Bio-psycho-soziales betriebliches Gesundheitsmanagement für Sozial- und Gesundheitsberufe

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Bio-psycho-soziales betriebliches Gesundheitsmanagement für Sozial- und Gesundheitsberufe
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UTB 5579

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Prof. Dr. Ruth Haas, Professorin für prozessorientierte Körper- und Bewegungstherapie an der Hochschule Emden / Leer, Leitung des Bachelorstudienganges Interdisziplinäre Physiotherapie – Motologie – Ergotherapie.

Silke Reblin ist Lehrkraft für besondere Aufgaben im Studiengang Sozial- und Gesundheitsmanagement im Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit an der Hochschule Emden/Leer und war viele Jahre Leiterin des Zentrums für Weiterbildung der Hochschule.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-8252-5579-4 (Print)

ISBN 978-3-8385-5579-9 (PDF-E-Book)

ISBN 978-3-8463-5579-4 (EPUB)

© 2021 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in EU

Cover unter Verwendung eines Fotos von iStock.com / PIKSEL

Satz: JÖRG KALIES – Satz, Layout, Grafik & Druck, Unterumbach

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de

Inhalt

Auf ein (Vor-)Wort – Hintergründe zur Entstehung dieses Lehrbuches

Einführung in das Thema

Aufbau des Lehrbuchs

1 Bio-psycho-soziale Gesundheit

1.1 Das bio-psycho-soziale Modell von Gesundheit und Krankheit

1.2 Modelle der Gesundheit

1.2.1 Das Salutogenese-Modell von Aaron Antonovsky

1.2.2 Das Konstrukt der gesundheitlichen Schutzfaktoren

1.2.3 Das Systemische Anforderungs- und Ressourcen (SAR)-Modell

1.3 Auf dem Weg zu einem integrativen und interdisziplinären Gesundheitsverständnis

2 Begriffe, Entwicklung und Gesetze zu Prävention, BGM und BGF

2.1 Prävention vs. Gesundheitsförderung

2.2 Betriebliches Gesundheitsmanagement und Betriebliche Gesundheitsförderung

2.3 Entwicklungslinien

2.4 Gesetzliche Rahmenbedingungen

2.5 Einführung der Unternehmensbeispiele zum BGM

3 Bio-psycho-soziales Gesundheitsmanagement – ein Handlungsfeld für Sozial- und Gesundheitsberufe

3.1 Erfordernisse für ein bio-psycho-soziales Gesundheitsmanagement

3.2 Gesundheit und Arbeit – ein komplexes Interaktionsfeld

3.2.1 Spezifische Modelle zu Gesundheit und Arbeit

3.2.2 Körperliche Belastungen

3.2.3 Psychische Belastungen

4 BGM-Strategie in Unternehmen

4.1 Begriffsklärungen

4.2 Non-Profit-Unternehmen – eine häufige Unternehmensform im Sozial- und Gesundheitsbereich

4.3 Die Organisation eines Unternehmens

4.4 Stakeholder im BGM-Prozess

4.5 Unternehmenskennzahlen im BGM-Prozess

4.6 Kennzahlensysteme als Instrument zur gesundheitsbezogenen Analyse

4.7 Präsentismus und Absentismus

4.8 BGM in kleinen und mittleren Unternehmen

5 Präventionsprinzipien und Handlungsfelder des bio-psycho-sozialen betrieblichen Gesundheitsmanagements

5.1 Das Präventionsprinzip Stressbewältigung und Ressourcenstärkung

5.1.1 Stress – was ist das?

5.1.2 Stress aus biologischer Perspektive

5.1.3 Gesundheitliche Auswirkungen von Stress

5.1.4 Stressbewältigung

5.2 Das Präventionsprinzip Gesundheitsförderliche Gestaltung von Arbeitstätigkeit und Arbeitsbedingungen

5.3 Das Präventionsprinzip Bewegungsförderliche Umgebung und Arbeiten

5.4 Das Handlungsfeld Verhältnis- und verhaltensbezogene Suchtprävention (Knut Tielking)

