Der Mensch – Ein Spiegelbild seiner Zeit

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Der Mensch – Ein Spiegelbild seiner Zeit
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Rolf W. Meyer

Der Mensch Ein Spiegelbild seiner Zeit

oder

Wohin uns der Zeitgeist treibt

Impressum

Die Namen der Personen, die im 7. Kapitel (Solange man lernfähig bleibt) verwendet wurden, sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig.

Rolf W. Meyer

Der Mensch – Ein Spiegelbild seiner Zeit

Copyright: © 2019 Rolf W. Meyer

Umschlagfoto: Rolf W. Meyer

Konvertierung: sabine abels | e-book-erstellung.de

Druck: epubli, ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Dieses Buch ist den indigenen Völkern auf unserem Planeten Erde gewidmet. Von ihnen können wir gerade im Zeitalter der wirtschaftspolitischen Globalisierung viel lernen, da sie ein Spiegelbild unserer stammesgeschichtlichen Wurzeln sind.

„Es ist das Schicksal jeder Generation, in einer Welt unter Bedin-gungen leben zu müssen, die sie nicht geschaffen hat.“

John F. Kennedy, 35. Präsident

der Vereinigten Staaten von Amerika

Vorwort

Betrachtet man in einem Zeitraffer die demographische Entwicklung der Menschheit von der Mittleren Altsteinzeit bis heute, so ergibt sich folgendes Bild: Vor 100.000 Jahren, als auf dem afrikanischen Kontinent eine extreme Dürre herrschte, lebten auf der Erde etwa 2 – 3 Millionen Menschen der Unterart Homo sapiens sapiens, auch anatomisch moderner Mensch genannt. Als Jäger und Sammler existierten sie vor 40.000 bis 10.000 Jahren in kleinen, beweglichen Gruppen, die über ein weiträumiges Kommunikationsnetz miteinander verbunden waren.

Am Ende der letzten Eiszeit vor 10.000 Jahren entwickelten zuerst einige Gruppen des anatomisch modernen Menschen im Vorderen Orient neue Überlebensstrategien in Form von Ackerbau und Viehzucht. Weitere Gruppen in anderen Regionen der Erde folgten unabhängig davon. Diese neuen Lebensstrategien ermöglichten die Sesshaftwerdung. Die Menschen wurden territorial und nutzten die Umwelt viel intensiver. Dadurch stieg die globale Population auf bis zu 20 Millionen Menschen an. Die sesshafte Lebensweise, die sich über einen relativ großen Zeitraum allmählich entwickelt hatte, bewirkte im Neolithikum (Jungsteinzeit) viele Veränderungen im sozialen Bereich („Neolithische Evolution“).

Die Größe der Weltbevölkerung vor 2.000 Jahren schätzt man auf 170 bis 400 Millionen Menschen. Im Jahr 1750, dem Maximum der agrikulturellen Phase, umfasste die Weltbevölkerung etwa 750 Millionen Menschen. Im Zusammenhang mit der Industriellen Revolution (ein relativ schnell erfolgender Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft) stieg 1850 die Anzahl der Menschen auf der Erde auf 1,26 Milliarden an. Als der Autor dieses Buches im Februar 1942 geboren wurde, war er der 2.337.062.674ste Erdenbürger. Im Jahr 2019 umfasst die Weltbevölkerung 7,71 Milliarden Menschen.

In allen angesprochenen kulturhistorischen Zeiträumen wurden die Menschen in ihrer Entwicklungsgeschichte entscheidend beeinflusst, was sich auch auf ihr Verhalten auswirkte. Als frühzeitliche Jäger und Sammler konnten die Menschen ihre Umwelt optimal nutzen, ohne dauerhafte Spuren zu hinterlassen. Mit der Sesshaftwerdung hinterließen die Menschen oftmals Spuren, die von der Natur nicht mehr beseitigt werden konnten. Im Zusammenhang mit der Urbanisierung in kultur-technisch modern ausgerichteten Sozialverbänden ist ein bedeutender sozialer Wandel eingetreten. Dies zeigt sich besonders in Rechtssystemen und in bürokratischen Hierarchiemustern. Im Hinblick darauf ist eine legale, aber unpersönliche und bürokratische Kontrolle der Mitglieder in den Sozialverbänden wirksam. Inzwischen haben sich weltweit „Mega-Sozialverbände“ entwickelt, in denen die sozialen Balance- und Kontrollmechanismen in der Anonymität städtischer Massengesellschaften kaum noch funktionieren. Historisch gesehen ist eine kontinuierliche Zunahme des Anteils der Stadtbevölkerung festzustellen. Im Jahr 2008 lebten weltweit erstmals in der Menschheitsgeschichte mehr Menschen in Städten als auf dem Land.

