Das Zwillingsparadoxon

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Das Zwillingsparadoxon
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Ron Müller

Das Zwillingsparadoxon

AndroSF 155

Ron Müller

DAS ZWILLINGSPARADOXON

AndroSF 155

Überarbeitete Neuausgabe des im Januar 2015 bei neobooks erschienenen E-Books gleichen Titels.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© dieser Ausgabe: April 2022

p.machinery Michael Haitel

Titelbild: Kriachko Oleksii, Flügel des Papilio Ulysses (Shutterstock)

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda

Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Norderweg 31, 25887 Winnert

www.pmachinery.de

für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu

ISBN der Printversion: 978 3 95765 279 9

ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 821 0

Erster Teil

Es ist nie die verlorene Zeit, die uns schmerzt. Es ist immer nur das, was sie ermöglicht hätte.

1

Lichtgraue Bartstoppeln waren aus der Haut getreten. Sie wirkten fehl am Platz. Ein Organ des dazugehörigen Körpers nach dem anderen versagte den Dienst. Nur die Stoppeln trotzten dem Rückgang an Leben.

Niemand hatte sich in der Pflegeeinrichtung die Mühe gemacht, den Sterbenden in den vergangenen Tagen zu rasieren.

Dem Alten kam etwas Undeutliches über die Lippen.

»Was sagt er?«

»Er will trinken«, antwortete die Schwester.

Doktor Geiger schüttelte den Kopf.

»Das ist nicht Ihr Ernst?«

Er deutete auf eine Patientenverfügung neben dem Laptop, die tatsächlich einen entsprechenden Passus enthielt, und wandte sich wieder dem Bildschirm zu. Auf selbigem schlugen einige Vitalparameter aus – Indikatoren für den Zeitpunkt, an dem es mit dem Probanden zu Ende gehen würde. Auffällig war ein Wert im unteren Bereich, der ein Gewicht um die achtundvierzig Kilogramm bis auf die vierte Stelle nach dem Komma zeigte.

Die Kurve des Blutdrucks bewegte sich nach oben.

»Wasser.« Der Alte wimmerte.

Diesmal vernahm auch Doktor Geiger die Bitte.

»Er bekommt etwas zu trinken!« Die Schwester hatte sich empört einen Becher genommen und war im Begriff an das Bett heranzustürmen.

Steiner versperrte ihr den Zutritt.

»Sind Sie bescheuert?«, fauchte sie.

»Was glauben Sie, wozu es Patientenverfügungen gibt?«, fragte Doktor Geiger.

»Der Mann ist doch geistig vollkommen klar. Die Verfügung hat noch gar keinen Sinn.« Der Ton der Schwester schlug ins Schrille um. »Ich lasse jetzt einen Arzt aus dem Klinikum kommen!«

»Rufen Sie Doktor Michalzky«, rief Doktor Geiger ihr hinterher.

»Das ist mir völlig egal. Ich hole den, den ich am schnellsten in die Einrichtung bekomme.«

Wütend rauschte sie aus dem Raum. Lange würde sie nicht brauchen, da sich das Klinikum auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand.

»Endlich ist dieses Weib weg. Machen Sie kurzen Prozess!«, wies Doktor Geiger seinen Komplizen an.

Steiner drückte auf eine Taste der Morphinpumpe. Mit leisem Zischen entwich der Wirkstoff und verschwand über einen Schlauch in der Ader des Alten. Binnen Sekunden entkrampfte sich dessen Gesichtsausdruck. Die Gewichtsanzeige auf dem Bildschirm beeinflusste dies nicht. Dafür hatten die Männer gesorgt. Das Bett, an dessen Pfosten die Pumpe angebracht war, ruhte auf vier Präzisionswaagen, von denen Kabel zum Laptop führten – eine Methode, um sein Körpergewicht ständig kontrollieren zu können. Wenn er sich regte, gab es kurzzeitig eine Ungenauigkeit von einigen Gramm, die sich binnen Sekunden wieder einpegelte.

