Es ist später, als du denkst

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Rolf Arnold

Es ist später, als du denkst

Perspektiven für die Restbiografie

ISBN Print: 978-3-0355-0742-3

ISBN E-Book: 978-3-0355-0743-0

1. Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

© 2017 hep verlag ag, Bern

www.hep-verlag.com

»Ich lebe mein Leben

in wachsenden Ringen,

die sich über die Dinge ziehn,

ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,

aber versuchen will ich ihn.«

Rainer Maria Rilke

»I´m not lost,

I am exploring.«

Jana Stanfield

Inhalt

Vorwort

1 In der Nachfolge des Sisyphos

2 Die galaktische Einsamkeit

3 Vom Schwinden der Optionen

4 Wir sind die Bäume, nicht der Wald

5 Im Meinungsspie(ge)l – Anfragen bei Hegel, Bateson und Fromm

6 Sprache als Geländer auf dem Weg – wohin? Begegnungen mit Derrida, Foucault, Varela u. a.

7 Der flüchtige Mensch Oder: Wer könn(t)en wir (noch) werden und warum?

Schlussbetrachtungen

Literatur

Der Autor

Vorwort

Vorwort

Die »Restbiografie« umfasst die Zeit, die uns noch bleibt. Auch diese schreiben wir – als Entwurf, nicht als Schilderung. Dabei entstehen die Kapitel, die – wie in einem Roman – nach Auflösung drängen. In ihnen legen wir uns fest, ohne die grundlegenden Geschichten, Bewegungen und Entscheidungen beständig umschreiben, umdeuten oder am Ende noch einmal rückblickend retuschieren zu können. Der Sinn dieser Kapitel wird sich uns nicht erst im Rückblick erschließen, er kann bloß im Vorgriff entschieden und Schritt für Schritt gestaltet werden. In diesen geben wir mehr von uns preis als in den Geschichten, die wir zuvor über uns erzählten – drücken diese doch meist und oft unverhohlen ein Marketinganliegen aus. »Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält«, lässt Max Frisch in seinem Roman »Mein Name sei Gantenbein« die Hauptfigur sagen (Frisch 1976, S. 45). Er wandelt dabei einen frühen Hinweis des dänischen Philosophen Kierkegaard ab, der wusste, dass jedes Selbst »eine Geschichte hat, eine Geschichte, in welcher er sich zu der Identität mit sich selbst bekennt« (Kierkegaard 1957, S. 229). Zu welcher Identität wollen und können wir uns noch bekennen? Dies ist die restbiografische Frage, um die es in dem vorliegenden Essay geht.

Um seine eigene Restbiografie zu entwerfen, ist gründliche Suche und tiefes Denken wichtig, wenn auch nicht tröstend. Wir können unsere Restbiografie bloß ungetröstet gestalten, denn es bedarf der Vorbereitung auf Abschiede. Diese verlangen aber nach Tröstendem – auch wenn dieses nicht zu haben ist. Zumindest bleibt es so lange unzugänglich, wie wir uns nicht eilends in die seichteren Gewässer von Ontologien flüchten, die uns den Sinn und Zweck unseres Seins zu erklären vorgeben. Diese Gewässer sind verseucht. In ihnen lauert die Gefahr, Glauben, Meinung oder auch Esoterik an die Stelle eines nüchternen Blicks treten zu lassen und dadurch die restbiografische Reflexion zur bloßen Fortsetzung der betäubenden Trance eines Und-so-weiter verkommen zu lassen. In dieser Trance bleibt alles sicher unsicher, weil ausgeblendet. Es muss auch weniger durchspürt, gedacht und entschieden werden, und die restlichen Kapitel klingen wie die ersten – eine Telenovela, die von Geschichte zu Geschichte gleitet, ohne letzte Fragen wirklich zu berühren. Sie werden nicht im Lichte der Unsicherheit gedacht, gedeutet und gestaltet, sondern bleiben ausgeblendet.