Dass in der Kulturgeschichte des Menschen Bauern mit ihrer Arbeit in der Landwirtschaft und handwerkliche Tätigkeiten die Grundlage dafür schufen, dass Städte wachsen und Kulturen sich entfalten konnten, wird im ersten Buchkapitel „Zurück zu den familiären Wurzeln“ anhand ausgewählter Beispiele aufgezeigt. Die Erfahrung zeigt, dass sich in der dichten Atmosphäre der Städte die kulturelle Entwicklung sehr schnell beschleunigt. Diese Wohn- und Lebensbereiche werden immer mehr zum „Anziehungsmagneten“ für Menschen aus der ganzen Welt.

Das Thema „Der Erste Weltkrieg und seine Folgen“ im zweiten Buchkapitel spricht die erste militärisch geführte globale Auseinandersetzung in der Menschheitsgeschichte an, die von 1914 bis 1918 in Europa, im Nahen Osten, in Afrika, Ostasien und auf den Ozeanen ausgeführt wurde. Der Erste Weltkrieg war der Nährboden für den Faschismus in Italien, den Nationalsozialismus in Deutschland und wurde so zum Vorläufer des Zweiten Weltkrieges. Auf Grund der Verwerfungen, die durch den Ersten Weltkrieg in allen Lebensbereichen entstanden, und seiner bis in die jüngste Vergangenheit nachwirkenden Folgen betrachtet man ihn als die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ (George F. Kennan). Der Erste Weltkrieg markierte das Ende des Hochimperialismus. Im Zusammenhang mit „Krieg“ ist folgende Erkenntnis bemerkenswert: Der Krieg als destruktive, mit Waffen geführte und strategisch geplante Gruppenaggression ist ein Ergebnis der kulturellen Entwicklung. Krieg kann daher auch kulturell überwunden werden. Der Krieg ist nicht in unseren Genen verankert. Er hat jedoch insofern mit den Genen zu tun, als er die Eignung (Fitness, gleichbedeutend mit Fortpflanzungserfolg) der Sieger fördert. Der Mensch ist seiner Motivationsstruktur nach zweifellos friedensfähig. Will man den Frieden, dann muss man allerdings zur Kenntnis nehmen, dass der Krieg Funktionen wie jene der Ressourcensicherung und Erhaltung der Gruppenidentität erfüllt, die es dann auf andere, unblutige Weise zu erfüllen gilt. Aus soziobiologischer Sicht werden Kriege nicht so sehr durch Aggressivität sondern mehr durch ein Übermaß an Hingabebereitschaft des Menschen ermöglicht. Dies lässt in beeindruckender Weise sein altes Primatenerbe erkennen. Eine weitere Eigenschaft des Menschen, nämlich seine Bereitschaft zur Loyalität wurde schon immer zu politischen Zwecken missbraucht. Diese angesprochene Neigung ist eine weitere Erklärung für die Mobilisierbarkeit von Menschen zum gemeinsamen Kampf.

