Ungebremst

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Ungebremst
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Inhalt

Aufstehen, Schlafmütze!

Dünnes Eis

Fahrtwind

Großstadtschlucht

BFFs

Völlig durchgeknallt … aber cool!

Hürden, keine Hindernisse

Aufstehen und weitermachen

Zickzack-Linien

Immer diese Lügen

Yeah, Baby!

Donnerwetter

Folge deinem Herzen

Hausarrest

Zu viel Gegrinse

Überraschung

Feuertaufe

Skatepark ist überall

SK8 with your heart

Cool bleiben!

Die Welt zerfließt

Der rote Drache fliegt

Aufstehen, Schlafmütze!

Nina tastet nach dem Wecker. War da nicht gerade noch ein cooler Traum? Schlummernd sinkt sie zurück auf das Polster, wickelt sich in die Decke ein. Die Bilder kommen wieder:

›Ein Wald … Dani will Fangen spielen. Wir laufen zwischen den Bäumen hindurch, ich springe über Wurzeln, renne vor ihm davon. Dort liegt ein umgefallener Stamm, quer über einem reißenden Bach … Ich balanciere kichernd hinüber, schnell wie der Wind. Jetzt kriegt er mich nie!‹ Nina lächelt. Sie reibt ihre Lider und schlägt plötzlich die Augen auf. ›Das ist der Wald hinter dem Reiterhof! Kurz bevor …‹

In der Küche klappert Mama mit Geschirr und der Geruch von Kaffee zieht durch die Wohnung. »Guten Morgen, Schlafmützen, aufstehen!«

Nina rollt die Augen. Dass Mama sich das nicht endlich abgewöhnt!? Die Schlafmütze ist ja in Ordnung, aber das Aufstehen … Einfach so aus dem Bett springen, geht ja wohl kaum. Beim besten Willen nicht. Gähnend setzt sie sich auf und schlägt die Decke beiseite.

»Brrr.« Frisch für einen Frühlingsmorgen! Gänsehaut zieht ihren Arm entlang. Sie betrachtet ihre Füße. Wie sich das angefühlt hat, Kälte an den Beinen zu spüren? Die Erinnerung verblasst. ›Nina an große Zehe, bitte kommen!‹ Eigentlich sollten die Zehen jetzt wackeln. Aber es passiert nichts. Nina stellt sich vor, wie der Befehl von ihrem Kopf die Wirbelsäule hinunterwandert. Wie ein winziger Postbote mit einer Eilsendung läuft er die Nerven entlang, durch ihre Beine, bis er bei den Zehen ankommt. Trotzdem nichts. Nicht die geringste Bewegung. Nina seufzt.

Neben dem Bett steht der Rollstuhl. Türkis, Ninas Lieblingsfarbe. Na ja, ehemalige Lieblingsfarbe. Schmollend stemmt sie sich von der Bettkante hinüber auf die Sitzfläche und hebt jedes Bein einzeln auf die Fußraste. Sie streckt die Arme und dehnt die Schultern. Dann langt sie nach den Greifreifen und rollt ins Badezimmer.

»Morgen!« Daniel tappt mindestens genauso verschlafen herein. Mit der Zahnbürste im Mund hält Nina ihm die Hand für ein High five hin. Er schlägt ein und spritzt sich kaltes Wasser ins Gesicht. Erst als er das Handtuch sinken lässt, geht sein übliches Grinsen wie die Sonne auf.

Dabei hat er gestern, als er Nina in die Schule begleitet hat, Fabian und Max verprügelt – wegen ihr! Was hat er sich bloß dabei gedacht?! Nina läuft noch immer ein Schauer über den Rücken, wenn sie nur daran denkt. Großer Bruder schön und gut … Aber jetzt ist alles viel schlimmer!

Auf einmal ist Nina hellwach. Fabian und Max heute zu begegnen, wird ein Albtraum. Eigentlich gibt es nur eine Möglichkeit – vor allen anderen in der Klasse sein! Zurück in ihrem Zimmer, reißt sie die Schranktür auf und nimmt wahllos Kleidungsstücke heraus – egal was, Hauptsache es geht schnell!