»Noch mal.«

Erneut ging die Taste nieder, die eine zweite Dosis der Droge verschickte. Sie sorgte dafür, dass sich der Proband kaum mehr bewegte. Der Herzschlag nahm ab.

»Und noch eine. Noch eine …«

Bevor ein fünftes Mal ausgelöst werden konnte, hörten die beiden Stimmen von der Straße. Die Werte des Alten verblassten zusehends. Steiner hetzte zur Tür und stemmte sich dagegen.

»Sie sind sich absolut sicher?«

Doktor Geigers Gesichtsausdruck zeigte keinen Zweifel.

»Dann los!«

Es wurde an der Tür gerüttelt.

Steiner hielt sie, so gut es ging, von innen zu.

»Machen Sie hin, Doktor! Viel Zeit bleibt uns nicht.«

Ein Finger fiel auf die Taste an der Pumpe. Dem Patienten war das Ergebnis nicht mehr anzusehen. Die Droge beherrschte ihn bereits. Nur seine Herzfrequenz sank weiter. In kurzen Abständen zischte es. Die Maschine war in der Lage, alle vier bis fünf Sekunden die Dosis zu erhöhen.

Das Hämmern wurde bedrohlicher. Auf der anderen Seite der Tür warf sich jemand mit der Schulter dagegen und brüllte.

»Sie klemmt«, rief Steiner nach draußen. »Ich versuche sie zu öffnen, aber es geht nicht.«

Wieder und wieder erhöhte sich der Morphinanteil im Blut des Sterbenden. Als dieser seine Lunge lähmte, war der Körper bereits so davon durchdrungen, dass er es wehrlos hinnahm, nicht weiter mit Sauerstoff versorgt zu werden.

Um 22:07 Uhr hörte das Herz des Alten auf, zu schlagen.

Im Brustkorb Doktor Geigers fühlte es sich zu diesem Zeitpunkt an, als würden sämtliche Organe auf die Hälfte ihrer Größe zusammengepresst. Im Schockzustand versuchte kalter Schweiß, aus der Haut zu treten. Doch dieser erstarrte in den Poren. Denn mit einem Mal stand die Flüssigkeit in den Adern still. Jede Faser in ihm flehte, dass etwas dem Körper einen Schlag versetzte und das Blut wieder vorantrieb. Stattdessen fiel das Gehör in sich zusammen. Alles wurde dumpf, kaum wahrnehmbar.

Ruhe.

Auch die anderen Sinne waren entschlafen. Doktor Geiger stöhnte nicht mehr – wirkte beinahe friedlich.

Weit entfernt vernahm er ein Grollen. Kurz und warm.

Da. Erneut.

Dieses Mal deutlicher. Näher. So kräftig, dass es ihn zu erreichen, ja förmlich aus seiner Brust zu kommen schien.

Halb ohnmächtig nahm er den ersten Herzschlag entgegen, der sein Leben von Neuem anstieß. Er klammerte sich keuchend an den Tisch, brauchte lange, um wieder klare Gedanken zu fassen.

Endlich!

»Geben Sie mir den Laptop mit den Daten«, rief Steiner.

Die Daten. Doktor Geiger wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er löste die Kabel vom Computer und drückte ihn Steiner in die Hand. »Gehen Sie.«

»Sie wollen es wirklich tun?«

»Es wird Zeit, dass jemand mit dem Tod spricht und für uns neue Konditionen aushandelt«, keuchte er, bemüht um ein Grinsen.

Steiner lächelte, als er die Tür einen Spalt weit öffnete, seine ein Meter neunzig hindurchdrängte und sie hinter sich zuzog. Bei seiner Statur sollte es ihm möglich sein, das herbeigeeilte Klinikpersonal einige Minuten lang aufzuhalten.

Doktor Geiger ging zu drei anderen Personen, die abseits des Toten an der Fensterfront in Pflegebetten lagen. Alle über achtzig, die eine fast hundert.

Sie war die Erste.