Der vorliegende Essay setzt sich mit dem biografischen Umgang mit drohenden Risiken und Abschieden sowie den noch möglichen Beginnen unserer persönlichen Zukunft auseinander. Er klärt nichts, aber kann zu einer bewussteren Positionierung, d. h. einer Haltung anregen, die uns hilft, auch die letzten Kapitel unserer Biografie bewusster zu inszenieren – durch Entscheidung, Fokussierung, Übung und Lösung. Am Ende wissen wir nicht unbedingt mehr über die letzten Fragen, aber wir haben ihnen nachgespürt und uns Möglichkeiten eines selbstverantwortlichen Umgangs mit diesen Fragen erarbeiten können. Damit stärken wir unsere Autonomie und öffnen uns gegenüber den Optionen, die unser Leben noch bereithält, während wir auch in Phasen der drohenden Einschränkungen einzutauchen beginnen.

Rolf Arnold

Kaiserslautern, im Februar 2017

1 In der Nachfolge des Sisyphos


Die Restbiografie ist die Zeit, die noch vor uns liegt. Diese ist ungewiss, doch wir durchschreiten sie mit wachsenden »Gewissheiten«, die uns emotional durchdringen und die auch unabweisbar sind. So meinen wir mit den Jahren zu wissen,

•worauf es (uns) im Leben ankommt,

•wer wir in unserer familiären und beruflichen Lebenswelt sind oder zu sein meinen und

•dass wir Teil und Ausdruck einer kulturellen Eingebundenheit sind, die so ist, wie sie ist, aber auch anders sein könnte.

Unabweisbar drängen sich uns im Lebensverlauf aber auch die Gewissheiten auf,

•dass unsere Kräfte nachlassen,

•dass wir bloß noch einen überschaubaren Zeitraum lang so weiter machen können, wie bisher,

•dass wir am Leben unserer Kinder und Kindeskinder nur noch eine überschaubare Zeit teilhaben werden und

•dass wir nicht mehr wirklich neu beginnen können, da wir uns stets selbst in das Neue mitnehmen – unsere Erfahrungen, Erinnerungen und Narben.

Aus diesen Gewissheiten ist der Mantel unserer Identität gewoben, den wir immer weniger ablegen können, je länger wir ihn tragen, und den wir dereinst mit uns nehmen werden: an jenem Tag, auf den hin alles fort rinnt. Wir können sie beobachten, diese Sanduhr, und doch nicht begreifen, was mit uns geschieht, während unsere Lebenszeit vergeht. Nur das Vergehen selbst können wir beobachten – in nachdenklichen Momenten, in denen wir nicht in der Alltagshektik versinken. Überhaupt: Die Alltagshektik, die uns über weite Phasen mit der Droge eines unreflektierten Und-so-weiter betäubt. Diese lässt uns unserem eigenen Ende zu torkeln, oft ohne dass wir die Haltung in uns wirklich kultivieren konnten, die ein reifer Umgang mit dem Absurden des eigenen Lebens von uns fordert. Doch worin unterscheidet sich eine solche gereifte Haltung von dem bloßen Und-so-weiter? Ertragen wir mit ihr die Fülle der ungereimten und unlösbaren Fragen – das Absurde unserer Existenz – leichter?

Das Absurde ist die Unerklärbarkeit des Menschseins. Als Begriff hat es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die philosophische Suche nach dem Absoluten im Wesentlichen abgelöst. Die Philosophie ist seitdem weniger transzendent – d. h. um die Klärung der »letzten Fragen« bemüht – unterwegs, sondern widmet sich verstärkt der Frage nach dem Aushalten und der Gestaltung des eigenen Lebens und Überlebens auf dem »Raumschiff Erde« (Fuller 1984). Das Absurde steht zwar immer noch für die Unfassbarkeit von Unvernunft, Leid und Barbarei, doch zerbröseln die Hoffnungen, die wir an das Absolute richteten. Von diesen Hoffnungen geht gleichwohl auch weiterhin eine verführerische Kraft aus. Nur schwer können wir von ihnen lassen, da etwas in uns nicht aufhören kann, davon zu träumen, dass das Dasein einen Sinn haben möge und sich unsere Bemühungen und unsere Wohlanständigkeiten dereinst auszahlen würden. Hierauf bezieht sich bereits eine frühe Argumentation, die in der Überlieferung dem griechischen Philosophen Epikur (341–270 v. Chr.) zugeordnet wurde:

