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Innergebirg
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Roland

Reitmair

Innergebirg

Roman


ISBN 9783990401903


© 2013 by Styria premium

in der Verlagsgruppe Styria GmbH & Co KG

Wien · Graz · Klagenfurt

Alle Rechte vorbehalten

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gibt es in jeder Buchhandlung und im

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LEKTORAT: Prof. Rainer Lendl

UMSCHLAGGESTALTUNG: Bruno Wegscheider

BUCHGESTALTUNG: Maria Schuster

COVERFOTO: Peter Habereder/www.pixelio.de

REPRODUKTION: Pixelstorm, Wien

1. DIGITALE AUFLAGE: Zeilenwert GmbH 2013

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

Weitere Bücher

I

„Gib ihm das auch noch“, hallte eine weit entfernte, fremde Stimme, „zur Vorsicht.“

Kurz war ein metallisches Kratzen zu hören und ein kleiner Löffel schob sich zwischen Arthurs Lippen. Er schluckte unwillkürlich.

„Das sind ziemlich schlimme Verletzungen“, erklärte die Stimme weiter, während sanfte Finger an seiner Halsschlagader vorsichtig den Lebensfluss prüften. „Wir müssen uns beeilen, das Mittel wirkt bald und seine Kraft, sein Wille lässt nach … Komm. Jetzt: entweder – oder.“

„Was hast du ihm gegeben?“ fragte die gleiche Stimme.

Aber es war unlogisch.

Das konnte nicht nur eine Person sein, warum sollte sie sich selbst fragen, was sie verabreichte?

Auf Arturs Lidern lag eine unmenschliche Schwere. Er konnte nicht einmal blinzeln, geschweige denn schauen, was hier vor sich ging.

Er versuchte seine Finger zu bewegen. Es gelang nicht.

Nur das eine Ohr schien der Stimme um vieles näher zu sein als das andere und funktionierte vertraut. Es hörte. Laute formten sich zu Wörtern und es gelang Arthur, dem Sinn zu folgen.

Irgendwas brannte höllisch. Aber wo? Unten. Brustkorb, oder noch weiter weg. Wo genau, blieb ihm verborgen.

Sein Mund war so trocken.

„Ist da Bilsenkraut dabei?“ fragte die Stimme wieder.

„Ja. Er fällt jetzt in eine Art Wachkoma, dann müssen wir schnell sein“, antwortete sie sich selber in gleicher Tonlage.

„Es ist ein spezieller Sirup mir Kamille, Mandragora, Teufelskralle und Honig. So ist das besser verträglich.“

Manche Worte wiederholten sich unnatürlich oft und verebbten in einem mehrfachen Echo.

Das Rezept wollte Arthur aufschreiben. Es klang interessant. Was auch immer mit Honig, er mochte Honig.

Der Stift, seine Reisenotizen? – Es war ihm dann doch egal. Es brannte. Lichterloh brannte es. Unten im Brustkorb. Mittendrin.

„Hier, schneid die Hose auf, schneid das ganze Hosenbein ab.“ Hosen Bein ab. Bein ab. ab. Die Silben verlangsamten, wie in Zeitlupe.

Es säbelte an seinem Unterschenkel.

„Sieht nicht gut aus, das geht bis auf den Knochen … Wir müssen das gut desinfizieren, wo ist der Alkohol mit Johanniskraut?“

Ein hoher, gellender Ton überlagerte mit einem Mal alles Gesprochene, klang nach einiger Zeit aber wieder ab und hinterließ ein beruhigendes Rauschen.

Schlecht erzogen erschien Arthur ein kleines Mädchen, das auf seinem Knie saß und immer wieder mit irgendwas Spitzem seinen Unterschenkel malträtierte.

„Kannst du das Hemd da auf seiner rechten Seite ablösen? – Vorsichtig, dass keine Textilfasern drinnen bleiben … Die Wunde müssen wir nähen … die Rippen sind gebrochen.“

Beruhigend legte sich eine zarte, klamme Hand auf Arthurs linke Seite, während kundige Hände die tiefen Schnitte daneben versorgten.

