Die Zeit ohne uns

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Die Zeit ohne uns
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Inhalt

1  Cover

2  Titelei

3  Prolog

4  Wörter verbieten die Liebe – Es war einmal 1961

5  Berlin-Dahlem – Herbst 1957

6  Der Beginn einer Liebe im KaDeWe – Frühling 1927

7  Berlin-Dahlem – Herbst 1957

8  Champagner und Wodka – Frühling 1927

9  Alle auf die Bühne! – Frühling 1927

10  Berlin-Dahlem – Herbst 1957

11  Familienlügen an einem Sonntag – Frühling 1927

12  Berlin-Dahlem – Herbst 1957

13  Ein Abend in dem »Rumänien« – Sommer 1927

14  Für Frieden und Toleranz und Brot – Herbst 1928

15  Liebe Genossen! Liebe Genossinnen! – Frühling 1930

16  Berlin-Dahlem – Herbst 1957

17  Fahr Mäxchen, fahr – Herbst 1930

18  Müssen wir über Politik sprechen? – Herbst 1930

19  Berlin-Dahlem – Herbst 1957

20  Ohne Vorankündigung sind sie da! – Herbst 1930

21  Berlin-Dahlem – Herbst 1957

22  Was hab ich denn falsch gemacht? – Herbst 1930

23  Geben sie mir eine Chance? – Herbst 1930

24  Habt ihr schon von ihm gehört? – Frühling 1932

25  Ich hab vielleicht einen Quatsch geträumt! – Frühling 1932

26  Berlin-Dahlem – Herbst 1957

27  Was wünscht du dir für das neue Jahr? – Silvester 1932

28  Werden Sie unser neuer Star – Frühling 1933

29  Berlin-Dahlem – Herbst 1957

30  Die Dreharbeiten beginnen im Mai – Frühling 1933

31  Wird es wirklich so schlimm werden? – Frühling 1933

32  Frag mich mal, ob ich noch Träume habe – Frühling 1933

33  Berlin-Dahlem – Herbst 1957

34  Alles, was vom Leben übrig geblieben ist – Frühling 1933

35  Die Welt zu Gast haben – Sommer 1936

36  Mütter würden ihre Brut immer lieben – Winter 1941

37  Niemand ist bisher zurückgekommen – Herbst 1942

38  Wenn du nicht weißt, wohin – Winter 1942

39  Berlin-Dahlem – Herbst 1957

40  Kann ich bei euch eine Nacht ausschlafen? – Herbst 1942

41  Berlin-Dahlem – Herbst 1957

42  Ohne Vorhang, ohne Applaus – Frühling 1943

43  Mit rosa Winkel aufgenäht – Winter 1943

44  Warten auf den Sonnenuntergang – Frühling 1945

45  Tage und Nächte – Nächte und Tage – Frühling 1945

46  Ja, die Wahrheit – Sommer 1945

47  Hey Guys, what are you doing here? – Sommer 1945

48  Draußen weht ein leichter Wind – Sommer 1945

49  So, Heini! Nun ist es soweit – Sommer 1945

50  Brauchen Sie wirklich noch Antworten? – Sommer 1945

51  Hurra! Wir leben noch – Frühling 1946

52  Berlin-Dahlem – Herbst 1957

53  Die Hände, die Augen, die Lippen – Frühling 1946

54  Machen Sie sich nicht zu große Hoffnungen – Sommer 1946

55  Geld verdient man mit nett drapiertem Schrott – Sommer 1948

56  Keine Illusionen mehr – Herbst 1948

57  Die Herzallerliebsten – Frühling 1954

58  Berlin-Dahlem. Ein gut situiertes Paar – Sommer 1957

59  Berlin-Dahlem. Er hat sich einen Frauennamen ausgesucht – Sommer 1957

60  Epilog

61  Wann hatten wir wirklich Zeit für uns? – Berlin 1960

Rupert van Gerven

Die Zeit ohne uns


Roman

van Gerven, Rupert: Die Zeit ohne uns. Frankfurt am Main, Größenwahn Verlag 2020

Erste Auflage 2020

ISBN: 978-3-95771-276-9

Dieses Buch ist auch als eBook erhältlich und kann über den Handel oder den Verlag bezogen werden.

ePub-eBook: 978-3-95771-277-6

Lektorat: Lena Riebl; August-Paul Sonnemann

Korrektorat: Lilly Pia Seidel

Satz: 3w+p GmbH, Rimpar

Umschlaggestaltung: @Annelie Lamers, Hamburg

Umschlagmotiv: Marti O´Sigma

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der Größenwahn Verlag ist ein Imprint der Bedey Media GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg und Mitglied der Verlags-WG:

https://www.verlags-wg.de

© Größenwahn Verlag, Frankfurt am Main 2020

Alle Rechte vorbehalten.

https://www.groessenwahn-verlag.de

Widmung:

All jenen, die nicht frei sind zu lieben,

ausschließlich weil sie anders sind als die anderen.