»Entweder will Gott die Übel beseitigen und kann es nicht, oder er kann es und will es nicht, oder er kann es und will es. Wenn er nun will und nicht kann, so ist er schwach, was auf Gott nicht zutrifft. Wenn er kann und nicht will, dann ist er missgünstig, was Gott ebenfalls fremd ist. Wenn er nicht will und nicht kann, dann ist er sowohl missgünstig wie auch schwach und dann auch nicht Gott. Wenn er aber will und kann, was allein Gott ziemt, woher kommen dann die Übel und warum nimmt er sie nicht weg?« (zit. nach Hober 2001, S. 14)

Wie können wir angesichts solcher Ungeklärtheit leben, überleben und gar zusammenleben? Wie können wir den Glauben an das Gute und Vernünftige bewahren, wo wir doch ganz offensichtlich nicht aus unserer Haut heraus können. Wir leben in den überlieferten Gewissheiten, oft ohne diese wirklich zu durchdringen und ohne Bewusstsein darüber, welchen historischen Kämpfen und geistigen Anstrengungen sich diese verdanken. Gleichzeitig spüren wir ständig – wie uns bereits Albert Camus (1913–1960) eindrücklich in Erinnerung rief –, »dass die Geschichte nicht alles ist« (Camus 2009, S. 36). Dies gilt auch für unsere persönliche Geschichte. Sie kann uns entgleiten, was »nicht daran liegt, dass ich sie nicht mache, sondern dass der andere sie auch macht!« (Sartre 1960, S. 123).

 

Welche Haltung entspricht einem gereiften Umgang mit dieser Unvollständigkeit und Unbegreifbarkeit sowie diesem Ungeborgensein des menschlichen Seins? Müssen wir diese Haltung wirklich entwickeln? Stimmt es (für uns), dass es gerade in unserem multioptionalen Leben um »Ankunft, nicht Steigerung« (Schulze 2016, S. 10) gehen sollte, d. h. um »das gute, vernünftige und freie Leben, nicht (um) die Erweiterung von dessen Möglichkeitsraum als Selbstzweck« (ebd.). Sind die Abschiede eines solchermaßen gereiften Lebens weniger endgültig als die eines um beständige Steigerung bemühten? Wem nützt diese Haltung, wenn sie nicht wirklich vor dem Tode zu schützen vermag? Fragen über Fragen, auf die es keine generalisierbaren Antworten gibt. Die einzigen Profiteure einer gereiften Haltung gegenüber dem Absurden sind wir selbst, indem wir lernen können, das Leben nicht nur auszuhalten, sondern es zu gestalten, um uns letztlich auch verabschieden zu können: Schritt für Schritt – fröhlich und beherzt ausschreitend. Dadurch können wir uns mit dem Absurden arrangieren, es in unser Leben hineinnehmen – nicht als fulminante Denkfigur, sondern als leise Geste. Die restbiografische Reflexion ist ständiger Anlass für das Einüben dieser Geste. Albert Camus weiß:

»Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.« (Camus 2004, S. 160)

Mein nachdenklicher Freund hatte über viele Jahre folgende Strategie entwickelt, um seine Restbiografie bewusster zu durchleben: In seinem Tagebuch hatte er dem Datum seiner Einträge eine Art Countdown hinzugefügt. Von einer geschätzten Lebenserwartung von 75 Jahren ausgehend, fügte er stets die Anzahl der bereits gelebten Tage und die der ihm bis zu seinem 75. Geburtstag noch verbleibenden Jahre hinzu. So lebte er stets im Bewusstsein der statistisch gesehen noch »übrigen« Tage. Erst der Hinweis darauf, dass er damit auch die – in diesem Fall tödliche – Wirkung einer »selbsterfüllenden Prophezeiung« (vgl. Watzlawick 2009) auslösen könne, brachte ihn zum Nachdenken, und er kam von dieser Praxis wieder ab.