In dem dritten Buchkapitel „Auf dem Weg zum Zweiten Weltkrieg“ wird die Erfahrung eines Kriegsteilnehmers dokumentiert, der die Invasion 1944 in der Normandie und die letzten Kriegswochen in Norditalien miterlebt hat. Im Mai 1945 geriet er in britische Kriegsgefangenschaft. Der Zweite Weltkrieg, der von 1939 bis 1945 geführt wurde, war der zweite global geführte Krieg sämtlicher Großmächte des 20. Jahrhunderts und stellte den größten militärischen Konflikt in der Geschichte der Menschheit dar. Er bestand in Europa aus Blitzkriegen, Eroberungsfeldzügen gegen die deutschen Nachbarländer mit Eingliederung eroberter Gebiete, der Einsetzung von Marionettenregierungen, Flächenbombardements sowie im letzten Kriegsjahr dem wiederholten Einsatz von Atomwaffen in Japan (Hiroshima und Nagasaki).

Das im vierten Buchkapitel „Kriegsgefangenschaft – Zukunft ungewiss“ erwähnte Kriegsgefangenenlager Bellaria bei Rimini in Italien war im Mai 1945 für die kapitulierenden Soldaten der deutschen Wehrmacht durch die britische Armee und die US-Armee eingerichtet worden. 1947 wurde das Lager nach Entlassung der Kriegsgefangenen (POWs, „Prisoners of War“) wieder aufgelöst.

Die Nachkriegszeit in Deutschland, die thematisch im fünften Buchkapitel „Überlebensstrategien in der Nachkriegszeit“ behandelt wird, war sehr oft von Hunger und Mangel an Gütern aller Art gekennzeichnet. Sie stellte die Bevölkerung vor hohe Herausforderungen.

Das sechste Buchkapitel „Für das Können ist Handeln der beste Beweis“ widmet sich dem Thema Kunst, speziell der Malerei. Im Mittelpunkt steht die informelle Malerei einer Künstlerin aus dem 20. Jahrhundert, die sich in vielseitigen Ausdrucksformen widerspiegelt und das deutliche Ergebnis ausgedehnter Reflexionen ist. Denn das, was Menschen mit den Händen schaffen, ist ein Ausdruck geistiger Vorgänge. Der Philosoph Immanuel Kant hat es so formuliert: „Die Hand ist das äußere Gehirn des Menschen.“

Bemerkenswert ist, dass die ältesten Belege der Malerei in der Menschheitsgeschichte Höhlenmalereien aus der letzten Eiszeit und aus dem Jungpaläolithikum sind. Interessanterweise sind Malereien in drei spanischen Höhlen mit einem Alter von 65.000 Jahren BP auf Neanderthaler zurückzuführen. Kunstwerke von Menschen belegen eine intensive intellektuelle Auseinandersetzung von ihnen mit der Welt (nach Wikipedia: „Gesamtheit der bezogenen Objekte und als Ganzes der geteilten Beziehungen“). Sie sind ein Ausdruck eines reichen spirituellen Lebens.

Das siebte Buchkapitel „Solange man lernfähig bleibt“ setzt sich mit dem Alltagsleben heutiger Menschen auseinander – allerdings unter dem Gesichtspunkt einer humorvollen aber auch nachdenklichen Betrachtungsweise. In der Alltags-Realität lässt sich allerdings immer wieder beobachten, dass das Leben von Menschen in den modernen Gesellschaftsformen und in einer technisierten Umwelt vielfach extreme soziale Lebensformen zeigen: Allein sein („Single-Dasein“), anonymes Leben, oberflächliche soziale Kontakte, soziale Kontakte auf der Grundlage der telekommunikativen Technik, Patchwork-Familien. Die Dauer und Reihenfolge unterschiedlicher Tätigkeiten im Alltag werden oft vorgeschrieben. Bürokratische Hierarchiemuster verhindern vorteilhafte Adaptationen der Sozialsysteme gegenüber sich verändernden gesellschaftspolitischen Bedingungen. Viele Menschen fühlen sich durch die Anforderungen ihrer sozialen Umwelt gegenüber überfordert. Trotz allem wird nicht nur in der Gegenwart sondern auch in der Zukunft eine fundierte Bildung für die Menschen überlebensnotwendig sein. In Verbindung damit ist lebenslanges Lernen erforderlich. Aber man muss sich auch immer wieder bewusst machen, dass es die „Affennatur“ ist, die die Besonderheiten des Menschen ausmacht. Jürgen Lethmate bringt es folgendermaßen auf den Punkt: „Der Mensch ist körperlich, sozial-emotional und geistig nur als Produkt der Primatenevolution zu begreifen.“