Zitat:

»Welch triste Epoche, in der es leichter ist ein Atom zu zertrümmern als ein Vorurteil!«

Albert Einstein

Prolog

Wörter verbieten die Liebe – Es war einmal 1961

»Die Liebe hält viel aus«, sagt man. »Ein Paar wird zu oft auf die Probe gestellt« und »Trennungen sind immer schmerzhaft«. Sprüche, die sich in ihrer Brutalität erst zeigen, sobald man selbst davon betroffen ist. Wie viele Amouren können so anfangen? Und wie viele davon finden ein Happy End? Wer könnte so eine Liebesgeschichte erzählen? Und macht er sich strafbar dabei?

Weder Aaron, der von der Schauspielerei träumte, noch Herbert, der sich vom kommunistischen System eine bessere Zukunft erhoffte, hatten je gelernt, einander von ihren tiefen Verletzungen zu erzählen. Von der Angst des herankommenden Morgens ganz zu schweigen. Exekutionen in einer pechschwarzen Nacht mitten im Nirgendwo. Getarntes Duschen in einem Ort, der Sachsenhausen hieß. Für solche Bilder hatte niemand Sprüche parat. Das Vergessen sollten sie lernen, auch das Abgestempelt-Sein. Der eine als Jude, »wir wussten nichts davon ... und nun ist Ruhe!«, ruft ein Mann, der andere als Kollaborateur: »So, so! Sie haben also gekämpft! Und wie war es denn so an der Front?«, eine Vertriebene kann es nicht fassen. Vergessen wollen und Dankbarkeit für die Zeit, die den beiden das Weiterleben ermöglichte.

 

Sie stürzten sich in die Arbeit, jeder in seinem Aufgabenbereich. Aaron hatte akzeptiert, keine zweite Chance in seinem Beruf zu bekommen, also hielt er Herbert den Rücken frei. Sie arrangierten sich. Sie sprachen über ihren Alltag im Leben: Verkaufszahlen von Herberts Büchern, über das neu erstandene Haus in Berlin-Dahlem, über den chromglänzenden Wagen vor der Tür. Nur über »die Zeit ohne uns« zu sprechen, das wagten sie nicht.

»Die Zeit ohne uns«, so hatte einmal Herbert ihre Liebe bezeichnet, in einem Anflug poetischer Schöpfung – und seitdem klebte dieser Satz in Aarons Kopf, der ähnlich dem Fallobst brutal auf den Boden der Gegenwart zerschellt, doch hoffte auch er gleichzeitig, dass »die Zeit alle Wunden heilt«, so sagt man doch. Ein Gedanke wurde in die neue Zeit gepresst, um die Vergangenheit erträglicher zu machen – bloß nicht darüber reden, keine Wunden aufreißen, »Herberts Körper hatte genug davon«, Aarons ebenfalls, Wunden brauchen Zeit, um zu verheilen, Narben verhindern das eigene Vergessen, welches sich in mancher Nacht Bahn bricht. Besonders, wenn man älter wird und die Angst doch außen vor bleiben sollte und nie mehr Eintritt finden im Leben dieser beiden Männer, deren Liebe über alles steht.

Doch während alle Menschen in der Bundesrepublik Deutschland – so hieß nun das Land, welches oft Namen, Fahnen, Staatsformen und Grenzen wechselte –, während die meisten ihr eigenes Glück in der Demokratie erleben wollen – in der neuen Wirtschaftswunder-Zeit –, droht Unheil über die große Liebe, über das Traumpaar herzufallen. Der böse Grund ist verankert in einem Paragraphen, denn Wörter verbieten die Liebe! In der BRD also, in der diese Geschichte ein Ende nehmen wird ... gab es einmal ein Liebespaar – Aaron und Herbert.

Berlin-Dahlem – Herbst 1957

Herberts kalte Füße stecken in dicken Socken. Schwarzer Tee, inzwischen kalt geworden, in der geöffneten Isolierkanne neben der Schreibmaschine. Der Aschenbecher ist am Überquellen, die Luft zum Zerschneiden dick. Das eingespannte Blatt Papier beinahe leer.