Mama streckt den Kopf herein. »Alles okay bei dir? Warte, ich helfe dir.«

Einen Fuß in der Hand, um ihn in das Hosenbein zu stecken, sitzt Nina wieder auf der Bettkante. Schon kniet Mama vor ihr, bereit nach der Jeans zu greifen.

Nina bläst sich eine Locke aus dem Gesicht. Bei aller Eile, trotzdem ist es unakzeptabel. »Lass mich, ich mach das selber!«

Mama bleibt vor ihr auf dem Boden sitzen.

Nina beißt die Zähne zusammen. »Ich kann das allein. Bin kein Baby mehr!«

Unweigerlich fällt Mamas Blick auf den Rollstuhl.

Nina presst die Lippen aufeinander. »Pack lieber schnell mein Pausenbrot ein, damit hilfst du mir viel mehr!«

»Okay, okay …«, abwehrend steht Mama wieder auf und geht kopfschüttelnd hinaus.

Nina atmet auf. Sie lässt sich rücklings auf das Bett fallen und wendet sich so lange hin und her, bis die Hose über den Po rutscht.

Am Frühstückstisch wartet schon eine Schüssel Müsli auf sie. Das Pausenbrot hat Mama noch nicht fertig. Stattdessen telefoniert sie.

Daniel zwinkert ihr zu. »Auch schon da, Schwesterherz!«

Sie wirft ihm einen bösen Blick zu, doch dann lächelt sie. Ihr großer Bruder ist der Einzige, der sich solche Bemerkungen erlauben darf. Unschlüssig schiebt sie die Greifreifen hin und her. Immerhin ist Papa schon fast fertig mit dem Essen.

»Können wir gleich fahren?«, fragt Nina ihn.

»Willst du kein Frühstück?«

»Nein, ich möchte früher dort sein!« Lieber hungern, als Fabian und Max vor der Schule zu begegnen!

Daniel verzieht schon wieder das Gesicht. Er weiß genau, was sie denkt. An Dienstagen, wenn er in der ersten Stunde freihat, begleitet er sie. Aber ihre Eltern kommen an den anderen Tagen einfach nicht rechtzeitig in die Gänge. Früher wäre Nina allein gegangen. Aber jetzt …

Aus dem Wohnzimmer hört Nina Mamas Stimme: »Wann ich wieder Vollzeit arbeiten komme? Gar nicht. Meine Tochter braucht mich. 20 Stunden sind jetzt schon eine Gratwanderung.«

Nina schnaubt. Aus dem Augenwinkel sieht sie eine Bewegung vor dem Fenster. Fabian! Er fährt auf dem Skateboard vorbei. Das auch noch! In ihr schnürt sich alles zusammen, wenn sie ihn nur sieht. Er ist sicher in spätestens drei Minuten bei der Schule und trifft sich mit Max. Ihn noch einzuholen, ist unmöglich. Es wäre ja nicht weit. Lausige vier Häuserblocks. Wenn da nicht die Stufen wären …

In der alten Klasse hat es all diese Probleme nicht gegeben. Dort war sie auch eine der Beliebten. Und Daniel hatte den gleichen Schulweg. Aber jetzt, an dieser neuen, barrierefreien Schule …

›Blöder Rollstuhl!‹, denkt Nina und greift doch zur Müslischüssel.

Vor der Schule öffnet Nina die Autotür. Draußen strömen die Schüler aus allen Richtungen herbei. Sie schlendern, hopsen, laufen aufeinander zu und begrüßen sich. Nina sinkt tiefer in den Autositz. Sie wartet. Und zwar darauf, dass Papa den Rollstuhl aus dem Kofferraum holt.

Ein Schrammen lässt Nina aufblicken. Fabian gleitet auf seinem Skateboard die niedrige Mauer neben der Rampe zum Schultor hinunter und springt vom Sockel. Für einen Augenblick segelt er durch die Luft. Kaum zu glauben, aber er landet sogar wieder auf dem Board.