»Als ihr geboren wurdet, hielt man euch kopfüber an den Beinen und schlug euch auf den Hintern. Damit ihr atmet, sagte man, damit ihr lebt.«

Die Patientin war zu stark sediert, um die Worte aufzunehmen. Im Rausch genoss sie die Stimme des Arztes, während er ihr ein Mittel in die Vene spritzte. Sein abschätziger Unterton verlor sich in ihren Ohren. Zu sehr litt sie daran, dass sich seit Monaten in der Pflegeeinrichtung niemand über das Allernotwendigste hinaus mit ihr befasste. Sekunden später atmete sie nicht mehr.

Doktor Geiger riss es von den Beinen.

Dieses Mal war die Reaktion stärker. Unfähig seinen Körper zu kontrollieren, platzten ihm Adern in den Augäpfeln. Blut rann aus dem Mund. Nur knapp einem erneuten kardiologischen Schock entgangen, ließ er die physischen Ausfallerscheinungen nicht die Oberhand gewinnen und griff nach der zweiten Spritze in der Tasche, zog sich am Bett hoch und schleppte sich zu einem anderen Patienten.

»Ihr Narren, als ob es für das Leben nur das Atmen bräuchte. Verzweifelt quälte sich die Lunge, um sich am Tag eurer Entbindung mit mehr als nur mit Sauerstoff zu füllen. Denn Luft allein reicht nicht, um ein so junges Leben von der ersten zur nächsten Minute zu retten – brüllend, weil Lungen brennen, wenn sie versuchen, etwas von dem in sich hineinzuziehen, das den Ort einer Geburt umgibt, und von dem ihr noch nicht mal wisst, dass es existiert.«

Er stach die zweite Spritze in den Arm des ausgemergelten Alten. Die Folgen bekam der Arzt nicht mit. Zu heftig riss es ihn für einen Augenblick aus dem Bewusstsein.

Eher tot als lebendig nahm Doktor Geiger die letzten Momente wahr. Der ausstrahlende Schmerz in der linken Brusthälfte verließ ihn nicht mehr. Die Beine und eine Körperhälfte versagten. Nur der Wahn funkelte nach wie vor aus seinen Augen. Mit den Zähnen zog er die Kappe von der Spritze, um den übrig gebliebenen Patienten in den Tod zu reißen. Er vermochte sich nur noch mit dem Oberkörper vom Boden aufzustemmen, langte mit dem Arm auf das Bett, um die Kanüle in den Bauch des Opfers zu rammen.

»Ihr habt keine Vorstellung davon, was ich der Nachwelt mitgebe!«

Als die Tür aufgestoßen wurde, fand man Doktor Geiger beinahe tot auf. Sein Kopf war auf dem Boden aufgeschlagen und lag in einer Blutlache.

 

Steiner würde später bei der Befragung den Zweck des Versuches zu Protokoll geben. Seine Antwort sollte sich von seinem tatsächlichen Kenntnisstand weit entfernen. Den Ermittlern musste es so vorkommen, als sei es völlig unerheblich, welche Heimbewohner an diesem Tag durch die Hand des Arztes starben.

Dieser Eindruck war unbestreitbar richtig.

2

Die Temperatur im Kühlbereich lag einige Grad über null. Der Angestellte hatte den zuvor gelieferten Leichnam entkleidet und auf die Metallbahre von Fach acht gehievt. Mit einem Tuch bedeckte er notdürftig dessen Schritt. Auseinandergefaltet hätte der Stoff auch für den gesamten Körper gereicht, aber die Mühe machte er sich nicht.

Meist ließen sich vom Gesichtsausdruck eines Toten Rückschlüsse auf die Umstände ziehen, unter denen dieser ums Leben gekommen war – in diesem Fall nicht. Doktor Geigers Miene war keineswegs schmerzverzerrt, nicht einmal angsterfüllt. Wüsste man nicht, dass der Tod ausnahmslos etwas Furchtbares sei, müsste man glauben, er habe sich seiner in einem glücklichen Augenblick angenommen.