 

Im achten Buchkapitel wird der Frage nachgegangen: „Wohin gehen wir?“ Der Mensch als „Homo technicus“ bzw. „Homo digitalicus“ neigt dazu, seinen kulturellen Fortschritt stets als technischen Fortschritt darzustellen. Jedoch: Ohne technische Ausrüstung hätten heutzutage viele Menschen Probleme, überhaupt zu überleben. Da der Mensch von seiner Stammesgeschichte her Jäger und Sammler ist und an ein Leben in überschaubaren individualisierten Gruppen angepasst ist, kommt er in den heutigen modernen Gesellschaftsformen mit seinem stammesgeschichtlichen Erbe nicht mehr ohne weiteres zurecht. Um zukünftigen gesellschaftspolitischen Entwicklungen besser begegnen zu können, ist ein Umdenken im Hinblick auf sozialpolitische Strategien erforderlich. Überlebensstrategien unserer frühzeitlichen Vorfahren könnten die Grundlagen für Überlebensstrategien im 21. Jahrhundert darstellen.


Die Großeltern Friedrich Otto und Emma, Elise Meyer mit ihren sechs Kindern in Plauen – Haselbrunn

„Nur wer seine Wurzeln kennt, kann wachsen.“

Anselm Grün (deutscher

Benediktinerpater und Betriebswirt)

1. Zurück zu den familiären Wurzeln

Die Vorfahren meines Großvaters väterlicher Linie kamen aus dem Niederland des Kurfürstentums Sachsen. Sie waren Bauern, Handwerker und Schäfer in den Dörfern um Leipzig und im 17. Jahrhundert im Mansfeldischen Kreis. Das Land ist flach und weitsichtig. Der Blick findet keinen Anhalt im Raum, den die Horizontale beherrscht. Im Dunst und Schatten der Ferne scheint die Erde in den Raum überzugehen. Der Blick hängt an den wenigen Pappeln und Kirchtürmen und unendlich fern an den Wolkenbänken über der Ebene.

Wasser fließt hier. Braun, trüb, langsam und schwer fließt es unter den hängenden Weiden hinweg zwischen fetten Wiesen von einem Dorf zum anderen. So sind auch die Menschen, die in das dunkle Wasser sehen und in die ziellose Ferne. Sie sehen dem trägen Wasser zu und lassen die ferne Welt dahinter vergehen. Ein langsamer Menschenschlag, konservativ und an der Scholle hängend.

Der älteste Vorfahre und Namensträger Meyer, der ermittelt werden konnte, ist „Meister Andreas Meyer, der Schäfer“, auch „Kesslerischer Schäfer“ genannt. Er ist um 1700 geboren, lebte in Ritteburg bei Artern an der Unstrut und erwarb 1731 in Ritteburg [1] Landbesitz und Grundstücke. Die Vernichtung der Kirchenbücher schließt weitere Nachforschungen aus. „Meister“ ist eine allgemeine Bezeichnung und nicht im Sinne des modernen Gewerberechts zu verstehen.

Die Schäferei hatte im 17. und 18. Jahrhundert eine andere Bedeutung als heutzutage oder auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Schon vor dem dreißigjährigen Krieg (1618 – 1648) stand die Schafwirtschaft in Deutschland in hoher Blüte. Sie war bedeutungsvoller als etwa die Pferde- und Rinderzucht. Infolgedessen genoss der Schäfer, weil er zumeist einen größeren Viehbestand hatte, ein höheres Ansehen als die übrigen Hirten. Sein Wissen um verborgene Heilkräfte stärkte sein Ansehen. Dennoch war der Beruf des Schäfers nicht „ehrbar“ im Sinne des mittelalterlichen Rechts.