5.4.1 Sucht und Arbeit – eine Einführung

5.4.2 Suchtprävention im betrieblichen Setting

5.4.3 Betriebliche Suchtprävention als Baustein des Betrieblichen Gesundheitsmanagements

6 Gesund Führen im Betrieb – eine Herausforderung

6.1 Führung und Führungsaufgaben

6.2 Der Einfluss von Führungsstilen auf die Gesundheit

6.3 Kommunikation und Führung

6.4 Die Dilemmata der Führungskraft

7 Auf dem Weg zu einem erfolgreichen bio-psycho-sozialen betrieblichen Gesundheitsmanagement

7.1 Vorbereitung und Aufbau

 

7.1.1 Vorbereitungsphase

7.1.2 Aufbau von Strukturen und Prozessen

7.2 Gesundheitsbezogene Analyse eines Betriebes auf bio-psycho-sozialer Grundlage

7.2.1 Betriebliche Gesundheitsberichterstattung

7.2.2 MitarbeiterInnenbefragung

7.2.3 Leitfadengestützte Interviews

7.2.4 Gesundheitszirkel – ein partizipatives Instrument zur Erhebung und Maßnahmenplanung

7.2.5 Analyse bio-psycho-sozialer gesundheitlicher Belastungsfaktoren am Arbeitsplatz

7.3 Umsetzung und Evaluation von Maßnahmen der bio-psycho-sozialen Gesundheitsförderung

Literatur

Sachregister

Auf ein (Vor-)Wort – Hintergründe zur Entstehung dieses Lehrbuches

In diesem Lehrbuch werden Erkenntnisse aus Praxisforschung und Lehre verknüpft. Eine weitere Besonderheit stellt seine Entstehung im interprofessionellen Diskurs zwischen GesundheitswissenschaftlerInnen, SoziologInnen, Physio- und ErgotherapeutInnen, MotologInnen, SozialarbeiterInnen und BetriebswirtschaftlerInnen dar. Interprofessionelle und interdisziplinäre Zusammenarbeit, die sich kooperativ Themen mit gemeinsamen Zielsetzungen, aber sich unterscheidenden Sprachen bzw. methodischen Zugängen vornimmt – eine Herausforderung. Die ersten Schritte in diese Richtung wurden im Rahmen des Forschungsschwerpunktes Entwicklung von Modellen und Standards der integrativen Versorgung im Bereich der Rehabilitation von Menschen mit motorischen Störungen geleistet und in das Transferprojekt Implementierung von bio-psycho-sozialen Gesundheitsmanagementkonzepten in klein- und mittelständischen Betrieben in die Anwendung überführt.

Eine weitere Übertragung in die betriebliche Praxis stellte die daraus entwickelte Konzeption einer Weiterbildung zur Bio-psycho-sozialen betrieblichen GesundheitsmanagerIn dar, die an der Hochschule Emden/ Leer erfolgreich angeboten wird.

Mein Dank gilt deshalb in besonderer Weise Harro Ohlenburg, Helmut Tiemann, Andre Schneke, Silke Jakobs, Sven Krügerke, die ihre Fachkompetenz den o.g. Projekten zur Verfügung gestellt haben.

Dieses Buch unterliegt einer kooperativen AutorInnenschaft. Dennoch sind einzelne Kapitel schwerpunktmäßig aus der Feder der jeweiligen AutorIn entstanden.

Die Kapitel 1,3,5.1–5.2 und 7 wurden von Ruth Haas verfasst. Silke Reblin widmete sich Kapitel 4 und 6, während das Kapitel 2 die Handschrift beider Autorinnen trägt. Das Kapitel 5.3 unterliegt der Autorenschaft von Knut Tielking.

Emden, im Juli 2020

Ruth Haas

Einführung in das Thema

Die zunehmende Bedeutung von Gesundheit im betriebswirtschaftlichen Kontext lässt Unternehmen in Bezug auf den Umgang mit dem Personal umdenken. Es finden sich eine stetig wachsende Anzahl an Studien zum Thema Gesundheit und Betrieblichem Gesundheitsmanagement (BGM) (Uhle / Treier 2019) wie auch das Bestreben ein BGM zu implementieren.