Auf dem Gang nähert sich ein federnder Schritt, die Tür öffnet sich, und Herberts Züge über der Schreibmaschine werden weicher, ohne dass er sich zu Aaron umwenden muss.

»Der Verlag wartet auf das Manuskript, mein Herz. Bist du denn noch nicht fertig?« Aaron tritt näher, schaut seinem Liebsten über die Schulter.

»Oh ja ... doch«, erwidert Herbert.

»Frau Schreiber lässt nicht locker, sie glaubt, dass deine Autobiografie reißenden Absatz finden würde ... aber was solltest du schon schreiben ...?«

Blicke treffen sich. Ein Blatt wird aus der Maschine gezogen. Der Autor seufzt. »Wochenlang habe ich dieses Manuskript nicht angefasst. Jede Zeile, die auf der alten Maschine gehämmert wurde, ist von mir.« Fäuste liegen angespannt neben der Schreibmaschine, Aarons Hände ruhen auf Herberts Schultern, wollen Herbert zur Ruhe bringen, doch dieser steigert sich in eine verzweifelte Wut hinein. »Es ist, als hätte jemand anderes diesen Scheiß geschrieben. Es erscheint mir fremd und gelogen, ohne jede Substanz. Warum bezahlen sie mich für diesen Mist so fürstlich?« Er schreit fast. »Sahnepudding, gestärkte Hausmädchenschürze im aufgewirbelten Mehlstaub eines Salzburger Vorstadtgartens. Damit der Kitsch nicht zu kurz kommt, werden auch noch Rosensträucher durch ein Tränenmeer gezogen ... Quatsch eben! Alle Welt will, dass ich meine Autobiografie schreibe! Ja natürlich, es füllt die Haushaltskasse noch ein bisschen mehr ... Sollte ich mich für dieses Projekt entscheiden, wird mir schon etwas einfallen ...«, lässt Herbert resignierend verlauten, seine Hände bedecken das Gesicht, Tränen werden zurückgehalten. Die Vergangenheit will sich wieder einmal seines Kopfes bemächtigen, er muss so viel Kraft aufwenden, um diese Vergangenheit nicht in sich aufsteigen zu lassen.

Aarons Hände verweilen wieder auf Herberts Schultern, sie wandern zum Nacken, Fingerspitzen versuchen aufzuweichen, was schon so lange verhärtet. Herbert legt seinen Kopf zurück.

»Ich brauche dich ...«, sagt er leise, er sagt nicht, dass er wieder mal zu seinen Beruhigungstabletten greifen musste, »... wie kann ich sein ... arbeiten, leben ohne dich?«

Der Regen hämmert unablässig.

»Wir haben so viel erreicht, das Haus, einen stattlichen Wagen, Personal. Finanziell geht es uns gut. Was brauchen wir mehr?« Herberts Stimme ist jetzt ganz sanft, ein Streicheln.

Aaron stellt sich an das Fenster, sein Blick wandert über den Rasen, hängt in den Tannenspitzen. Das kleine Häuschen am Ende des Grundstücks, kaum größer als eine Gartenlaube, offiziell Aarons Zuhause. Nur keinen Gerüchten Nahrung geben. Niemand, außer Eingeweihte, darf um ihre Beziehung wissen.

Abrupt dreht sich Aaron zu Herbert um. Sein leicht gebräuntes Gesicht verliert an Farbe. »Wir haben viel erreicht?« Spott liegt in seinen Worten, Wut raut seine Stimme auf. Wut, die nicht zugelassen wird, weil sie, wenn erst einmal losgetreten, aus Meißner Geschirr einen Polterabendhaufen machen würde.

»Du hast viel erreicht, sag nicht ›wir‹. Ich habe nur wenig Anteil, eben so viel, wie ein Angestellter imstande ist zu leisten. Was ist das schon?« Tränen liegen auf der Zunge.

Herbert hebt sich aus seinem Schreibtischstuhl, will den Mann, den er seit so vielen Jahren kennt und liebt, umarmen, will abwinken, schlichten, wie so oft schon. Seine Hände wollen Bauch streicheln, Oberarm umfassen, wollen Kopf auf seine Schulter legen.