In der Mitte des 19. Jahrhunderts war in Mitteldeutschland der Niedergang der Großschäfereien aus folgenden Gründen nicht mehr aufzuhalten: Die überkommenen Weiderechte wurden aufgehoben und durch die Einrichtung staatlicher Forsten, in denen nicht mehr geweidet werden durfte, abgelöst. Für die Feldwirtschaft wurde der künstliche Dünger eingeführt. Der Chemiker Justus von Liebig (1803 – 1873) hatte damals die Agrikulturchemie gegründet. Seine Befürwortung der Mineraldüngung ermöglichte die Verbesserung der menschlichen Ernährung. Weiterhin verfielen die Wollpreise durch den Verkauf von Baumwolle auf den Märkten.

Die Vorfahren meiner Großmutter väterlicher Linie lebten im mittleren Teil Obersachsens und im Erzgebirge. In kleinen Häuschen wohnten sie, einsam und verstreut an den Berglehnen. Sie führten ein ärmliches, kärgliches Leben in schwerer Arbeit und im steten Kampf mit der Natur. Davon wurden sie hart und fest. Sie hatten es in ihrem Leben schwer, aber sie führten ihre Arbeit gern aus. Eckige Gestalten waren darunter. Auch in dieser Gegend ist Wasser. Es sprudelt frisch ins Tal, springt von Stein zu Stein, murmelt und erzählt. Es erzählt lange Geschichten. Der Himmel da oben über den Waldbergen ist klar. Der Blick geht weit, aber er hat ein Ziel. Man schaut über Täler und Höhen und über dunkle Wälder.

Die Vorfahren waren durch viele Generationen hinweg Blech- und Eisenwarenhändler und Schmiede. Mehrere Generationen saßen in Schönheide am Kuhberg oder, wie meine Urgroßeltern sagten, „droben in der Scheeheid“. Ihre Heimarbeit trugen sie weit fort ins Niederland. Dann sehnten sie sich im dunstigen Flachland wohl zurück in die heimatlichen Höhen. Einige brachten Frauen aus dem Niederland mit: Töchter der Schmiede, bei denen sie einkehrten. Einige waren Papiermüller im Schwarzbachtal bei Lößnitz, die lange Jahre ihr Papier zu dem bekannten Musikverlag Breitkopf und Härtel [2] in Leipzig lieferten.

Die Familien gingen nach Eibenstock bzw. nach Elterlein im mittleren Erzgebirge, aber auch in das Hammerwerk Thannenbergsthal im oberen Vogtland. Tapfer und ehrlich erkämpften sie ihr einfaches Leben, arbeitsam und anspruchslos in einer kargen Umwelt. Einfache Menschen … so war auch meine Großmutter.

Zwei Eigenschaften aus den verwandtschaftlichen Linien wurden meinem Vater mitgegeben: Die Liebe zur heimatlichen Scholle und die Bindung an Grund und Boden. Erst die Wurzellosigkeit des selbst gewählten Berufs eines Juristen mit dem Leben in der erdrückenden Enge der Stadt haben meinem Vater gezeigt, wie sehr sein eigentliches Wesen und Fühlen an seiner vogtländischen Heimat hing. Das Schicksal zwang ihn aber auf einen anderen Weg.

Die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg

Das Leben in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg lief für die Menschen in Deutschland in ruhigen Bahnen. Es war, so wie es mein Vater aus seiner Sicht sah, ein Leben ohne große Probleme. Sein Elternhaus und die Umgebung hatten den Lebenszuschnitt des mittelständischen Bürgers. Man lebte einfach, ohne Luxus und großen Aufwand, aber in der Sicherheit einer festen Lebensgrundlage. Mein Großvater wurde in seiner Umgebung für wohlhabend gehalten, was aus Sicht von Außenstehenden sicherlich auf seinen Grundbesitz zurückzuführen war. Und doch bestand nie das Gefühl, dass nicht immer gespart werden müsste. Der Zwang zur „Bescheidenheit“ in der Lebensführung wurde meinem Vater und seinen Geschwistern von den Eltern ständig vorgehalten, zum einen unter dem Hinweis auf die eigene erfahrene Erziehung zur Bescheidenheit, zum anderen war es die Belehrung, dass es anderen Mitmenschen nicht so gut ginge. Es war aber für die Kinder nicht immer einzusehen. Mancher Mitschüler meines Vaters fuhr mit der Straßenbahn zur Schule, mein Vater hingegen musste laufen. Von allen Geschwistern hatte nur seine Schwester Annemarie Mathilde einmal für einige Zeit eine Monatskarte für die Straßenbahn. Ein Fahrrad, der sehnliche Wunsch meines Vaters, wurde ihm oft versprochen. Bekommen hat er es nie. Als im Gymnasium mancher Mitschüler als Sohn eines vermögenden Fabrikanten oder eines höheren Beamten einen besseren Lebensstil erkennen ließ, wuchs in meinem Vater das Gefühl, einen besseren Lebensstandard nur durch eigene Leistung erreichen zu können. Dabei hatte sein Vater 1913 bei der Erhebung des Wehrbeitrages ein Vermögen von 250 000 Mark versteuert.