Die lohnende Investition in die Gesundheit scheint Katalysator für die Entscheidung zu sein, für die MitarbeiterInnen über den Arbeitsschutz hinaus zu denken.

Gemäß Luxemburger Deklaration (Kap. 2.3) ist die Betriebliche Gesundheitsförderung (BGF) eine

„[…] moderne Unternehmensstrategie und zielt darauf ab, Krankheiten am Arbeitsplatz vorzubeugen (einschließlich arbeitsbedingter Erkrankungen, Arbeitsunfälle, Berufskrankheiten und Stress), Gesundheitspotentiale zu stärken und das Wohlbefinden am Arbeitsplatz zu stärken.“ (Europäisches Netzwerk ENWHP, 2011, 3)

BGM wird als Steuerungsmodell der Gesundheitsförderung in Betrieben (Uhle / Treier 2019) verstanden. Diese müssen sich den Veränderungen in der Arbeitswelt der Zukunft stellen. Die digitale Transformation mit Arbeit 4.0, Industrie 4.0 und New Work werden Unternehmen zukünftig prägen und sich auf die Gesundheit der ArbeitnehmerInnen auswirken (Abb. 1).

Abb. 1: Trends der Arbeitswelt im 21. Jahrhundert (nach Bruckner et al. 2018, Hasselmann et al. 2017, Europäisches Netzwerk für betriebliche Gesundheitsförderung ENWHP 2011)

Es stellt sich die Frage, wie Unternehmen mit diesen weitreichenden Einflüssen auf die Arbeits- und Lebenswelt umgehen werden. Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels mit einer stetig alternden Gesellschaft (Gößwald et al. 2015, Statistisches Bundesamt Destatis 2019b, Troger 2019) und somit auch einer Steigerung des Durchschnittsalters (Kap. 4.) (Statistisches Bundesamt Destatis 2019b) in der Belegschaft gewinnt die Gesundheit der Arbeitskräfte an Bedeutung. Bis zum Jahr 2060 werden sich sowohl die Bevölkerung Deutschlands als auch die Personen im erwerbsfähigen Alter deutlich reduzieren (Statistisches Bundesamt Destatis 2019b). Diesem Rückgang soll durch die Erhöhung des Renteneintrittsalters und der Arbeitsquote weiblicher erwerbstätiger Personen entgegengewirkt werden. Der Wandel von der Produktions- zur Dienstleistungsgesellschaft und damit der Entstehung der Wissensgesellschaft stellt eine Herausforderung für unsere Arbeitswelt dar.

Vereinbarkeit von Familie und Beruf und Work-Life-Balance wurden zu wichtigen Themen, die von Unternehmen mit Leben gefüllt werden. Die Grenzen von Arbeit und Freizeit, u. a. durch die Unterstützung von Mobile Devices wie Smartphones oder Tablets verschwimmen. Kompetenzen im Selbst-, Zeit- und (agiles) Projektmanagement als Basis einer guten Work-Life-Balance, spielen in Bezug auf die zunehmende Digitalisierung und damit verbundenen Homeoffice (Teleheimarbeit) eine gesundheitsrelevante Rolle.

Dem Fachkräftemangel soll durch Qualifizierung, Aus- und Weiterbildung sowie der Zuwanderung gut ausgebildeter Personen entgegengewirkt werden. Die Unternehmen stehen untereinander im Wettbewerb um MitarbeiterInnen (Junker / Griebsch 2017). Die Variabilität von Familienmodellen, wie Patchworkfamilien, Alleinerziehende, aber auch eine Zunahme von Single-Haushalten haben Auswirkungen auf das Arbeitsleben (Hesse et al. 2015).

Bio-psycho-soziales Gesundheitsmanagement liefert für diese Problemlagen keine Standardlösungen. Auf der Basis einer diffenzierten, individualisierten Anlayse können Betriebe ihre spezifischen Ressourcen und Schwachstellen erkennen und partizipativ mit ihrer Belegschaft Antworten finden.