»Nicht! Fass mich nicht an ... du machst es dir zu einfach!«

»Aaron! Was kann ich schon tun? Wir haben uns zu beugen, wir dürfen nicht so sein, wie wir sind.«

Schweigen ist laut, übertönt den Regen. Unfähigkeit umschließt zwei Menschen, lässt sie allein in ihren Gedanken, macht sie einsam. Herbert nimmt Aarons Hand, zieht ihn hinter sich her. Sie schleppen sich die Treppe zum ersten Stockwerk hinauf.

Aaron ziert sich. Ein alter, sich immer wiederholender Film spielt sich vor ihm ab. Klebstoff, der die beiden noch zusammenhält: Sex. Problemlöser für alle Fälle.

Aaron sieht den ein wenig kräftigeren Herbert aus lang vergangener Zeit vor sich, er vergleicht ihn mit dem heute über 50-Jährigen, schwenkt zu dem jungen Kerl zurück. Sein Kopf sorgt für Begehren.

Herbert öffnet die Schlafzimmertür, schiebt seinen Liebsten in den Raum. Haben sie nur noch Sex, um zu vertuschen, nicht reden zu müssen, sodass alles bleibt, wie es ist? Er kickt die Tür ins Schloss, zieht die Vorhänge zu. Aaron ist immer noch ein attraktiver Mann.

Er nimmt die weiche Decke zurück und legt sich auf das Bett, öffnet sein leinengestärktes Oberhemd. Reißverschlüsse werden geöffnet, an Unterhosen genestelt. Dunkelheit behält Gedanken für sich, übergeht Oberflächlichkeit, braucht keine Lügen zu heucheln. Hände graben sich in Körper, auf der Suche nach Erotik. Kein Radio spielt, kein Aftershave, das verwirrt. Zwei alternde Männer bemühen sich. Ihr Tun gleicht immer mehr einem Ringkampf. Machtkämpfe hinter Scheiben, die mehr als nur den Regen aushalten müssen.

Der frühe Abend wird zur verzweifelten Nacht.

Vor dreißig Jahren, im Berlin der Zwanzigerjahre, war ihre Liebe noch selbstverständlich.

Der Beginn einer Liebe im KaDeWe – Frühling 1927

»Aaron, die neue Kollektion muss ins Schaufenster gestellt werden. Geh ins Lager, Frau Hebel weiß Bescheid und hat die entsprechenden Kleider rausgesucht.«

»Gut, Chef.« Aaron läuft gut gelaunt durchs KaDeWe, vorbei an Vitrinen aus Nussbaum, gold umrandeten Spiegeln und großen Kugellampen. Vorbei an Wänden mit goldenen Tapeten und zartgliedrigen Mustern. Eleganz in seiner wunderschönen, verschwenderischen Fülle, gezeigt ohne jede Scham, weil der Schönheit der Platz eingeräumt wurde. Hier fühlt er sich wohl, er läuft und seine Gedanken verlieren sich an Victor, der Kunde für das Extra-Verdienen-und-Spaß-Haben-Dabei, eine Tätigkeit, die er »Liebesdienste« nennt, nach der regulären Arbeit, eine Arbeit für die Nacht, er läuft und lächelt und träumt vor sich hin und plötzlich stößt er auf einen Körper.

Er stößt mit einem Kunden des KaDeWe zusammen, will »Verzeihung« sagen, will seine Unachtsamkeit in Ausdruck bringen, doch sein Mund bleibt geschlossen. Nur für Sekunden treffen sich ihre Blicke. Aaron nimmt blaue Augen wahr, blondes, nach hinten gekämmtes, gewelltes Haar, wohlgeformte Kusslippen, schöne, dunkle Augenbrauen. Der Fremde hält eine Schiebermütze in den Händen, einen dunkelroten Schal hat er lässig um den Hals gewickelt, der Kragen seiner schweren Jacke ist aufgestellt. Er ist fast schon an ihm vorbeigegangen, eine ältere Dame redet auf den Blonden ein. Aaron muss sich etwas überlegen, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Er sieht, wie sich der Hüne beim Weitergehen noch mal zu ihm umdreht. Nie ist Aaron verwirrt oder schüchtern, oft sogar zu unvorsichtig, doch jetzt versagt alles in ihm. Der gewellte Hinterkopf entfernt sich, Aaron muss ins Lager, die Fenster müssen noch fertig dekoriert werden, die Zeit drängt. Schweißperlen bilden sich auf seiner Stirn.

»Sag mal, träumste wieder mal von der Ufa ...?« Hilde aus der Spielzeugabteilung haut ihm auf die Schulter, »... oder biste schon wieder auf Wolke sieben verschwunden ... he?«

Aaron zuckt zusammen.