Der Mensch kennt sein Schicksal – zumindest im Groben. Und doch weicht er diesem meist aus: Es ist nicht populär, mit dem eigenen Ende zu rechnen. Und es ist auch nicht aufbauend. Deshalb lassen viele den unangenehmen Gedanken, dass alles dereinst und vielleicht gar bald zu Ende sein kann, nicht dauerhaft in das Haus ihrer Lebensgestaltung einziehen. Und doch mehren sich auch in ihrer Lebenswelt die Abschiede. Sie können über diese nicht hinwegsehen. Es trifft nicht bloß die anderen. In den Sterbenden sehen wir vielmehr unsere eigene Zukunft. »Morituri te salutant!«, begrüßten die römischen Gladiatoren Cäsar, bevor sie in den sicheren Tod zogen. »Die sterben werden, grüßen dich!« – ein Weckruf an uns selbst, den wir uns zu eigen machen sollten. »Als jemand der sterben wird, muss ich feststellen …« oder »als jemand der sterben wird, bin ich ganz anderer Meinung …« oder schließlich »als jemand der sterben wird, lasse ich mich grundsätzlich nicht provozieren und zerschlage auch nicht das Porzellan unserer Beziehung …« – eine Art, sich zu artikulieren, die nicht zu jedem Anlass Stellung nimmt, aber auch in anderer Weise Konflikte unterläuft oder diesen ausweicht, auf alle Fälle sehr zurückhaltend – aber in dieser Zurückhaltung sehr bestimmt – in Eskalationen agiert. Wer solche Formulierungen zumindest in seinem inneren Monolog als Mantra pflegt, der steht nicht mehr automatisch für alle Dialoge und Debatten zur Verfügung. Er vermag sich zu entziehen, indem er die Anliegen, die an ihn herangetragen werden, zunächst »siebt«, bevor er sich ihnen widmet. Ähnliches berichtet die folgende Geschichte:

Die drei Siebe des Sokrates

Eines Tages kam ein Bekannter zum griechischen Philosophen Sokrates gelaufen.

»Höre, Sokrates, ich muss dir berichten, wie dein Freund …«

»Halt ein«, unterbrach ihn der Philosoph.

»Hast du das, was du mir sagen willst, durch drei Siebe gesiebt?«

»Drei Siebe? Welche?«, fragte der andere verwundert.

»Ja! Drei Siebe! Das erste ist das Sieb der Wahrheit. Hast du das, was du mir berichten willst, geprüft, ob es auch wahr ist?«

»Nein, ich hörte es erzählen, und …«

»Nun, so hast du sicher mit dem zweiten Sieb, dem Sieb der Güte, geprüft. Ist das, was du mir erzählen willst – wenn es schon nicht wahr ist –, wenigstens gut?«

Der andere zögerte. »Nein, das ist es eigentlich nicht. Im Gegenteil …«

»Nun«, unterbrach ihn Sokrates. »So wollen wir noch das dritte Sieb nehmen und uns fragen, ob es notwendig ist, mir das zu erzählen, was dich so zu erregen scheint«.

»Notwendig gerade nicht …«

»Also«, lächelte der Weise, »wenn das, was du mir eben sagen wolltest, weder wahr noch gut, noch notwendig ist, so lass es begraben sein und belaste weder dich noch mich damit.« [1]

Diese drei Siebe erleichtern die eigene Fokussierung: Wenn es uns gelingt, uns nur den Themen und Anliegen zu widmen, die übrig bleiben und von Gewicht sind, kann es uns gelingen, der restbiografischen Perspektive im eigenen Denken, Fühlen und Handeln zum Ausdruck zu verhelfen.