Aufbau des Lehrbuchs

Dieses Lehrbuch verknüpft Basiswissen zum betrieblichen Gesundheitsmanagement (BGM) auf bio-psycho-sozialer (bps) Grundlage mit deren praktischer Anwendung bzw. Umsetzung anhand von betrieblichen Fallbeispielen.

Zu Beginn wird das bio-psycho-soziale Gesundheitsverständnis in Abgrenzung zur Krankheit geklärt (Kap. 1.1, Kap. 1.2).

Bio-psycho-soziale Gesundheit

Ressourcenorientierte Betrachtungsweisen von Gesundheit, wie das Salutogenese-Modell, das Konstrukt der gesundheitlichen Schutzfaktoren und das Systemische Anforderungs- und Ressourcenmodell (SAR-Modell), legen die Basis für gesundheitsorientiertes Denken und Handeln, welches in ein integratives und interdisziplinär anerkanntes Gesundheitsverständnis (Kap. 1.3) mündet.

Grundbegriffe

Der Blick wird im 2. Kapitel auf zentrale Begrifflichkeiten zum BGM, betrieblicher Gesundheitsförderung (BGF), Prävention und deren historischen Hintergrund gerichtet (Kap. 2.1–2.3), zudem werden gesetzliche Vorgaben erläutert (Kap. 2.4). Drei Beispiele unterschiedlicher Betriebsformen werden vorgestellt, um anhand dieser die Implementierung eines bps BGM in der Umsetzung zu erproben (Kap. 2.5).

Gesundheit und Arbeit

Dem komplexen Interaktionsfeld von Gesundheit und Arbeit und dessen Bedeutung für Sozial- und Gesundheitsberufe widmet sich Kapitel 3. Auf Grundlage von spezifischen Modellen sowie dem Blick auf körperliche und psychische Belastungen in der Arbeit wird diese Wechselbeziehung beschrieben (Kap. 3).

Unternehmen/Betriebe

Im Mittelpunkt des 4. Kapitels stehen wichtige betriebswirtschaftliche Grundlagen, die erforderlich sind, um ein Grundverständnis für Unternehmen zu entwickeln und professionell agieren zu können. Es werden zentrale Unternehmensformen mit ihren organisatorischen Besonderheiten vorgestellt (Kap. 4.1–4.3).

Stakeholder, Kennzahlen, KMU

Relevante Akteure und Daten (Kennzahlen) im BGM-Prozess werden benannt und aktuelle Phänomen wie Präsentismus versus Absentimus diskutiert (Kap. 4.4–4.7). Klein- und Mittelständischen Unternehmen (KMU) bergen besondere Förder- und Barrierefaktoren beim Aufbau eines BGM (Kap. 4.8).

Präventionsprinzipien und Handlungsfelder

Im 5. Kapitel geht es um Präventionsprinzipien, Handlungsfelder und Anwendungsperspektiven der (betrieblichen) Gesundheitsförderung: Stressbewältigung und Ressourcenstärkung, bewegungsförderliche Umgebung und Arbeiten, gesundheitsförderliche Gestaltung von Arbeitstätigkeit und Arbeitsbedingungen sowie Suchtprävention (Kap. 5).

Gesunde Führung

Der Rolle von Führung bei der Einsetzung eines BGM wird ein eigenes Kapitel gewidmet, da Führungskräfte, Führungstile, Kommunikation und das in der Rolle der Führung innewohnende Konfliktpotential sich als gesundheitsrelevant erweisen (Kap. 6).

Auf dem Weg zu bps BGM

Eine handlungsleitende Vorgehensweise für die Implementierung eines bps BGM steht im Mittelpunkt des Abschlusskapitels (Kap. 7). Vorbereitung, Aufbau relevanter Strukturen und Prozesse, gesundheitsbezogene Analyse und Maßnahmenentwicklung werden beschrieben sowie deren Evaluation.

 

Methodisch-didaktische Mittel

Dieses Lehrbuch nutzt folgende methodisch-didaktische Mittel:

Transferaufgaben regen dazu an, die dargestellten Wissensbestände auf Beispielbetriebe zu übertragen, die in Kapitel 2.5 eingeführt wurden.