Mit immenser Kraftanstrengung schob der Angestellte die fünfundachtzig Kilo in Position und legte die Arme eng an das Becken, damit sie in das Fach passten. Bei der acht und der drei waren die Führungsschienen ausgeleiert und hatten so viel Spiel, dass die Bahre nicht mehr in der Waagerechten war. Dort mussten die Verstorbenen somit etwas aufwärts bis in die Arretierung gewuchtet werden. Hielt man dabei nur einen Zentimeter zu früh an, rollte die Bahre wieder heraus und das Ganze begann von vorn. Bis siebzig Kilo mochte es gehen – alles darüber war eine elende Plackerei.

Beim dritten Versuch rastete die Halterung ein. Geschafft warf der Mitarbeiter der Pathologie die Tür des Fachs zu. Der Schwung reichte nicht aus. Einen kleinen Spalt blieb sie offen. Er bemerkte es nicht. Nur noch kurz den Geruch der Verstorbenen von sich abwaschen, der nur Einbildung war, weil nicht mehr als das allgegenwärtige Formalin in die Nase steigen konnte. Danach den Computer herunterfahren und umziehen. Dann wäre er im Wochenende.

Ein dünn geschnittener Teil Tageslicht fiel auf Doktor Oswald Geiger. Sein Körper fing an, die Temperatur des Kühlraumes anzunehmen, langsam, vorerst äußerlich, doch bis zum folgenden Morgen hätte er der Kälte wenig entgegenzusetzen.

Zu Lebzeiten hatte er mehr als ein Mal daran gedacht, notariell zu verfügen, dass ihm nach Feststellung des Todes ein Arzt eine Spritze setzen muss. Ein Giftcocktail, der ihn spätestens dann endgültig aus dem Leben nähme – eine letzte Versicherung.

Es gab nie einen konkreten Anlass, aber die Furcht irgendwann in einem Sarg unter der Erde aufzuwachen, wurde alle paar Jahre durch zweifelhafte Geschichten belebt.

3

Es war an einem Dienstag, einem frühen Nachmittag, als Henning bewusst wurde, dass jemand fehlte. Die vergangenen Tage über hatte er Zeit gehabt, die Tatsache anzunehmen. Doch er war meist zu betrunken oder auf eine andere Weise abgelenkt. Also entschied sich sein Innerstes, damit bis zu diesem Zeitpunkt zu warten, als er allmählich ausnüchterte.

Henning war nicht der Typ, den man in einem Café fand. Aber er war verkatert, ausgehungert und brauchte endlich einen anständigen Kaffee – nicht so einen maschinengefilterten.

Café Central. Der Name ließ Großes vermuten, einen Ort, der das Leben einer Stadt zu bündeln in der Lage war. Mehr noch, da die Zeiten Generationen zurücklagen, in denen man Central mit »C« schrieb.

Man könnte Henning als herablassend beschreiben, aber so abseits – zwar innerhalb der Altstadt, aber doch eine entscheidende Nebenstraße vom Strom der Touristen und damit von allem entfernt – fehlte ihm für den Namen des Ortes jegliches Verständnis, der zu allem Übel keine Geschichte vorzuweisen, sondern erst im vergangenen Jahr eröffnet hatte.

Dennoch befand er sich an ebendiesem, getrieben von dem, was ihm passierte, aber noch nicht in ihm angekommen war. Um dies zu ändern, bedurfte es lediglich eines Kaffees. Richtigerweise bedurfte es nur eines bestimmten Augenblicks, in dem er rein zufällig Kaffee trank.

»Eine kenianische oder brasilianische Mischung? Neu ist der Arabica«, fragte ihn eine Frau Anfang zwanzig nach knapper Begrüßung.

»Wenn ich von Ihnen wissen wollte, ob sie lieber französischen oder südafrikanischen Wein bevorzugen, wäre die Frage nicht ebenso unsinnig?«, maulte Henning. »Als ob es in bestimmten Ländern nur Gutes und anderswo ausschließlich Schlechtes gäbe. Wie viele brasilianische Kaffees gibt es. Hunderte? Und schmecken die nicht alle unterschiedlich?«, brabbelte er in seinen Bart, der zwischen Kinn und Oberlippe exakt in schmaler Linie geschnitten war. Er lenkte vom Doppelkinn ab, das sich nicht mehr leugnen ließ.