Spätestens beim Tod der Eltern rückt dem Menschen diese Perspektive unabweisbar auf den Leib: »Wo sie hingehen, wirst auch du dereinst hingehen!« – so die in uns klingende Gewissheit beim Blick in ihr Grab. Zahlreiche Denker haben diese grundlegende Ernüchterung zum Anlass genommen, über die Vergeblichkeit aller menschlichen Bemühungen nachzudenken. Anderen, wie beispielsweise den Existenzialisten, war genau diese Perspektive Grund genug, dem Tod ein trotziges »Dennoch« entgegenzuschleudern. So etwa Albert Camus in seinem Bild des Sisyphos, der fröhlich, obgleich vergeblich, zu leben weiß. Er lässt dem Lamento keinen Raum. Und er verliert sich auch nicht in vermeintlich klärenden Sprachspielen, die dem Absurden einen vernünftigen, vertretbaren und gar tröstenden – oft aber bloß überredenden – Klang verleihen. Es ist ein Lebensgefühl, das Camus beschreibt, keine klärende Denkfigur. Er weiß, dass der Sinn des Lebens sich dem Denken letztlich nicht zu erschließen vermag. Das Argument stiftet keinen Sinn, es kann uns lediglich helfen, uns Sprachregelungen zum Umgang mit dem Absurden des Lebens an die Hand zu geben: Denkhilfen und Redewendungen, die uns auf dem schmalen Weg zwischen dem Zynismus auf der einen Seite und einem Dogmatismus auf der anderen Seite heiter und entschlossen vorwärts schreiten lassen.

Für Astrid Braun vom Stuttgarter Schriftstellerhaus ist Camus’ Rede von der »zärtlichen Gleichgültigkeit der Welt« das »schönste Oxymoron in der Literatur«:

»Wir dürfen von der Welt, die uns umgibt, keine Anteilnahme erwarten, auch nicht von Gott, Engeln oder Teufeln. Die Welt ist einfach nur da. Aber wir Menschen sind in der Lage, sie zu fühlen und zu beschreiben. Wir können Zärtlichkeit und Nicht-Anteilnahme gleichzeitig spüren, es blitzt Geborgenheit auf.« (Braun 2013)

Aber Vorsicht mit der restbiografischen Perspektive! Eine solche vermag nur einzunehmen, wer schon auf eine Biografie zurückblickt und bereits einen Identitätsmantel trägt. Er kann diesen Mantel öffnen, aber nur schwer ablegen. Die Restbiografie markiert zugleich den kalkulatorischen Zeitrahmen, der uns bleibt, um uns abzurunden und zu einer gelassenen Positionierung gegenüber den Bewegungen unseres Werdens und Vergehens zu gelangen. Sicherlich: Es hat wenig Überzeugungskraft, wenn man – bereits im achten Lebensjahrzehnt stehend – weiter bloß nach vorne stürmt, um einer Inszenierung die nächste folgen zu lassen. Doch ist dieser Sinn irgendwie substanzieller, wenn man erst dreißig oder vierzig Jahre zählt? Dies ist das Vanitas-Motiv der Philosophie, d. h. der letztlich ironische Blick auf die Eitelkeit des Menschlichen: Alles ist vergeblich, weshalb das menschliche Selbstbewusstsein bzw. der »absurde Lebensstolz« (Lüthe 2012) schlechte Karten hat, wie dies bereits Andreas Gryphius im Jahre 1643 in einem bekannten Sonett zum Ausdruck brachte:

Es ist alles eitel

Du siehst, wohin du siehst, nur Eitelkeit auf Erden.

Was dieser heute baut, reißt jener morgen ein:

Wo jetzt noch Städte stehn, wird eine Wiese sein,

auf der ein Schäferskind wird spielen mit den Herden.

Was jetzt noch prächtig blüht, soll bald zertreten werden.

Was jetzt so pocht und trotzt, ist morgen Asch’ und Bein,

Nichts ist, was ewig sei, kein Erz, kein Marmorstein.

Jetzt lacht das Glück uns an, bald donnern die Beschwerden.

Der hohen Taten Ruhm muss wie ein Traum vergehn.

Soll denn das Spiel, der leichte Mensch, bestehn?

Ach! Was ist alles dies, was wir für köstlich achten,

Als schlechte Nichtigkeit, als Schatten, Staub und Wind;

Als eine Wiesenblum’, die man nicht wieder find’t.