Erst letztens hat Mama Ninas alte Inlineskates weitergegeben. Kurz bevor die Leute kamen, um sie abzuholen, hätte Nina sie am liebsten unter dem Bett versteckt. Aber … wozu sie noch behalten? Was muss Fabian sie auch ständig daran erinnern?!

Zwei Mädchen stecken auf dem Weg zum Schultor hinauf die Köpfe zusammen. Bevor sie hineinverschwinden, drehen sie sich noch einmal um und schmachten Fabian an.

Nina rollt die Augen. Gibts doch nicht! Was finden die alle an dem Typen?

Max hält ihm die Faust für einen Fistbump hin. Sein »Yeah!« ist so laut, dass Nina es bis zum Parkplatz hört. Dann klopft er Fabian auch noch auf die Schulter.

›Ja, ja, ihr seid super – es wissen alle!‹

Papa stellt den Rollstuhl auf den Gehweg neben der Beifahrertür. Am liebsten würde Nina sitzen bleiben und postwendend zurück nach Hause fahren. Sie lässt den Kopf hinten gegen die Nackenstütze fallen.

Spontangrippe, kritischer Kreislaufkollaps, akute Atemnot? Nina rollt die Augen nach oben. Beigegrau-cremefarben. Winzige Fädchen. Sie schlingen sich umeinander. Für einen Moment ist Nina gefesselt in dem Geflecht, aus dem das Fleece des Autodachs gewoben ist.

Sie schüttelt sich. Das wochenlange An-die-Decke-

Starren im Krankenhaus war genug für das ganze Leben. Und hinter den beiden Typen – wenn Nina erst einmal durch das Schultor durch ist – dort wartet Fiona!

Na gut. Nina klopft sich auf die Oberschenkel. Es bleibt ihr ja sowieso nichts anderes übrig … Sie hebt die Beine aus dem Auto und rutscht auf den Rollstuhl hinüber. Die Jungs bleiben stehen, als hätten sie das nicht schon oft genug gesehen. Nina verkrampft. Nur nicht die Blicke erwidern …

 

Nachdem Papa ihr den Rucksack auf den Schoß gelegt hat, atmet sie tief durch und rollt auf die Rampe zu. Hinter sich hört sie das Auto davonfahren.

»Darf ich vorbei, bitte!«

Fabian baut sich vor ihr auf. Nina muss den Kopf in den Nacken legen, um ihm in die Augen sehen zu können – soweit das möglich ist, denn seine Stirnfransen hängen fast bis zur Nasenspitze.

»Na, Sprung, heute keinen Bodyguard dabei?« Er grinst hämisch und fährt gleich fort: »Aber wir sind ja nicht so … Damit du nicht einsam bist, lassen wir dich einfach mitmachen!« Er deutet auf die Mauer. »Hast ja auch Räder. Dann würde dein Nachname endlich wieder zu dir passen!«

Nina schluckt. Gerade noch bringt sie ein »Haha, sehr witzig. Geh auf die Seite!« heraus.

Die Rampe hinaufzukommen, ist Herausforderung genug.

Fabian rührt sich keinen Zentimeter. Stattdessen grinst er von oben herab und tätschelt Ninas Kopf. »Na, vielleicht, wenn du ein bisschen gewachsen bist. Dann kannst du bei den Großen mitmachen.«

Nina schüttelt ihn ab, rollt rückwärts, um ihn loszuwerden. Max stellt sich hinter seinen Freund und lacht genauso blöd. Sein Kopf ragt über Fabians weit hinaus.

Nina räuspert sich, trotzdem ist ihre Stimme belegt. »Sagt genau der Richtige!«

Max legt seinen Arm um Fabians Schultern. »Immer noch wesentlich größer als du. Wie ist das eigentlich so, Sprung, wenn man auf Augenhöhe nur Hinterteile sieht?«

Mit wütendem Blick fixiert sie ihn, bemüht, die Tränen dahinter zu verstecken. Aufstehen und ihm eine kleben … Das wärs jetzt!