Selbstlernaufgaben dienen der Reflexion und Wiederholung der theoretischen Erkenntnisse.

Dieser methodische Mix wird durch Literaturtipps ergänzt, die einen niedrigschwelligen Zugang zur Fachliteratur geben.

Die Konkretion bezogen auf BGM wird in Tipps geleistet.

Da im Feld der Fachliteratur zum Thema BGM viel Bewegung herrscht, sind die LeserInnen dazu angehalten, selbst mittels Recherche Aktualisierungen vorzunehmen.

1 Bio-psycho-soziale Gesundheit

Im folgenden Kapitel werden grundsätzliche Aspekte des Gesundheits–Krankheitsdiskurses benannt, der Begriff bio-psycho-soziale Gesundheit definiert und ressourcenorientierte Gesundheitsmodelle vorgestellt. Die Begriffe „Gesundheit“ und „Krankheit“ werden im alltagssprachlichen Gebrauch als Gegenpole und zur gegenseitigen Abgrenzung gebraucht. In medizinischer Sicht dienen sie ursprünglich der Einordnung in die Kategorien behandlungsbedürftig / nicht behandlungsbedürftig oder PatientIn versus (vs.) Nicht-PatientIn und damit der Indikationsstellung. Krankheit wird z. T. als negativer Pol des positiv bewerteten Zustandes der Gesundheit, als eine Art Normabweichung angesehen. Die Betrachtungsweisen von Gesundheit und Krankheit wandeln sich in Abhängigkeit vom zeitgeschichtlichen Kontext, dem subjektiven Befinden, der sozial und gesellschaftlich vorherrschenden Definition dieser Begriffe sowie der Professionalisierung und Dominanz der ExpertInnen.

Selbstlernaufgabe: Setzen Sie folgenden Satz für sich fort: „Ich bin gesund, wenn…“. Welche Merkmale Ihres persönlichen Gesundheitsverständnisses können Sie für sich festhalten?


Abb. 2: Spannungsfeld zum Begriff Gesundheit

Es sind Spannungsfelder bei der Betrachtung des Gesundheitsbegriffes festzuhalten (Abb. 2). Die erste Spannungslinie besteht zwischen der objektiven Betrachtung von ExpertenInnen und dem subjektiven Befinden des Individuums. Fühlt sich eine Person gesund oder wird sie als gesund in der Außenperspektive eingeschätzt? Die zweite Spannungslinie entsteht zwischen der Betrachtung von Gesundheit als Status, d. h. Zustand, und einer prozessorientierten Betrachtung von Gesundheit, bei der davon ausgegangen wird, dass sich Gesundheit über die gesamte Lebensspanne täglich verändert.

Gesundheit im Spannungsfeld

Ein drittes Spannungsfeld entsteht zwischen der körperlichen sowie der psychischen und sozialen Perspektive. Diese sind durch die jeweiligen wissenschaftlichen Fachdisziplinen geprägt, z. B. durch Medizin, Psychologie, Soziologie, Rechtswissenschaft oder Gesundheitswissenschaften. Die vierte Spannungslinie ist mit der Frage verknüpft, ob die Entstehung von Gesundheit oder Krankheit in den Blick genommen wird.

Selbstlernaufgabe: Setzen Sie folgenden Satz für sich fort: „Ich bin krank, wenn…“. Welche Merkmale Ihres persönlichen Krankheitsverständnisses können Sie für sich festhalten?

1.1 Das bio-psycho-soziale Modell von Gesundheit und Krankheit

Ein bio-psycho-soziales Modell von Gesundheit und Krankheit etabliert sich im Fachdiskurs. In der Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung aus dem Jahr 1946 (World Health Organisation [WHO] Europa 1986) wurde Gesundheit definiert als “a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease or infirmity”.

Darin ist eine deutliche Abkehr von einem rein biomedizinisch orientierten Gesundheitsverständnis zu erkennen. Kritisch kann an dieser begrifflichen Festlegung die darin enthaltene Statusannahme (state) sowie der Anspruch auf Vollständigkeit, wie er im Wort complete enthalten ist, gesehen werden.

