen Samtband umwunden, auf dem dunkle Perlen und Metallplättchen glitzerten. Sie hatte kein Halstuch umgelegt. Ihr roter Haarknoten, der sich wie ein Fächer über die schwarzen Schultern ausbreitete, war festlicher als ein Seidentuch.



Als Germain sie so sah, entfuhr es ihm:



– Du siehst aus wie eine Himmelserscheinung.



Er dachte an die Statuen in der Kirche im Glanz ihrer schweren Gewänder, an ihre vom Heiligenschein erleuchteten Gesichter.



Der Pfarrer strahlte: Flavie, ein so musterhaftes Mädchen, würde seine Kinder in der Furcht des Herrn aufziehen und sie Gott lieben lehren. Er stellte sie sich schon als Chorknaben vor, Flavies Kinder, in ihren runden Käppchen und den weissen Spitzenhemden … Und es würden ihrer viele sein: jedes Jahr eines. Auch als fruchtbare Mutter wäre sie ein Vorbild und könnte es den allzu geizigen Eltern zeigen! Ein wahrer Segen für die Gemeinde. Sie hatte gut daran getan, nicht ins Kloster zu gehen wie ihre Schwestern. Hier war ihr gottgewollter Platz. Und Germain, ja Germain schien ein wenig lau, was die Religion betraf. Aber seine Frau würde ihn schon dazu bringen, fleissiger die Messe zu besuchen. Alles stand zum Besten.



Als das Paar aus der Kirche trat, glänzte das frisch gemähte Gras ringsum auf den Wiesen, und die Roggenfelder wellten im Wind. Germain legte den Arm um seine Gattin und sagte ihr ins Ohr:



– Heut Abend mähe ich dich ab.



Und sein Arm schnitt scharf ein wie eine Sense.



An diesem Abend trug die verschmähte Justine so schwer an ihrem Kummer, dass sie das Haus verliess und in den Gassen umherirrte. Am liebsten wäre sie über die Wiesen gelaufen oder den Waldrand entlang, aber so allein in der Dunkelheit wagte sie es nicht trotz ihrer Not.



Der Wind hatte sich erhoben und lief fast lautlos durch die Strassen, unruhig wie ein Dieb. Am Himmel waren dunkle Herden im Aufbruch. Das Dorf hatte die Anker eingeholt, die es auf der Erde festhielten, und liess sich treiben. Und Justine ging, als hätte sie keinen Körper mehr, als wäre sie nur noch eine Seele, so weh tat sie ihr. «Wozu tot sein?», sagte sie sich, «wenn man das Gewicht seines Schmerzes doch mittragen muss? … Es würde sich ja nichts ändern, nichts.»



Alle Fenster schienen erloschen, nur zwei oder drei Glühlampen liessen da und dort ein Gebäude erkennen. Auf einmal merkte Justine, dass sie vor Germains Haus ­angelangt war. Warum konnte sie nicht weiter? Warum blieben ihr die Füsse am Boden kleben? Mit dem Wind hätte sie fliehen wollen, nur noch eine Seele sein im Wind, aber plötzlich war ihr Körper wieder da, schwer, ach so schwer …



Da oben wohnten die Neuvermählten, im zweiten Stock, dessen Umrisse über den untern herausragten, eine schwarze, durch die Nacht dahintreibende Barke. Eine Aussentreppe, unten aus Stein, oben aus Holz, führte hinauf. Justine konnte den Blick nicht lösen von der Türe dort oben. Langsam, vorsichtig wurde sie geöffnet; aber sie knarrte doch ein wenig. Ein Mann trat heraus und stützte sich aufs Geländer. Einen Augenblick lang rührte er sich nicht. Vielleicht sah er in sich hinein und versuchte sich zurecht­zufinden. Dann kam er leise herunter. Seine Schuhnägel knirschten auf den untersten Stufen. Justine wagte nicht zu glauben, was sie sah. Sie wartete, bis die Erscheinung sich auflöse. Und plötzlich stand Germain vor ihr. Erst jetzt nahm er sie wahr. Er stiess einen Fluch aus.



– Was tust du hier?



Sie versuchte zum Dorf hinaus- und fortzukommen, aber er holte sie ein.



– Spionierst du uns nach?



Justine antwortete nicht. Was hätte sie auch sagen sollen? Sie sah nur, wie dem Mann die Haarsträhnen ins Gesicht hingen. Ganz verloren sah er aus. Germain erfasste, dass sie das alles sah, und sein Zorn wuchs. Er packte sie an den Schultern und schüttelte sie:



– Geht dich das etwas an?



Und weil sie vor ihm stehen blieb ohne Furcht, ohne Worte, begann er sie zu schlagen. Und damit sie sich nicht entziehen konnte, hielt er sie am Arm mit hartem Griff … Sie schrie nicht, sie sagte nur, wie um Hilfe rufend, aber ganz leise: «Germain, Germain!»



Dann liess er sie los und stieg bergan.



Er kam erst gegen Ende der Nacht zurück, als sie grau wurde und kalt.



*



Im Dorf nahm das Leben wieder seinen gewohnten Gang. Nichts schien sich geändert zu haben. Man war noch am Heuen. Bald sollte die Roggenernte beginnen. Justine hatte geschwiegen. Wenn man Germain antraf, fragte man:



– So, wie geht’s den jungen Eheleuten?



Dann lachte er heiser auf:



– Natürlich geht’s!



Flavie sah man nicht häufig. Sie ging nicht mit ihrem Mann aufs Feld, wie es sonst Brauch war. Sie brachte ihm am Mittag sein Essen heraus und setzte sich ein paar Minuten schweigend abseits ans Wiesenbord, dann kehrte sie wieder nach Hause zurück.