Endlich gehen die beiden einen Schritt zur Seite. Max deutet auf die Rampe. »Aber mach schnell, ich will den Trick noch einmal probieren, bevor es läutet!«

Ein Schauer läuft ihren Nacken hinunter. Die sehen jetzt genau zu … Sehen, wie mühsam das ist, die Steigung hochzukommen.

Max springt leichtfüßig neben ihr die Stufen hinauf. Oben angekommen, grinst er sie noch einmal blöd an. Dann nimmt er Anlauf und gleitet auf seinem Board die Kante der Mauer hinunter.

In der Klasse fährt Nina zu dem einzigen Platz, an dem kein Stuhl steht. Neben ihr holt Fiona Hefte aus der Schultasche. »Hallo!« Sie lächelt Nina an.

Es läutet.

Fiona sieht sich in der Klasse um. »Ich fasse es nicht, Fabian und Max kommen schon wieder zu spät.«

Nina verzieht das Gesicht. Überall geht es nur um Fabian, den »großen« Fabian und seine Clique.

Fiona kritzelt ein Herz mit einem F an den Rand ihrer Heftseite. Sie behauptet immer, dass damit Fiona gemeint ist.

Nina ist sich da nicht so sicher. Das Fabian-Fieber scheint eine ernsthaft ansteckende Krankheit zu sein. Aber Fiona ist nicht die Sportlichste und ihr wirklich liebes Zahnspangenlächeln hat Fabian noch nicht bemerkt. Wird er vermutlich auch nie. Eventuell liegt das an dem Vorhang vor seinen Augen. Freie Sicht hat er nur, wenn der Wind beim Skateboarden die Haare zur Seite weht. Wenn dabei auch noch seine viel zu großen Tribal-Shirts flattern, sieht er aus wie eine Vogelscheuche, findet Nina. Kurzum, Fiona und Fabian sind zwei Memory-Karten, die nicht zusammenpassen. Gut so! Denn Fiona hat etwas Besseres verdient als diesen Kotzbrocken.

Nun stolpern die Jungs in die Klasse.

Über den Rand ihrer Brille sieht Frau Winkler sie tadelnd an. »Was mache ich nur mit euch beiden? Morgen um Punkt : Uhr bringt ihr mir eine Fleißaufgabe. Nämlich die fertig ausgearbeiteten Seiten  bis  aus dem Mathematikbuch. Vielleicht merkt ihr euch dann endlich, dass der Unterricht mit dem Läuten beginnt!«

Fiona stupst Nina von der Seite an und schiebt ihr einen Zettel zu.

Nina faltet das Papier auf und liest: Wenn ich es nicht gleich erzähle, platze ich! Heute Nachmittag holen wir eine Katze aus dem Tierheim!!! Wann kommst du sie anschauen? Morgen?

Wie lieb! Morgen habe ich Therapie. Übermorgen vielleicht?, schreibt Nina und schiebt den Zettel wieder zurück.

»Schulhof?«, fragt Fiona beim Zurückgeben der Tabletts in der Mensa.

Nina nickt. Gemeint ist damit leider nur der schmale Weg neben der großen Wiese. Langsam rollt sie die Rampe hinunter, bremst den Lauf der Räder mit den Händen und stellt sich neben eine Bank. »Weißt du schon, welche Katze es wird?«

Fiona setzt sich neben sie. »Ein Kater mit schwarzen Ohren und weißem Gesicht, und am Kinn hat er auch noch einen schwarzen Punkt … So süß!«

Während sie mit leuchtenden Augen erzählt, spielt Nina mit den Rädern. Sie kippt die vorderen in die Luft und balanciert auf den hinteren.

»Dass du dabei nicht umfällst, wundert mich jedes Mal wieder«, murmelt Fiona.