Mit dem bio-psycho-sozialen Modell von Gesundheit und Krankheit wurde eine Abkehr vom ausschließlich biomedizinischen Modell mit seinem reduktionistischen Erklärungsmodell eingeleitet (Engel 1976, Wesiack 1988, Franke 2012). Das bio-psycho-soziale Modell geht davon aus, dass Biologisches, Psychisches und Soziales in einer dynamischen Beziehung verbunden sind. Es kann mittlerweile als sehr verbreitet angesehen werden. Die Betrachtung von medizinischen Publikationen zeigt jedoch noch immer eine Dominanz der biologisch-medizinischen Wissenschaft (Hurrelmann / Richter 2016).

Der Mensch als System

Die Wurzeln des bio-psycho-sozialen Modells liegen in der systemtheoretischen Betrachtung des Menschen (Egger 2005). Diese Sichtweise wurde von Engel (1976) begründet, der das bio-psycho-soziale Krankheitsmodell entwickelt hat. Der Grundgedanke ist dabei, dass die Natur in hierarchisch aufeinander aufbauenden Systemen geordnet ist. Auf jeder Hierarchieebene existiert ein dynamisch organisiertes System mit spezifischen Qualitäten und Beziehungen. Nichts existiert isoliert. Alle Organisationsebenen reagieren vernetzt, und Veränderungen auf einer Systemebene haben immer Auswirkungen auf alle anderen Teilsysteme. Die Person als System mit ihrer Körperlichkeit, ihren organischen Strukturen sowie ihrem Erleben und Verhalten wird als Ganzheit verstanden, die sich aus Subsystemen zusammensetzt, die wiederum hierarchisch aufgebaut sind (Egger 2005). Sowohl mentale als auch körperliche Phänomene werden durch physiologische und physikalisch-chemische Ereignissen erzeugt, sind jedoch nicht auf diese reduzierbar.

Hierarchie im System

Phänomene, die auf der höheren Hierarchieebene existieren, sind auf einer niedrigeren Ebene noch nicht vorhanden. Auf neurobiologischem Niveau können komplexe Erlebens- und Verhaltensweisen nicht erklärt werden. Beispielsweise lässt sich Empathie nicht durch vielfältige nervale, biochemische Erregungsmuster verstehen. Es werden keine adäquaten Erklärungen für die Komplexität der seelischen Phänomene gegeben (Egger 2005). Das bedeutet, dass die Entstehung von Symptomen, die Ätiologie von Erkrankungen sowie die Behandlung von gesundheitlichen Störungen immer sowohl biologisch als auch psychologisch (Egger 2005) zu betrachten sind. Egger definiert Gesundheit wie folgt:

„Im bio-psycho-sozialen Modell bedeutet Gesundheit die ausreichende Kompetenz des Systems „Mensch“, beliebige Störungen auf beliebigen Systemebenen autoregulativ zu bewältigen. Nicht das Fehlen von pathogenen Keimen (Viren, Bakterien etc.) oder das Nichtvorhandensein von Störungen / Auffälligkeiten auf der psycho-sozialen Ebene bedeuten demnach Gesundheit, sondern die Fähigkeit, diese pathogenen Faktoren ausreichend wirksam zu kontrollieren“ (Egger 2005, 5).

In der Erweiterung des Modells von Engel schlägt Egger (2005) bei der Betrachtung von gesundheitlichen Fragestellungen in Diagnostik und Therapie die Untersuchung der biomedizinischen, psychologischen und ökosozialen Ebene vor. Auf der biologischen Ebene werden biomedizinische Daten erhoben und physikalische, medikamentöse oder chirurgische Interventionen eingesetzt.

Diagnostik und Therapie

Bei der psychologischen Betrachtung werden individuelles Erleben und Verhalten sowie der subjektive Lebensstil untersucht. Therapeutisch erfolgen psychologische bzw. ärztliche Beratung, psychophysische Regulationsverfahren oder Psychotherapie. Die ökosoziale Diagnostik nimmt familiäre, beruflich-gesellschaftliche und umweltbezogene Lebensbedingungen in den Blick. Als Behandlungsformen werden PatientInneninformation, die Vermittlung von Hilfe in der Familie, am Arbeitsplatz, bei den zuständigen Behörden und psycho-soziale Beratung und Vereinsangebote vorgeschlagen (Egger 2005).