»Was willst du? Keine Zeit.«

Er läuft und holt den Fremden ein, ist natürlich außer Atem, versucht, diesen zu kontrollieren.

»Tschuldigung, kann ich Ihnen helfen? Ich arbeite nämlich hier.« Noch immer pustet Aaron wie verrückt.

»Nun, da müssen Sie schon meine Tante fragen, ich bin hier nur unter Protest mitgekommen.«

»Nein, junger Mann, wir haben schon alles gefunden. Schauen Sie mal, das sind doch ganz hübsche Hemden. Die soll er nämlich an der Universität tragen. Wenn ich seine alten Klamotten sehe, könnte ich richtig böse werden! Na ja, noch resigniere ich nicht. Und einige Trümpfe hab ich ja noch im Ärmel, also nichts für ungut. Herbert, ich schau mir noch die Krawatten an, wartest du hier auf mich?«

»Aber natürlich, Tantchen!«

Aaron lächelt verlegen. Wir sind jetzt ganz unter uns, denkt er und vergisst alles um sich herum. Zwei junge Männer auf Augenhöhe, der eine weiß unausgesprochen über den anderen Bescheid. Babelsberg. Was hätte Lubitsch aus diesem Moment gemacht? Natürlich muss man sich ein normales Paar vorstellen, zum Beispiel Lilian Harvey und Conrad Veidt. Minutenlanges Schweigen, prüfende Blicke. Aaron sucht nach Worten, denn er will diesen Moment nicht ungenutzt verstreichen lassen. Sie schauen sich immer wieder schüchtern an.

»Sind Sie das erste Mal hier?« Aaron breitet seine Arme aus, und empfindet sich dabei als zu dramatisch. Verlegen schaut er über die Kunden hinweg, um dann doch wieder den jungen Mann vor sich zu betrachten. Ihre Blicke treffen sich und niemand von den beiden möchte sich mehr abwenden. Aaron fährt sich mit den Fingern durchs Haar, gerne würde er mit dem Unbekannten durchs KaDeWe schlendern, um ihm sein Reich zu zeigen. Auf der Stirn seines Gegenübers bilden sich Schweißperlen, die er nicht wagt, wegzuwischen. Aaron hört seinen eigenen Atem, er fühlt sich durch den Blick des fremden jungen Mannes gestreichelt, spürt ihn geradezu körperlich. Die beiden Männer scheinen sich in einem Kokon zu befinden, unmerklich bewegen sie sich aufeinander zu, nehmen nur einander wahr.

»Aaron, sag mal, wo treibst du dich denn herum?« Unangekündigt werden sie zurück in die Realität geworfen. »Glaubst du, die Arbeit macht sich von allein?« Aaron erschrickt, der Hüne hustet ein wenig zu laut.

»Nee, Chef, ich wurde aufgehalten, der Kunde hatte eine Frage an mich, und wir sollen doch unsere Kunden immer zufriedenstellen ... nicht wahr?«

Ein Lächeln setzt sich auf die Lippen des Hünen und schon ist er verschwunden.

Die Schaufensterpuppen werden mit der neuen Frühlingskollektion bekleidet. Aaron ist weit weg, in seinen Träumen versunken, niemand außer ihm hat dort Zutritt. Er braucht diese Traumwelt. Sie lässt ihn fliegen, eintauchen in Schönheit, Abenteuer, wilde Romanzen ohne bitteren Beigeschmack. Die Schaufensterpuppen werden zu Tänzerinnen mit zartgliedrigen Körpern. Lange Beine wirbeln durch die Luft. Er begutachtet jede Einzelne genau, verlangt sehr viel von den Mädchen, er, der Choreograph, peitscht, schreit, feuert an, tröstet, nimmt in den Arm. Sie vertrauen ihm. Aaron leitet die Tanzgruppe des Friedrichstadtpalasts. Die Kostüme müssen noch mal überarbeitet werden, sie sollen viel Haut zeigen, dürfen jedoch niemals ordinär wirken. Natürlich hat er immer das letzte Wort.