Sie brachte ihm die Tagesempfehlung in einer Miniaturausgabe eines Kaffeebereiters. Ein Glasgefäß mit einem Stempel, den sie langsam nach unten drückte. Henning bekam es nicht mit. Er starrte aus der leicht bronzefarben getönten Scheibe auf das gegenüberliegende Geschäft. Minutenlang.

Ist noch alles in Ordnung bei Ihnen?«

Henning schreckte auf. Da war sie wieder, die oberflächliche Bedienung.

»Sicher«, winkte er die Nachfrage ab – sie galt nicht seinem Wohl, sie sollte nur sicherstellen, dass er nicht länger als nötig einen der guten Fenstertische blockierte, ohne etwas zu sich zu nehmen.

Er schenkte sich ein.

Heiß war der Kaffee und dunkel. Es fiel ihm auf, wie gut die kleine Kanne die Temperatur behielt. Als hätte man eben erst aufgegossen.

Vorsichtig hob er die Tasse, berührte sie mit der Unterlippe. Er atmete nicht durch die Nase – der Duft interessierte nicht. Auch kein Tropfen sollte vorerst seinen Mund treffen, dafür neigte er das Geschirr zu wenig. Die Lunge zog lediglich in tiefen Zügen den aufsteigenden Dampf in den Rachen und versuchte ihn zu schmecken. Etwas bitter, empfand er, doch wahrscheinlich war das nur Einbildung.

In diesem Moment erreichte Henning schlagartig das, was die meisten seiner Verwandten seit Tagen Schwarz tragen ließ. Es hatte in seinem speziellen Fall einen fahlen Beigeschmack und nichts mit Trauer zu tun, aber von einer Sekunde auf die nächste wurde deutlich, dass es etwas zu ersetzen galt, auf dem seine gesamte Vergangenheit aufbaute.

Henning Geiger hatte keinen Respekt vor seinem Vater. Schließlich distanzierte er sich zu Lebzeiten so weit von ihm, wie es nur möglich war. Dennoch fehlte er.

Als ihm das klar wurde, lösten sich seine Finger vom Henkel der Tasse. Unfreiwillig.

Das Porzellan traf hart auf die Tischplatte. Seltsam, dass es nicht zersprang.

Henning ließ kein Geld auf dem Tisch liegen, von dem verschütteter Kaffee lief. Er hetzte nach draußen, rannte. Für Außenstehende, die nur einen kleinen Teil seiner Vergangenheit kannten, mochte es so aussehen, als wollte er einem Stück Zeit nacheilen, in welchem sein Vater noch lebte.

Doch darum ging es nicht.

Es war etwas mehr als eine Woche her, dass ihm der Arzt in der Notaufnahme sagte, dass der Vater es nicht geschafft hatte. Diese Nachricht verlangte ihm keine Träne ab. Sie war die logische Konsequenz des Zustandes, in dem man ihn aufgefunden hatte.

Ebenso logisch wie unveränderbar folgten die Vorbereitungen für die Beerdigung. Alles in sich schlüssig, alles Dinge, die zu tun waren und wenig Raum für die Bestürzung ließen, die von Anfang an beabsichtigte, ihn heimzusuchen. Doch es kam erst jetzt, wo das Wichtigste in die Wege geleitet schien, einige Stunden, nachdem er am Vormittag einen letzten Anruf an seine Mutter richtete.

Ob sie noch Hilfe brauchte, hatte er gefragt.

Sie schüttelte den Kopf. An seinem Ende der Leitung wurde das Schütteln zu einem Schweigen.

»Wir sehen uns dann nachher. Zieh den dunkelgrauen Anzug an.«

Henning nickte. Auch daraus machte das Telefon nichts als Stille.