Selbstlernaufgabe: Übertragen Sie das bio-psycho-soziale Modell nach Egger (2005) auf Ihre eigene gesundheitliche Situation.

In der ICF (International Classification of Function, Disability and Health) hat die WHO (World Health Organization) das bio-psycho-soziale Verständnis erweitert und spezifiziert. Die ICF wurde in Ergänzung der ICD (International Classification of Diseases) entwickelt. Die ICF gehört zu den von der Weltgesundheitsorganisation entwickelten Instrumenten der Klassifikationen von unterschiedlichen Aspekten der Gesundheit.

Funktionelle Gesundheit (ICF)

Die ICD stellt ein Klassifikationssystem für die Einordnung von Störungen der Gesundheit dar. Funktionsfähigkeit und Behinderung, verbunden mit einem Gesundheitsproblem, sind Thema der ICF. Die WHO beschreibt Gesundheit als Wechselwirkung zwischen den Komponenten Aktivitäten, Teilhabe, Umweltfaktoren (gleichbedeutend mit Kontextfaktoren) und personalen Faktoren. Es besteht eine dynamische Wechselbeziehung und durchgängig vielschichtige Interaktion zwischen diesen Komponenten der funktionalen Gesundheit (Abb. 3).

Abb. 3: Wechselwirkungen zwischen den Komponenten der ICF (DIMDI 2005, 23)

Die ICF versteht unter dem Begriff Körperstrukturen die anatomische Basis des menschlichen Körpers, wie z. B. Organe, Muskelskelettsystem. Unter Körperfunktionen werden die physiologischen Funktionen von Körpersystemen (einschließlich der mentalen Funktionen) verstanden (Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information DIMDI 2005).

Körperstrukturen und -funktionen können beeinträchtigt werden, so dass diese von der Norm abweichen oder sogar verloren gehen (Begriff der Schädigung) (Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information DIMDI 2005). Mit der Komponente Aktivität wird die Durchführung einer Aufgabe oder Handlung (Aktion) durch einen Menschen beschrieben (Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information DIMDI 2005). Partizipation (Teilhabe) beschreibt das Einbezogensein des Menschen in eine Lebenssituation. Sind Aktivitäten beeinträchtigt, kann eine Person Einschränkungen bei der Durchführung einer Handlung haben.

Förder- / Barrierefaktoren

Eingeschränkte Handlungsfähigkeit kann ein Barierrefaktor beim Einbezogensein in eine Lebenssituation darstellen (Beeinträchtigung der Partizipation / Teilhabe). Die Komponente der Umweltfaktoren oder auch Kontextfaktoren beschreibt die materielle, soziale und einstellungsbezogene Umwelt, in der Menschen ihr Dasein führen. Umweltfaktoren können gesundheitsförderlich sein (Förderfaktoren) oder als gesundheitliche Barrieren (Barrierefaktoren) eingeschätzt werden (Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information DIMDI 2005).

Personenbezogene Faktoren werden den Kontextfaktoren zugeordnet. Sie beinhalten Faktoren, die sich auf die betrachtete Person beziehen, wie beispielsweise Alter, Geschlecht, sozialer Status, Lebenserfahrung usw. Diese werden in der ICF nicht klassifiziert (Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information DIMDI). Kontextfaktoren können Förderfaktoren oder Barrieren darstellen. Als Förderfaktoren werden Faktoren in der Umwelt einer Person klassifiziert, welche die Funktionsfähigkeit eines Menschen unterstützen (Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information DIMDI 2005). Zu den Förderfaktoren gehören z. B. die

„Verfügbarkeit relevanter Hilfstechnologie, positive Einstellungen der Menschen zu Behinderung, sowie Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze, die darauf abzielen, alle Menschen mit Gesundheitsproblemen in alle Lebensbereiche einzubeziehen“ (Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information DIMDI 2005, 147).