 

»Ihr müsst mehr auf eure Figur achten, wie sollen euch die Boys denn hochheben? So, jetzt möchte ich noch die berühmteste Girls-Line der Welt betrachten, um die uns sogar der Broadway beneidet, also los, Mädels!«

»Aaron, wie lange brauchst du denn noch? «

»Bin gleich fertig, Chef.«

»Na, sieht ja ganz gut aus, stell sie noch in die Fenster, danach kannst du Feierabend machen.«

Aaron setzt sich seine Mütze auf. Der Ku’damm schaltet schon seine Leuchtreklamen an. Autos knattern an ihm vorbei, Pferdedroschken poltern laut über die Straßen. Studenten in Kniebundhosen klingeln sich auf ihren Rädern den Weg frei. Menschen, die noch schnell eine Besorgung machen wollen. Elegante Damen tragen wagenradgroße Hüte. Herren in gutem Zwirn freuen sich auf eine Nacht im Separee. Der Ku’damm ist voll wie eh und je. Kriegsinvaliden betteln, hungrig, Gliedmaßen amputiert, Gesichtern fehlt ein Auge, andere sind blind. Manchem Helden wurde die Haut verätzt. Sie verkaufen Streichholzpäckchen, Kartenspiele, Nähnadeln und sonstigen Schnickschnack. Hier sind die Vorbeigehenden rastlos und beachten die Bettelnden, auf den Steinplatten Sitzenden, kaum.

Der Dekorateur blendet aus, der zweite Beruf muss heute noch ausgeübt werden. Er fühlt sich gut, die Welt will er umarmen. Pfeifend macht er sich auf den Weg. Victor wartet, will mal wieder verwöhnt werden. Aaron spürt ein Tippen auf seiner Schulter, dreht sich um, schaut in ein schüchternes, aber dennoch strahlendes Gesicht.

»Tschuldigung, ich dachte ...«

»Sie hätte ich nicht erwartet«, lächelt Aaron aufgeregt, schaut auf seine Uhr und flucht innerlich darüber, keine Zeit für diesen blonden Hünen zu haben.

»Sie wollen mich doch jetzt nicht wegschicken, oder?«

»Aber nein«, stottert Aaron und erklärt, dass er noch einen wichtigen Termin hat, den er unter keinen Umständen verpassen darf. Die beiden jungen Männer gehen wie selbstverständlich nebeneinander her. Die laue Frühlingsluft streichelt sie.

An der Bushaltestelle bleibt Aaron stehen. »Mein Bus kommt gleich.«

Augen verlieren sich, wollen dem Blick des anderen standhalten, unmöglich.

»Sonntag um drei vor dem ›DéDé‹, okay?«

»Wo ist das?«

»Na, in der Bülowstraße ... werden Sie schon finden! Und ich bin übrigens Aaron.«

»Herbert.«

Sie wollen sich berühren, tun es doch nicht. Der Bus stoppt nur kurz vor ihnen, Aaron springt auf, winkt dem Unbekannten zu, dreht sich weg, die Nacht ruft und schon konzentriert er sich auf seine zweite Tätigkeit.

***

Berlin-Dahlem. Ein eisernes Tor öffnet sich wie von Geisterhand, die lange Auffahrt wird zum Laufsteg. Aaron ist nicht aufgeregt. Er schlendert, ist beinahe gelangweilt und genießt den sternenklaren Abend. Kleine Windstöße versuchen, sein geordnetes Haar zu durchwühlen. Seine Motivation ist Geld, es ist das Einzige, was zählt, um das Leben zu führen, von dem er träumt. Die große Haustür wird geöffnet. Ohne die Hausdame im schwarzen Kleid zu beachten, betritt Aaron den italienischen Marmor. Auf der Freitreppe liegt ein roter Läufer. Zum Obergeschoss geht er zögernd und doch eilenden Schrittes hinauf. Er hat in unzähligen Filmen gesehen, wie es aussehen muss, als verzehre man sich, und doch nicht wirkt, als könne man es gar nicht mehr erwarten. Victor trägt einen blauen Pyjama mit schwarzen Punkten, darüber eine Hausjacke aus zarter Seide, seine Haare sind gefärbt, auf 180 Zentimeter verteilen sich auf circa 60 Kilogramm. Die Arbeit beginnt.

»Mein Liebster, da bist du endlich, ich vergehe vor Lust. Wo bist du nur so lange geblieben?«

Victor zieht Aaron in seine Arme, seine Lippen sind gierig, können nicht länger warten.

»Victor, bitte, wieso glaube ich eigentlich immer wieder, dass du kultiviert bist und lasse mich dann so grob von dir behandeln? Also bitte!«

Es ist ein Spiel. Aaron hält Victor auf Abstand, es ist, als würde er ein kleines Kind mit Schokolade locken, bereit, sie ihm als Ganzes zu geben, doch dann bekommt es von dem Nougat immer nur ein kleines Stück nach dem anderen.