Nina schmunzelt. »Mama kann da auch nicht zuschauen. Sie sagt dann ständig ›Du warst schon immer eine Zappeline‹ und droht, die Kippstützen hinten wieder anzustecken.«

Fiona lacht.

»Dabei sagt mein Therapeut, dass ich das gut können muss.« Nina beobachtet Fabian und die anderen »Großen« – oder die, die sich zumindest für groß und wichtig halten – wie sie sich auf der Wiese gegenseitig mit einem Ball abschießen. Fabian zieht seine Jacke aus, weil es in der Sonne so warm ist, und bekommt von Max den Ball zugespielt. Er zielt auf Kathi und wirft.

›Das könnte ich auch‹, denkt Nina und beißt die Zähne zusammen.

Dünnes Eis

Zu Hause macht Nina Hausaufgaben – im Stehen, festgehalten durch diverse Gurte und gepolsterte Schieber an einem speziellen Schreibtisch. Endlich hört sie den Schlüssel im Schloss.

»Wie war dein Tag, Schwesterherz?«

»Pfff …« Sie rollt die Augen. »Spielen wir?«

Daniel nimmt den Basketball aus dem Regal und wartet, bis Nina wieder im Rollstuhl sitzt. Dann öffnet er ihr die Tür zum Garten. Dort gibt es eine große, ebene Fläche und einen Korb an der Wand. Er dribbelt den Ball. Sobald Nina ihre Handschuhe anhat, fährt sie ihm wendig nach. Er spielt ihr den Ball zu, sie dreht um und wirft. Treffer!

Daniel fängt ihn wieder auf, läuft nach hinten und wirft selbst. Inzwischen ist Nina nach vorne gerollt und holt sich den Ball. Nun dribbelt sie, während sie eine Runde über den Platz fährt. Ihr Bruder stellt sich ihr in den Weg.

Plötzlich schaut Mama mit dem Handy am Ohr durch die Terrassentür. »Du bekommst gleich Besuch!«, flötet sie Nina zu. Kurz hält sie den Finger auf das Mikro­fon und flüstert: »Sei nett zu ihm, er hat es gerade nicht leicht!«

Fragend sieht Nina zu Mama hin, doch die ist schon wieder im Haus verschwunden.

In diesem unachtsamen Moment nimmt Daniel Nina den Ball aus der Hand und wirft einen Korb. Tatsächlich läutet es wenige Minuten später. Kurz darauf kommt Fabian in den Garten.

Drohend baut Daniel sich vor ihm auf. »Bist du hier, um dich zu entschuldigen?«

Fabian zuckt zusammen, hält seinen Rucksack vor dem Körper fest. Trotzdem sieht er Nina erstaunt an. »Du … spielst Basketball?«

Sie prellt den Ball auf den Boden und fängt ihn wieder auf. Was macht der hier? Sprachlos starrt sie ihn an, so als ob die Zeit stillstünde. Durch ihre Gedanken flitzt die Erinnerung an unzählige Sticheleien, die bislang wenigstens nur in der Schule stattgefunden haben, und jetzt … jetzt steht er hier, in ihrem Garten!

»Was ist? Was willst du von Nina?« Daniel ballt eine Faust und klatscht sie in die andere Hand. »Soll ich?«, fragt er Nina.

»Was? Nein, bitte nicht, nicht noch einmal! Ich bin nicht freiwillig hier, aber … ich brauche deine Hilfe!«, ruft Fabian an Nina gewandt.

Ihre Hilfe?! Nina und Daniel tauschen verwunderte Blicke aus.

Mamas Worte hallen durch Ninas Kopf. ›Sei nett zu ihm!‹ – Warum sollte sie?

Er ist hergekommen, weil er etwas will – von ihr! Nur was könnte so einer wollen?

Sie gibt sich einen Ruck. »Lass nur, ich komme schon klar«, sagt sie zu Daniel.

»Echt, jetzt?!« Ihr großer Bruder wirft Fabian einen Ich-krieg-dich-schon-noch-Blick zu.

Nina scheucht ihn ins Haus.