Den Leuten gefiel das nicht. «Der trägt Sorge zu ihren weissen Händen, anstatt sie arbeiten zu lassen. Die wird ihn noch teuer zu stehen kommen!» Einmal hatte man sogar beobachtet, dass er seine Frau wie ein kleines Kind auf den Armen durch einen Bach trug. Da hatte man sich über ihn lustig gemacht. «Lasst ihn nur, das wird ihm bald vergehen», prophezeiten die alten Ehemänner kraft ihrer Erfahrung.



Aber es ging von Flavie eine solche Überlegenheit aus, dass man in ihrer Gegenwart nichts zu sagen wagte. Ihre Augen waren immer noch durchsichtig wie Wasser, und dennoch konnte man ihnen nicht auf den Grund sehen. Woraus bestand er? Aus feinem Sand, geschliffenen Kieseln oder aus trübem Schlangengewimmel? … Germain blickte in diese Augen und flehte sie an, ihm zu antworten, aber sie blieben stumm.



Niemand, ausser Justine vielleicht, wusste, dass das Leben für ihn zur Hölle geworden war. Schlimmer als eine Hölle, denn dort kann man sich wenigstens gehenlassen, kann stöhnen und heulen; man hat das Recht, unglücklich zu sein. Aber in einem Dorf mit all seinen lauernden Fenstern … Ah, wenn er sie nur hätte schlagen können, seine Flavie! Sie durchwalken und dann unterwerfen. Aber er sah es jetzt ein, dass sie nicht war wie die anderen Frauen. Noch in den heftigsten Wutanfällen blieben ihm die Arme gelähmt vor ihr, und seine Zunge fand nicht einen Fluch. Und was noch schlimmer war: Sie hatte immer recht, er fühlte sich ihr gegenüber schuldig und ging so weit, sie um Verzeihung zu bitten.



Aber wenn er wieder allein war, stieg eine mächtige Empörung in ihm auf. Das Blut in seinen Adern wurde zu Gift, und auch wenn er sich fast zu Tode arbeitete vom Morgen bis zum Abend, war er doch nur von einem Gedanken besessen: «Ich mähe sie ab wie einen Halm, das ist mein gutes Recht.» Und immer hörte er ihre kristallene Stimme antworten: «Nicht eher, als bis du alle Gräser und alle Ähren der Erde abgemäht hast …» Und das hiess so viel wie nie.



Kam er an der Kirche vorbei, so fielen ihm die Worte des Priesters zu ihrer Hochzeit ein: … So sind sie nun nicht zwei, sondern ein Fleisch. Was denn Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden. Germain wusste wohl, dass sie nicht vereint waren und dass nichts, weder Himmel noch Hölle noch die Menschen, daran etwas ändern konnten. Und er spürte einen bitteren Geschmack auf der Zunge. Eines Abends begann er sogar fast laut vor sich hin zu murren:



– Das Leben ist ungerecht, ungerecht! Wie soll man da noch an Gott glauben?



Aber dann fiel sein Blick auf das Kruzifix, und schnell machte er ein grosses Kreuzeszeichen.



Es gab freilich auch Tage, da er wieder Hoffnung schöpfte, Tage, an denen die Freude in der Luft lag. «Nein», dachte er, «das kann ja nicht ewig so weitergehen … Einmal muss ja ein Wunder geschehen. Es braucht nur Geduld.» Aber bald war die Qual wieder da. Ein ganzes Leben lang würde das dauern! Wenn er seine Not wenigstens jemandem hätte ­anvertrauen können; aber das gehörte zu den Dingen, über die man nicht sprach – lieber sterben als das –, sogar im Gebet hätte er es nicht gewagt.



So verging der Sommer, dann der Herbst, dann der Winter, und es wurde wieder Frühling. Und weil man Flavie fast nie zu Gesicht bekam, fragte man Germain: «Erwartet sie etwa ein Kleines?» oder: «Ist sie guter Hoffnung?», was dasselbe bedeutet. Dann verdüsterte sich seine Miene, und er wandte sich ab.



In seinem Rücken wurde gezischelt:



– Er sperrt sie ein vor lauter Eifersucht.



Und man lachte über ihn.



*



Der Mai kam, der Monat Marias. Der Altar der Jungfrau wurde mit Geranientöpfen geschmückt, mit papierenen ­Lilien und Rosen und mit vielen, vielen Kerzen.



Doch eines Abends, als die Dorfleute in die Kirche kamen, um ihren Rosenkranz zu beten, fanden sie den Altar der Madonna geplündert: keine Blumen mehr, keine Leuchter … Man lief zum Pfarrer und meldete es ihm. Er wusste von nichts. Man versammelte sich in der Vorhalle. Jemand hatte ihre Kirche geschändet! Eine böse Glut glomm in den Blicken der Männer auf, die Frauen bekreuzigten sich, die Kinder weinten in den Wald der Röcke hinein. Sie waren alle sehr aufgeregt, aber ihre Empörung machte sich nicht in Worten und Gebärden Luft, sie blieb im Innern wie alles, was das Bergvolk heftig bewegt.

 



Ein kleines Mädchen kam zu seiner Mutter gelaufen und zog sie an der Hand: Komm schau, komm schau!



– Was hast du?



– Komm schau, wiederholte das Kind.



Es bat so eindringlich, und sein Gesicht hatte einen so merkwürdigen Glanz, dass die Mutter sich führen liess. Und als die andern das sahen, folgten sie.



– Was hast du gesehen?, fragten sie das Kind.



Aber das konnte es ihnen nicht erklären in seiner Aufregung. Seine Ungeduld wirkte ansteckend, und der Zug, den die Kleine anführte, wurde immer länger und bewegte sich immer eiliger. Auch Justine schloss sich an. Ihr schwante ein Unglück. Sie zoge