»Entschuldige, Liebster, lass uns in den Salon gehen, du wirst überrascht sein, was ich für uns alles anrichten ließ. Schau: Langusten, Hummer, Muscheln, feinste Pastete, Kaviar, französischer Käse aus Burgund, englisches Chutney, selbstgebackenes Bauernbrot. Und das Täubchen habe ich heute Morgen aus dem Delikatessengeschäft Förster in der Fasanenstraße bringen lassen. Aber natürlich zuerst einen Aperitif.«

Die beiden oberen Knöpfe von Victors Pyjamajacke sind inzwischen geöffnet. Aarons Gesicht legt eine für diese Gelegenheit geeignete Mimik aus interessierter Zurückhaltung mit einem kleinen Schuss Erotik auf. Victor reicht seinem Gast ein Glas, Aaron macht einen Schritt auf Victor zu, dieser drückt seinen erregten Körper an ihn. Die beiden Männer schauen einander schweigend an. Die Gläser ergeben beim Anstoßen einen zarten Klang. Hand in Hand schlendern sie zum Tisch. Victor zieht den Stuhl vom Tisch, Aaron lässt sich darauf fallen und betrachtet zufrieden die üppig gedeckte Tafel. Das Mahl wird zum Fest.

Geraume Zeit später liegen die beiden auf einem breiten Bett. Zartrosa Kissen umrahmen die beiden unterschiedlichen Körper, der eine ist als schön zu bezeichnen, der andere muss mit allerlei Stoff drapiert werden, um dann doch nur als fehlgeschlagener Versuch der Natur wahrgenommen zu werden. Ein schwerer Duft, den sich der Ältere auf seinen Körper gesprüht hat, liegt in der Luft. Victor liegt entspannt auf der Matratze. Aaron holt die Champagnerflasche aus dem Kübel und führt den Flaschenhals zum Mund seines Gastgebers, die Lippen umschließen die runde Öffnung. Jetzt folgt der zweite Akt seiner Arbeit. Willig nimmt Victor den Champagner auf. Ein sanftes Schaudern durchflutet seinen Körper, er reckt sich Aaron gierig entgegen. Aaron hebt Victors dünne Beine an. Ein erstickter Schrei. Aaron füllt Victor aus, stößt leicht in ihn hinein, bringt seinen schmächtigen Körper zum Schwingen. Victor ist keine Schönheit, recht groß von Gestalt, aber ein leichter Buckel im rechten Schulterbereich lässt ihn unförmig aussehen, seine Nase ist ein dicker Kolben, die Stirn zu hoch. Aarons Aufgabe ist es, Victor seine Makel vergessen zu lassen, ihm in seinen Armen das Gefühl zu geben, schön und geliebt zu sein. Natürlich hat alles seinen Preis und Aaron lässt sich sehr gut bezahlen. Er ist aber auch jede Mark wert. Aaron hält die Augen geschlossen, lässt seine Gedanken schweifen zu der Begegnung des Nachmittags, weckt so eine echte Leidenschaft in sich. Stöhnend genießt Victor unter ihm jeden wilden Stoß. Aaron wünscht sich Herbert herbei und fickt seinen Kunden fast brutal. Vor Augen hat er den blonden Jungen, seinen kräftigen Körper, die blauen Augen, das volle Haar, die wunderschönen Lippen. Aaron ist genervt von Victors rhythmischen Bewegungen, doch er macht seine Arbeit gut, stöhnt lauter als je zuvor, will sich zurücknehmen, um nicht unglaubwürdig zu erscheinen, doch ein Blick auf Victors seligen Augenaufschlag lässt ihn im selben Ton weiter stöhnen. Aarons Fantasie geht spazieren, wird hinausgeführt aus diesem Raum. In einer kleinen Pension, in einem Zimmer, auf einem alten Bett, liegt sein Kopf auf der Brust eines Mannes, den er noch gar nicht kennt. Ein Schrei holt Aaron in das Schlafzimmer zurück.

»Liebster, du bist so wunderbar, nie zuvor hast du mir so viel von dir gegeben, es war unglaublich!«

Aaron schenkt Victor ein Lächeln, stellt sein Stöhnen ein, erhebt sich aus dem Bett, greift nach der Champagnerflasche und trinkt fast die halbe Flasche auf einmal aus. Durch den Alkohol wird das Ganze weniger anstrengend. Er geht in das angrenzende Badezimmer, setzt sich auf den Badewannenrand und lässt Wasser einlaufen. Immer ist der Badeofen für ihn vorgeheizt. Sein Kunde lehnt nackt am Türrahmen, kleine Speichelbläschen ruhen zufrieden in seinen Mundwinkeln.