Nach kurzem Zetern sprang der Motor des Volvos an. Er ließ sich manchmal etwas bitten, versah seinen Dienst aber recht ordentlich. Beim letzten Mal, als er Henning die Treue brach, lagen die Temperaturen zwanzig Grad unter null, im Winter vor drei Jahren. Kein Vergehen, das der Maschine aus den Neunzigern anzulasten wäre – es lag seinerzeit an der Batterie.

Der Auspuff dröhnte, als er den Hinterhofparkplatz des Cafés verließ und auf die schmale Durchfahrt zusteuerte. Bevor er sie passieren konnte, rauschte ihm ein Wagen von der Straße entgegen und der Fahrer stieg hupend vor ihm in die Eisen.

Früher ließ man Leute erst hinaus, ehe man irgendwo hinein wollte. Das müsste grundsätzlich auch für Hinterhöfe gelten, dachte Henning.

Wieder ein Hupen. Diesmal nerviger. Er legte den Rückwärtsgang ein und den rechten Arm auf die Beifahrerkopfstütze, um sich nach hinten zu drehen. Seit er acht oder zehn Kilo zugenommen hatte, raubte ihm Schnürsenkel zubinden und durch die Heckscheibe schauen etwas die Luft.

Von der Hofseite rauschte ein Mercedes heran. Er ignorierte Hennings Bemühungen, zurückzusetzen und hielt hinter dessen Stoßstange. Der Fahrer kannte wohl auch den Knigge-Grundsatz: Erst raus, dann rein.

»Großartig!« Henning blendete ein paar Mal auf. Keine Reaktion beim Wagen in der Durchfahrt.

Wie bescheuert muss man denn sein? Gleich gehe ich rüber!

Wieder die Hupe. Sein Blutdruck erhöhte sich erheblich. Bremse, Gang raus, Handbremse. Er warf die Tür auf und ging wütend zur Einfahrt. Er klopfte gegen die Scheibe der Fahrertür. Eine ältere aufgetakelte Frau dachte nicht einmal daran, sie herunterzulassen.

Das gibt’s doch nicht.

Er hämmerte energischer auf das Glas ein.

Nichts.

»Kriegen Sie nicht mal das Fenster runtergekurbelt?«

Nach einer Pause, um Henning noch etwas mehr zur Weißglut zu bringen, drückte sie den Fensterheber.

»Und Sie sind sich zu fein, rückwärts zu fahren?«, ging sie ihn in einer Heftigkeit an, dass er auf die Schnelle keine passende Antwort fand.

Hat die ‘nen Knall?, durchfuhr es Henning.

Aber die Frau war noch nicht fertig.

»Wollen Sie allen Ernstes von mir verlangen, dass ich rückwärts auf die Straße zurücksetze? Was, wenn mir dann einer hinten drauf kachelt? Es kotzt mich an, dass in dieser Stadt scheinbar nur Idioten wohnen!«, wetterte sie. An ihrem Hals pulsierten Adern, was sie noch unansehnlicher machte.

Sie fuhr die Scheibe wieder nach oben.

Und wie soll ich nach hinten?, dachte Henning. Da steht jemand, inzwischen sind dort sogar zwei weitere Wagen. Wir machen doch jetzt nicht alle Platz, damit die gnädige Frau auf den Hof kommt? Warum fährt sie mich eigentlich so an? Warum heute?

Er spürte, dass es ihm nicht mehr gelang, die Fäuste ruhig zu halten. Das Herz schlug wütend bis zum Hals. Er hatte die nötige Betriebstemperatur, um auszurasten, wie so oft, wenn man ihn aufstachelte. Entweder rutschte ihm dann die Hand aus oder er drosch etwas kurz und klein.

Jedoch nicht in diesem Fall. Henning stampfte zurück zu seinem Wagen. Er beugte sich über den Fahrersitz und zog den Schlüssel ab. Dann steckte er ihn in die Tasche seines Parkas, ebenso wie die geballten Fäuste, um sie im Zaum zu halten und mit ihnen keinen Unsinn zu machen, während er sich am Auto der Frau vorbei auf die Straße zwängte.

Zurück blieb ein herrenloser Volvo mit offener Tür.