Sonntags gab es einen Braten, in der Woche ein- bis zweimal Fleisch. Das Abendbrot war einfach. Reste vom Mittagessen wurden „aufgewärmt“ oder Wurst und Brot gegessen. Mein Vater hat nie erlebt, dass auf das Brot außer der Butter auch noch etwas Marmelade aufgestrichen wurde. Kuchen für den Sonntag wurde zu Hause gebacken. Meistens gab es den überlieferten „Hefenkloß“, je nach Jahreszeit wurden aber auch andere, flache Kuchen gebacken. In den Zeiten der Entbehrlichkeit steckten übrigens die hölzernen Kuchendeckel zum Schutz gegen das nächtliche Herausfallen in den Kinderbetten zwischen Bettgestell und Matratze.

Wein für die Eltern hat mein Vater auf dem Mittagstisch nur einige Male zum Weihnachtsbraten erlebt. Bier wurde zuweilen im Krug aus einer der Wirtschaften in der näheren Umgebung geholt. Wenn mein Vater losgeschickt wurde, um Zigarren zu holen, dann waren es immer sechs Stück zu acht Pfennigen. Wurde auf einem Spaziergang eingekehrt, z.B. in die Pfaffenmühle, dann gab es höchstens ein Würstchen und eine Brauselimonade, die, je nach Auswahl, grellgrün, rot oder gelb war. Im Herbst wurden Äpfel und Birnen eingelagert und Preiselbeeren sowie Heidelbeeren eingekocht. Die Beerenhändler zogen mit kleinen Wagen durch die Straßen und man hörte von weitem ihr Rufen „Heedelbeer, Heedelbeer!“ Kirschen und Pflaumen wurden von vorbeifahrenden Händlern im Korb erstanden. Sauerkraut und Gurken legte die Hausfrau selbst ein. Südfrüchte wurden selten gekauft. Die erste Banane hat mein Vater um 1912 gegessen. Apfelsinen, die sehr sauer waren, wurden vor dem Genuss in Zucker gelegt. Anschließend wurde eine Apfelsine für die ganze Familie aufgeteilt. Spargel hat mein Vater erst als Student in Leipzig um 1920 das erste Mal mit Bewusstsein gegessen. Tomaten, die sein Onkel Ernst Philipp Kießig (1868 – 1929) in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts selbst angebaut hatte, wurden als etwas Besonderes betrachtet und „Paradiesäpfel“ genannt. Sein Onkel hatte die Tomate während seines Aufenthaltes in USA kennen gelernt. Mein Großvater hat nach Beginn des Ersten Weltkrieges begonnen, Tomaten in seinem Garten anzubauen. Pfirsiche waren meinem Vater in seiner Jugend ganz unbekannt. Der Grund: Der Pfirsichbaum gedieh nicht in dem rauen Klima des Vogtlandes. Den Nussbaum hat er erst als Student kennen gelernt. Die Massenanfuhr von Erdbeeren, Spargel und Pfirsich aus den Obstanbaugebieten der Elbe in das Vogtland und Erzgebirge wurde erst möglich, als das Lastauto den Verkehr beherrschte. Kartoffeln wurden für das ganze Wirtschaftsjahr eingekellert. Die Wäsche wurde im Garten hinter dem Haus auf dem Rasen gebleicht. In der Waschküche im Kellerbereich befanden sich der beheizbare Waschkessel, das Waschbrett und ein Wäschewringer. 1911 legten sich meine Großeltern eine elektrische Waschmaschine zu. Sie wurde, gegen Entgelt, nicht nur von den Hausbewohnern, sondern sogar von Nachbarn benutzt.