Als Barrieren bezeichnet die ICF Faktoren in der Umwelt einer Person, welche die Funktionsfähigkeit einschränken, wie zum Beispiel eine unzugängliche materielle Umwelt oder negative Einstellungen zu Menschen mit Gesundheitsproblemen. Barrieren und Förderfaktoren können vorhanden sein oder fehlen.

Sind in einem Betrieb Aufzüge vorhanden, können Menschen mit Schmerzen in den unteren Extremitäten (Körperfunktion) mit oder / ohne Schädigung einer Körperstruktur (wie z. B. des Kniegelenkes) die Aktivität Gehen ausführen und somit ihre Arbeit behalten (Teilhabe).

Die Erfassung von Gesundheitsproblemen unter Bezug auf die ICF wird im Folgenden an Beispielen erläutert.

Herr X. hat heftige Rückenschmerzen im Bereich der Lendenwirbelsäule und kann deshalb nicht mehr alltagsrelevant heben und tragen (Aktivität). Eine differenzierte Untersuchung durch den Arzt (Kontextfaktor) zeigt, dass er eine Schädigung der Bandscheibe hat (Körperstruktur), die jedoch durch physiotherapeutische Maßnahmen zu kompensieren ist. Die Physiotherapie wird von seiner Krankenkasse in ausreichendem Umfang bezahlt (Kontextfaktor). Herr X kann bereits nach kurzer Zeit seine beruflichen und privaten Aufgaben wieder bewältigen. Hinzu kommt, dass er. eine aktive Person ist und auch zu Hause die physiotherapeutischen Aufgaben übt (personale Faktoren).

Selbstlernaufgabe: Wie kann das ICF-Modell der Gesundheit zur Erfassung von gesundheitlichen Problemlagen im betrieblichen Kontext eingesetzt werden? Beleuchten Sie ein selbst gewähltes Fallbeispiel mit der ICF.

1.2 Modelle der Gesundheit

Im folgenden Kapitel werden Modellvorstellungen über die Entstehung und Veränderung von Gesundheit dargelegt. Pathogenetisch ausgerichtete Modelle werden nicht vorgestellt, da im Zentrum dieses Buches die Förderung von Gesundheit steht und nicht die Vermeidung von Krankheit (Prävention) (Kap. 2.1).

Saluto- vs. Pathogenese

Aus pathogenetischer Perspektive wird Gesundheit als Normalzustand betrachtet und Krankheit hingegen als Abweichung von dieser Norm. Es wird nach objektivierbaren Faktoren gesucht, die zu dieser Abweichung beitragen und die es zu vermindern gilt. Die salutogenetische Betrachtungsebene sieht Gesundheit und Krankheit als Pole eines Kontinuums, auf dem sich ein Mensch sein Leben lang und jeden Tag bewegt. Es wird nach Faktoren gesucht, die objektiv und subjektiv dazu beitragen, dass ein Mensch gesund bleibt und sich subjektiv betrachtet wohl fühlt. Um den jeweiligen gesundheitlichen Ist-Stand zu erfassen, werden aus pathogenetischer Sicht Krankheitssymptome erfasst, zu Diagnosen summiert und nach der ICD klassifiziert.

Ein salutogenetischer Blick analysiert gemeinsam mit dem betroffenen Menschen seine Lebensgeschichte, die Einflüsse der eigenen Person und der Lebenswelt auf den Prozess seiner Gesundheit.

1.2.1 Das Salutogenese-Modell von Aaron Antonovsky

Die Frage, wie Gesundheit entsteht, anstatt allein nach den Ursachen von Erkrankungen zu fragen, entspricht der Denkrichtung von Antonovsky / Franke (1997) in seinem Ansatz der Salutogenese. Er ist der Frage nachgegangen, warum manche Menschen trotz großer Belastungen und einschneidender Lebensereignisse gesund bleiben. Für Antonovsky (1979) besitzen Patho- und Salutogenese eine komplementäre Beziehung. Er fordert, dass nicht nur nach den Krankheitsursachen geforscht wird, sondern die gesamte Lebensgeschichte eines Menschen untersucht werden sollte.