»Ruf mich, wenn er fies wird!« Widerwillig zieht Daniel die Tür hinter sich zu. Bestimmt wartet er direkt dahinter.

Nina dreht sich zu ihrem Gast. Sie rollt vor und zurück, betrachtet ihn, wie er mit seinem Rucksack in den Händen verloren herumsteht – einsam und verlassen, ohne Max und seine Freunde. Dann strafft sie den Oberkörper und räuspert sich. »Was willst du von mir?«

Fabian tritt von einem Bein auf das andere. »Ich habe mein Mathebuch in der Schule vergessen.«

»Warum gehst du es nicht einfach holen?«

»Die Klassenzimmertür ist abgeschlossen und den Hausmeister habe ich nicht gefunden.«

»Max und die anderen können dir sicher besser weiterhelfen.«

»Könnten sie. Aber meine Mutter hat deine Mutter angerufen und jetzt stehe ich hier.« Er rollt die Augen. »Also bringen wir es hinter uns und ich bin gleich wieder weg.«

Nina schnaubt. Was denkt sich Mama bloß dabei? Nur weil Frau Ullmann eine Arbeitskollegin von ihr ist? Laut sagt sie: »Mein Mathebuch ist so klein geschrieben, dass du es bestimmt nicht lesen kannst.«

»Dann halt nicht. Soll ich meiner Mutter erzählen, was du für eine Zicke bist?« Fabian dreht sich um und will gehen.

»Soll ich meiner Mutter erzählen, was du für ein …« Sie wirft ihm einen bitterbösen Blick zu. »Du hast echt Glück, dass ich bislang nichts gesagt habe, sonst hättest du schon längst beim Direktor gesessen!«

Fabians Augen sind hinter den Stirnfransen nicht zu sehen, aber da ist etwas in der Art, wie er die Schultern hängen lässt.

Nina kneift die Lippen zusammen. Einfach geben wird sie ihm das Buch sicher nicht, aber … Sie räuspert sich. »Na gut, wenn du das Mathebuch haben willst, musst du es dir verdienen!« Sie prellt den Ball auf den Boden. »Wenn du mehr Körbe triffst als ich, leihe ich es dir. Und ich mache es extra einfach für dich, wir spielen aus dem Stand. Jeder hat zehn Versuche.« Sie wirft ihm den Ball zu.

Fabian sieht sie ungläubig an, doch dann stellt er sich neben sie. Sein erster Wurf geht durch das

Netz.

»Anfängerglück«, sagt Nina. Nun ist sie an der Reihe. Die gleiche Gänsehaut wie auf der Rampe heute Früh zieht wieder ihren Nacken entlang – wie jedes Mal, wenn Fabian sie anstarrt. Wird er das morgen in der Schule allen erzählen? Der Ball geht daneben. Aber Fabians nächster Wurf auch. Jetzt konzentriert Nina sich. Soll er doch schauen! In hohem Bogen fliegt der Ball auf den Korb zu. »Treffer, yeah!«

Die meisten der nächsten Würfe auch. Fabian wirft zum letzten Mal. Schon wieder daneben.

»Sechs zu drei für mich. Schaut schlecht aus für deine Fleißaufgabe.« Nina lehnt sich zurück.

Fabian bohrt seine Schuhspitze in den Boden. »Ich wusste nicht, dass das geht, wenn man … Ich meine, mit dem Ball und so …«, stammelt er.

Irritiert schüttelt Nina den Kopf. Da gehen noch ganz andere Sachen! Kurz beißt sie sich auf die Unterlippe, dann sagt sie: »Weißt du was, ich gebe dir noch eine Chance, wenn du mich im Armdrücken besiegst.« Sie rollt zum Tisch, zieht die Bremsen an und bedeutet ihm, sich auf die andere Tischseite zu setzen.