Noch will, was ewig ist, kein einzig Mensch betrachten! (nach: Gryphius 1963, S. 33 f.)[2]

Dieses Buch soll als Orientierungsstütze dazu dienen, die eigene Restbiografie substanzvoller und als Reifungsprozess gestalten zu lernen. Es bemüht sich dabei um die Beschreibung der noch verbleibenden – möglichen – Entwicklungsaufgaben des Menschen, deren Bewältigung ebenso zur Abrundung des Lebens und zur Fortschreibung der eigenen Identität zählt, wie dessen Aufbruchsaufgaben, die den Menschen nach vorne, in die Erfindung, Entscheidung, Konstruktion und Gestaltung unserer Art zu leben, führten. Dabei wird ein Terrain beschritten, das in den letzten Jahrtausenden von den gründlichsten Denkern durchstreift wurde – mit viel auslotender Tiefe, aber ohne befriedigende Klärung. So bleibt letztlich ungeklärt, welchen Wert wir den verbleibenden Lebensjahren zumessen können, wenn auch die Vorstellung der eigenen Unsterblichkeit sich nicht bloß als undenkbar, sondern auch als »langweilig« und »perspektivlos« erweist. Unsterblich könnten wir uns endlos neu erfinden oder ewig wiederholen, wobei uns aber gleichzeitig alle Festlegungen und Unwiederbringlichkeiten, die uns auszumachen scheinen, vollends entgleiten würden. Man kann sich nicht definieren, d. h. abgrenzen, wenn alles unbegrenzt möglich bleibt. Muss nicht das Nachdenken über die Restbiografie und ihre Möglichkeiten letztlich davon ausgehen, dass »die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit im Laufe eines Lebens nur um den Preis des Todes zu haben ist« (Kreuels 2015, S. 36)?

Die hier vorgelegte restbiografische Suchbewegung möchte nichts beweisen oder bewerten. Sie fügt den Überlegungen der Philosophie keine weitere hinzu, sondern nimmt die gegenwärtige und zukünftige Lebenspraxis von einem anderen archimedischen Punkt aus in den Blick: dem Punkt des Verrinnens der eigenen Lebenszeit. Was dabei entsteht ist ein »Erfahrungsbuch« im Sinne Michel Foucaults (1926–1984), der alle seine eigenen Bücher als solche bezeichnete. Foucault schreibt:

»Ich denke niemals völlig das Gleiche, weil meine Bücher für mich Erfahrungen sind, im vollsten Sinne, den man diesem Ausdruck beilegen kann. Eine Erfahrung ist etwas, aus dem man verändert hervorgeht. Wenn ich ein Buch schreiben sollte, um das mitzuteilen, was ich schon gedacht habe, hätte ich niemals die Courage, es in Angriff zu nehmen. Ich schreibe nur, weil ich noch nicht genau weiß, was ich von dem halten soll, was mich so beschäftigt.« (Foucault 1996, S. 24)

Die in diesem Buch dargelegten Gedanken sind flüchtig und nicht endgültig. Die in ihm aufgeworfenen Fragen suchen keine Antwort. Sie bemühen sich um eine Präzisierung und die Schärfung des eigenen Fokus beim Fortschreiben der eigenen Restbiografie.

 