»Darf ich heute ausnahmsweise mal zuschauen?« Eine geflüsterte Bitte, in eine zitternde Stimme eingebettet, die keinem Betteln gleichkommen will und es dennoch tut. Glasige Augen nehmen befriedigt ein Nicken aus der Badewanne wahr. Ein unschönes Glied versteift sich, wird von beiden Männern ignoriert.

»Ich möchte Auto fahren lernen! Kannst du mir eine gute Fahrschule empfehlen?«

Aaron hat sich nie im Voraus von Victor bezahlen lassen. Heute weiß er, dass es sich rechnen wird. Der Hausherr verlässt das Bad, um Geldscheine in Aarons Hosentasche zu stecken, die Summe hat er verdoppelt. Vielleicht ist es übertrieben, aber wie viel Spaß steht einem Mann in seinem Alter und mit seinem Aussehen schon zu? Sein Wunsch ist es, ausschließlich zu genießen, nur für den Moment zu glauben, dass er tatsächlich geliebt wird und nicht nur gefickt.

»Gisbert wird dir eine Fahrschule empfehlen, die Rechnung lässt du dann einfach an meine Adresse schicken.«

»Victor, du bist so großzügig, dafür liebe ich dich.«

Aaron springt aus der Badewanne, umarmt seinen Gastgeber mit triefend nassem Körper, spürt Knochen, die aus der Haut hervorzustechen drohen. Victor hat sich in einen weichen Bademantel gewickelt. Aaron schnappt sich ein Badelaken, drückt es seinem Gegenüber in die Hände und lässt sich abtrocknen. Ihm bleibt nicht verborgen, dass der Mann, dessen Hände auf seinem Rücken das Handtuch kreisen lassen, wieder vor Erregung vibriert.

»Ach, Liebster«, säuselt Aaron, »wenn ich die ganze Nacht Zeit hätte, würden wir uns noch einmal vergnügen, aber es geht nicht. Ich habe leider noch Termine.«

»Dir steht mein Wagen zur Verfügung, und alle wichtigen Fragen zum Führerschein wird dir Gisbert beantworten.«

Victor lässt den Wagen vorfahren. Er steht auf der oberen Stufe der Treppe und schaut dem jungen Mann hinterher. Wie ein Vogel fliegt Aaron davon und sieht Victor unbewegt am Treppengeländer stehen. Noch im Wegfahren meint er, in der Dunkelheit seinen sehnsüchtigen Blick zu erkennen.

Aaron hat die hintere Autotür, welche Gisbert ihm geöffnet hatte, zugeschlagen, um zur Beifahrertür einzusteigen. Erschöpft lehnt sich ein Nachtarbeiter in weichem, hellem Nappaleder zurück und beobachtet Gisbert beim Fahren. Gewaltig schnurrt der Horch über die Straßen, lässt Jugendstilvillen hinter sich.

Aaron fragt den Fahrer aus, er will alles wissen: Wo er am besten den Führerschein machen kann, welche Voraussetzungen er beachten muss, wie viel Fahrstunden wohl nötig sein werden. Aaron spürt die Abneigung des Fahrers, bemerkt in dessen Mundwinkeln ein süffisantes Lächeln, als er nur für Sekunden seinen Blick von der Straße weg- und ihm zuwendet, um dann wieder auf die Straße zu schauen. Die weiß behandschuhten Hände halten konzentriert das Lenkrad fest. Mit kaum spürbarem Übergang zwischen den Gängen wird der Wagen souverän geschaltet, um dann die Geschwindigkeit zu erhöhen. Aaron kann sich vorstellen, was der Chauffeur über Menschen denkt, die ihren Wagen selbst durch Berlin lenken möchten. Einer männlichen Hure Rede und Antwort zu stehen, widerspricht ihm sicherlich ganz und gar. Aaron versucht, sich in die Gedankenwelt des Fahrers hinein zu versetzen, dieser hat sicherlich viele kommen und gehen sehen. Gisbert hat probiert, seinen Dienstherren gegen Schmarotzer und Diebe zu schützen, aber Victor war eben hungrig nach menschlichen Kontakten. Aaron schmunzelt über Gisberts herablassenden Blick. Die Moralvorstellungen anderer interessieren ihn längst nicht mehr – zumal er mit seinen Besuchen bei Victor wahrscheinlich so viel verdient wie der Chauffeur in einem ganzen Monat.