Wie angewurzelt bleibt Fabian stehen. »Ernsthaft?« Dann macht er einen Schritt auf sie zu. »Was solls. Das ist sicher schnell erledigt!«

Nina stellt den Ellenbogen auf den Tisch. »Das glaube ich auch!«

Die beiden haken ein. »Drei, zwei, eins, los!«

Sie schiebt leicht an. Fabian stemmt sofort mit voller Kraft dagegen. Er drückt ihren Arm fast gegen die Tischplatte.

Kaum zu glauben! Hat sie ihn unterschätzt? Die mickrige Vogelscheuche? Nun gibt sie ihm richtig Konter. Zu irgendetwas sollten die Klimmzüge und Übungen am Stufenbarren in der Therapie doch gut sein.

Kleine Schweißtröpfchen bilden sich auf seiner Stirn.

Nina hält den Druck aufrecht. Dann presst sie ruckartig noch etwas fester und schmettert Fabians Hand auf den Tisch.

Er sieht sie mit großen Augen an. »Du machst mich fertig. Warum bist du so stark?«, schnauft er.

Sie zuckt mit den Schultern. Ein Grinsen huscht über ihr Gesicht. »Das ist ein Geheimnis der kleinen Leute. Komm, das Buch ist in meinem Zimmer.«

»Aber …«

»Ist doch klar, dass ich dir helfe.« Sie zwinkert ihm zu und rollt ins Haus.

Vor ihrer Tür zögert sie jedoch. Fabian in ihrem Zimmer. Ob das eine gute Idee ist? Dort gibt es jede Menge Stoff für viele weitere ätzende Bemerkungen. Daniel hat schon recht, dass allein ihr Schreibtisch aussieht wie ein mittelalterliches Foltergerät. Und die anderen Dinge erst …

 

Fabian betrachtet den Türrahmen. Jedes Jahr zu Ninas

Geburtstag macht Mama einen Strich, wie groß sie schon geworden ist. Die 13. Markierung ist gerade einmal eine Woche her. Die vorhergehenden hat Mama fein säuberlich von der alten Wohnung hierher übertragen.

Mit seiner Hand, die er auf den Kopf gelegt hat, fährt Fabian in gerader Linie zum Türrahmen hinüber. Er trifft genau auf den letzten Strich. »Du bist eigentlich gleich groß wie ich«, sagt er verblüfft. »Kannst du stehen?«

»Ja.«

»Wirklich? Zeig!«

»Na ja, ganz so einfach ist das auch wieder nicht.« Nina beißt sich auf die Unterlippe. Dann rollt sie vorwärts und öffnet die Tür. »Nur damit kann ich stehen.« Sie deutet auf die Beinschienen und Krücken, die neben ihrem Bett auf dem Boden liegen.

Fabian folgt ihr ins Zimmer. »Kannst du damit auch gehen?«

Sie sagt nichts. Es wäre zu hoch gegriffen, diese Frage mit Ja zu beantworten. Außerdem sind es keine echten Schritte. Es geht nur, wenn sie beide Beine gleichzeitig nachzieht.

»Warum kommst du dann nicht so in die Schule?«

»Echt jetzt? Das ist unglaublich anstrengend. Dafür muss ich so viel trainieren. Ich hätte viel lieber Inlineskates, einen Roller oder von mir aus ein Skateboard als diese blöden Räder!« Sie klopft außen auf den Rollstuhl. »Ich komme nicht einmal allein zur Schule. Und

das nur wegen der dummen Treppe in der Haydn­gasse. Mit den Schienen komme ich noch viel weniger weit. Außerdem … Glaubst du wirklich, ich will mir anhören, was du vor allen in der Klasse dazu zu sagen hättest?!«

Fabian sinkt ihr gegenüber auf die Bettkante. Er presst die Lippen aufeinander.

»Was? Hast du gar keine blöde Meldung auf Lager?«, herrscht sie ihn an.

Er schüttelt den Kopf. Sieht er tatsächlich ein bisschen betroffen aus?

Eine Zeit lang sitzen beide still. Dann holt Nina das Mathebuch aus dem Rucksack. »Hier. Du kannst es mir in der Schule zurückgeben.«

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