Die Arbeiter in allen Betrieben arbeiteten von 6 Uhr bis 18 Uhr mit 3 Pausen täglich 10 Stunden. Am Sonnabend wurde bis 17 Uhr gearbeitet. Die Schule begann vom dritten Schuljahr an regelmäßig um 7 Uhr während des Sommers und um 8 Uhr im Winter. In den Oberklassen hatten die Schüler zweimal wöchentlich nachmittags Unterricht.

In Haselbrunn gab es auch einen Kramladen, der „Colonialwarenladen“ genannt wurde. Er führte alles in seinem Angebot, vom Petroleum über Holzpantoffel, Pferdepeitschen und Schnupftabak bis zum Bückling, der Leberwurst, Brot, Mehl und Bleichsoda. Wenn die Kutscher Frühstückspause machten und ihr Bier tranken, war der Kramladen auch gleichzeitig Frühstücksstube. Das Duftgemisch in einem solchen Kramladen war bemerkenswert. Oft genug schmeckte der Harzer Käse nach Petroleum. Viele Händler kamen aber auch noch ins Haus. Haushaltsgeräte aus Blech und Holz wurden in Wagen umhergefahren oder in die Häuser getragen. Der „Lettermann“ mit Leitern, Wannen und Besen war ein Ereignis auf der stillen Straße. Seine Ankunft verriet „ander Wetter“. Kroaten mit Blech und Mausefallen, Italiener mit Gipsfiguren, andere Händler mit Stoffen oder englischem Heftpflaster waren ständige Gäste. Das Schild an der Haustür „Betteln und Hausieren verboten“ hatte eine echte Bedeutung. Auch arbeitsscheue Bettler, ja sogar Zigeuner [3], zogen durch das Land. Scherenschleifer und Kesselflicker verrichteten ihre Arbeit im Hof oder auf der Straße. Man konnte darauf warten. Manches gesprungene Tongeschirr wurde von einem Kesselflicker mit einem Drahtnetz versehen. Mancher Bettler bekam ein Essen. Andere Bettler ließen das Brot vor der Tür liegen.

 

Im Herbst wurden Schafherden und Gänseherden aus Pommern und Schlesien durch Haselbrunn getrieben. Die Tiere wurden unterwegs zum Mästen für den Winter abgesetzt. Gemächlich zogen sie mit Lärm und viel Staub ihres Weges. Der Fußweg vor dem Haus auf der Haselbrunner Straße musste zweimal wöchentlich gekehrt werden. Im Winter musste bis 8 Uhr vor dem Haus „Bahn gemacht“ werden, das heißt, bis dahin musste der Gehweg schneefrei sein. Das war schon bald die Aufgabe für meinen Vater.

Wie stand es um die Preise in jener fernen Zeit? Zwei Semmeln kosteten 5 Pfennige, das Dreierbrot einen Dreier (Drei-Pfennig-Stück). Zwölf Stahlfedern kosteten einen Groschen [4], ein Schulheft 5 Pfennige. Das Schulgeld für das Gymnasium machte mit 150 Mark schon eine Menge Geld aus. Ein Glas Bier kostete 12 Pfennige, die billigste Zigarre 4 Pfennige und 12 der billigsten Zigaretten 10 Pfennige. Eine damals gängige Zigarettenmarke war „Luccas“, die ein langes Papphohlmundstück trug. Der Straßenbahnfahrpreis lag bei 10 oder 15 Pfennigen. Der Schneiderlohn für einen Anzug betrug 70 Mark. Die Arbeiter in der Ziegelei gingen mit einem Wochenlohn von 15 Mark nach Hause. Die direkten Steuern waren minimal.