Die etymologischen Wurzeln des Wortes »Biografie« erinnern in diesem Zusammenhang daran, dass Menschen ihr Leben wie eine Geschichte durchleben, die sich wie von selbst (fort)schreibt, die wir aber auch selbst aufschreiben oder neuschreiben können. Insbesondere das Neu- oder Umschreiben erfreut sich in den modernen Gesellschaften einer zunehmenden Beliebtheit. Bekannt ist der bereits zitierte Ausspruch aus Max Frischs (1911–1991) »Mein Name sei Gantenbein«: »Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält.« (Frisch 1976, S. 49) Der Erzähler weiß: »Jede Geschichte ist eine Erfindung, (…) jedes Ich, das sich ausspricht, ist eine Rolle.« (ebd., S. 48) Die Fokussierung der Restbiografie birgt somit die Frage in sich, wie wir unsere Geschichte neu- oder umschreiben wollen – nicht wortreich oder gar lautstark mit einem marketingorientierten Hintergedanken (etwa zur Außendarstellung bei Facebook), sondern als stilles Statement und in dem Bewusstsein, dass wir dabei auch mehr und mehr Themen berühren werden, für die gilt: »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.« (Wittgenstein 1963, S. 115) Es gibt letztlich keinen Trost gegenüber der Absurdität des eigenen Verrinnens, wohl aber Abschiede (von lieb gewonnenen Gedankenlosigkeiten), Vergewisserungen (über das, was uns de facto noch möglich ist) und leise Neuorientierungen (zu der Frage, welchen Herausentwicklungen wir unser Leben noch widmen wollen) – ganz im Sinne der bekannten Gedichtzeile von Hermann Hesse: »Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde / Uns neuen Räumen jung entgegensenden.« (Hesse 1982, S. 187)

In seiner Rede, die Max Frisch anlässlich des Todes seines Freundes Peter Noll am 18. November 1982 im Großmünster in Zürich gehalten hat, beschreibt er eine letzte Situation mit dem sterbenden Freund mit den Worten:

»(A)us seinen sehr hellen Augen trifft uns der Blick eines Befreiten, der zu wissen wagt, was er weiß, und uns ein Gleiches zutraut.« (Frisch 1987, S. 284)

Es geht in dem vorliegenden Essay um diesen »Blick eines Befreiten«, den zu fördern Aufgabe und Ziel einer abschiedlichen Bildung ist (Arnold 2006) – auch lange bevor der Abschied selbst ansteht. Dieser Blick vermag der Restbiografie nicht bloß andere Relevanzstrukturen zu stiften, er ist auch geeignet, intensiver auf die Frage zu fokussieren, was Menschsein eigentlich für uns bedeutet oder bedeuten kann. Dabei geraten liebgewonnene Gewissheiten ins Wanken, vertraute Und-so-weiter-Konzepte werden verabschiedet. Man verdeutlicht sich, an welcher Stelle des Berges des Sisyphos man selbst steht, zum wievielten Male, was einem da immer wieder entgleitet, und verabschiedet sich von diesen unreflektierten, aber vertrauten Stoffen. Wer abschiedlich zu leben weiß, stirbt viele Tode!

Abschiedliche Bildung vermag auch neue Formen des eigenen Lebens und Zusammenlebens zu stärken. Statt Aufbruch, Aktion und Verstehen könnten Vertiefung, Reflexion und Spüren zu Orientierungsmarken dieser restbiografischen Neubestimmung werden. Diese »findet« nicht weiter die Erklärungen, denen sie schon stets zugeneigt war, sondern verharrt bewusster in einem »Suchen«, welches ihr dazu verhilft, auch in dem bislang Fremden eigene – neue – Möglichkeiten des Menschseins zu entdecken – eines Menschseins, das aus der Fassung gerät, um sich neu zu (er)fassen, wobei es sich »des Ortes, der den Ausgangspunkt unserer Aufmerksamkeit bildet« (Scharmer 2009, S. 29) genauestens bewusst bleibt und sich darum bemüht, aus den »tieferen, mehr schöpferischen Schichten des sozialen Feldes« (ebd., S. 31) heraus restbiografisch zu denken, zu fühlen und zu handeln. Dabei kann Neues entstehen – ein »ontologisches Unding«, wie Niklas Luhmann sagt:

»Etwas ist, obwohl, ja weil es alles nicht ist, was bisher war.« (Luhmann 1995, S. 323)

Können und sollten wir noch Neues aus uns heraus entstehen lassen, oder wollen wir bleiben, wer wir schon geworden sind – immer weiter mehr im Aufbruch als im Abschied lebend? Und: Warum »sollten« wir unser Restleben ändern? – Nicht im Sinne einer »weltfluchtfähigen Existenz« (Sloterdijk 2009, S. 695), sondern um uns zu erheben aus der Trance, in der wir auf einen Zustand zu torkeln, der unser alltägliches Denken, Fühlen und Handeln dereinst dementieren wird. »Ändere dein Leben!«, ruft Peter Sloterdijk seinen Lesern und Leserinnen im Blick auf die drohende globale Katastrophe zu. Und er fügt hinzu:

»Andernfalls wird früher oder später die vollständige Enthüllung euch demonstrieren, was ihr in der Zeit der Vorzeichen versäumt habt!« (ebd., S. 702)

Doch droht uns dieses Versäumnis nur in Anbetracht der globalen Entwicklung? Droht nicht jedem Menschen eine solche »globale Katastrohe«, die nicht die Welt, wohl aber seine Lebenswelt untergehen lässt? Wie können wir angesichts dieser Gewissheit weiterleben, teilhaben, gestalten und entwickeln – vom Totenbett her gar noch Weichen stellend?

»Hier geht es ja um alles, was mich jetzt ausmacht!« – so die Reaktion einer Teilnehmerin in einem Seminar über abschiedliche Bildung. »Insbesondere der Satz, dass die eigene Persönlichkeitsentwicklung nur um den Preis des Todes zu haben sei, hat mich schwer getroffen. Dieser Satz stimmt in einer Tiefe, die sich nicht dem ersten Gedanken erschließt. Wenn ich nur werden kann, wer ich zu sein vermag, weil ich mich damit von den anderen, nicht unbegrenzt bereitstehenden Möglichkeiten abgrenze, dann stellt uns dies ja vor eine völlig neue Situation: Das vergehende Leben ist dann nicht mehr bloß ›das Schwinden von Optionen‹, sondern ›die Nutzung von Optionen‹. Indem ich diese aufgreife, gestalte oder verwerfe, werde ich, wer ich sein kann. Es ist die Verknappung der Optionen im Lebensverlauf, die uns profiliert, d. h., uns Sinn und Identität stiftet! Ich muss gestehen: Seit ich diesen Zusammenhang erkannt und durchspürt habe, lebe ich vorsichtiger und bewusster im Blick auf die Sanduhr meines Lebens!«


Erste Etüde: Am Berg
Die folgende Übung lädt zu einer restbiografischen Reflexion ein, indem sie uns mit der Frage nach unserer Position »am Berg« konfrontiert. Damit ist durchaus Unterschiedliches gemeint: Es kann der Berg unseres Lebens sein, bei dem wir bereits die Hälfte hinter uns haben oder nur noch wenige Meter bis zum Gipfel hinter uns zu bringen haben. Gemeint sein kann aber auch die tägliche Sisyphosaufgabe. Entscheiden Sie selbst! Lassen Sie sich inspirieren!
Stellen Sie sich folgende Fragen: •An welcher Stelle befinden Sie sich auf dem Berg des Sisyphos? •Wie viele Male sind Sie hier schon raufgestiegen? •Was entgleitet Ihnen – kaum angekommen – immer wieder? •Hat sich Ihre Wandertechnik verändert? •Welchen Identitätsmantel tragen Sie derzeit? •Wie oft haben Sie diesen gewechselt? •Welches Gepäck haben Sie dabei? •Hängen an Ihrem Rucksack auch »die drei Siebe des Sokrates«? •Wann kamen diese zum Einsatz?
Versuchen Sie, Ihre Antworten auf diese Fragen in einem Bild »Ich: am Berg« zu visualisieren. Besprechen Sie dieses Bild mit einer Person Ihres Vertrauens! Beraten Sie sich mit ihr auch zu den Fragen: •Könnte ich meine Technik des Aufsteigens ändern? •Könnte ich mehr über die Topografie des Geländes in Erfahrung bringen? •Wer kann seine Erfahrungen mit mir teilen? •Sollte ich einen anderen Berg besteigen? •Was verspreche ich mir vom Bergwechsel? •Könnte ich meine Ausrüstung optimieren? •Kann ich mir Zeit lassen, gar eine Auszeit nehmen? •Kann ich lernen zu wandern, ohne zu stöhnen? •Welches Wanderlied stiftet mir Energie und gute Laune? •Sollte ich in Begleitung gehen (mit wem)? •usw.