Arthur spürte plötzlich einen kühlen Hauch. Feuchtkalt näherte sich Bedrohliches.

Aber es war das falsche Mittel dieses höllische Feuer zu löschen. Das war für ihn plötzlich gewiss.

Er krampfte.

„Irgendwie müssen wir ihn stabilisieren.“

„Das kommt von dem Sirup, vielleicht haben wir zu hoch dosiert.“

„Er kollabiert!“

Die Stimme schien jetzt höher zu singen, die Strophen wurden kürzer, ausdrucksstärker.

Endlich verstand Arthur, warum er ständig gegen diese Tür pochte. Es schmerzte bereits, manchmal setzten die Schläge aus. Aber es war taktvoll.

„Sein Puls rast.“ Rast. Rast. Rast, sagte die Stimme.

Wann hört das auf das Rasen, wann ist Ruhe – endlich Rast?

„Hier die feuchten Tücher! – Kühl’ seine Stirn und träufle ihm den Saft da in seinen Mund, nein nicht den, das ist der Arnika, den brauch ich für die Wunde ...“

„Hier.“ Hier ier ier ir ir ihr ihr bringt mich um, schrie Arthur. Doch so, als ob nur Totenschreine statt seiner Lippen geöffnet würden, grinsten schaurig lautlose Wortskelette aus leeren Augenhöhlen.

Von einem Moment auf den anderen erlosch das höllische Feuer.

„Um Himmels willen!“ Willen Villen Villen widerhallten Satzfetzen und einzelne Wörter im endlosen Kreuzbogengewölbe.

Hohe Töne verloren sich in schallschluckenden Katakomben zu dumpfen, schweren Silben als verdunkelnde Lautmalerei.

Arthur stand vor dieser Tür, hämmerte dagegen, wollte in die Grabesstille dahinter, wollte helfen helfen helfen elfen elfen.

Spürbar übertrug sich sein Pochen von der massiven Holztür auf die toten Steine. Auch dieses Pochen widerhallte aus jedem Winkel des Gewölbes. Es schmerzte im Kopf.

„Ich hoffe, er hält durch!“ durch durch durch.

Jetzt rollten die Silben nicht mehr lautmalerisch durcheinander, sondern schmiegten sich an das rasende Klopfen und zerbarsten wie Donner im endlosen Raum des Gewölbes.

Werte und Ideale verfallen in seltsam hastender Inflation,

seltsam unterminierender Indifferenz.

Grabesstille folgt auf die laute Revolution.

Müdigkeit auf das rastlose, unerhörte Missionieren.

Woher war jetzt dieses verfluchte Zitat, das sich wie in Stein gemeißelt als riesiger Obelisk durch seinen Brustkorb bohrte?

„Hier still’ das Blut, bind ab und dann Druckverband!“

Was genau da beruhigend klang, wollte nicht in Arthurs Hirn.

Und dieses Zitat? Dieses Zitat? Dieses Zitat! Zitaat! Zitaaat zittaat zittert.

„Er zittert am ganzen Leib. Ein hypovolämischer Schock, er krampft erneut!“

Die Stimme klang so aufgeregt und Arthur hätte so gern gesagt, was da nicht in sein Hirn wollte.

„Wir verlieren ihn!“ Das war ein hohes C. Die Arie schien sich dem Ende zu nähern.

Aber das Zitat? War es von Goethe, Schiller? Reitmair?

Die Nonne beobachtete betroffen den Patienten in seinen letzten Zuckungen. Sie machte ein Kreuzzeichen.

Ihre Mitschwester war aufgeregt.

„Schwester“ ester ester ester „ist er“ ister ister – und dann durchzuckte ein Wort wie ein Blitz diese graulethargische Unterwelt – „tot?“ tot. tot. tot. tot reflektierten die feuchtkalten Ziegel ein bedrohliches Echo.

„Was nun?“, schrie sie völlig schrill und misstönend.

„Das bereuen wir lebenslänglich!“ eben s länglich änglich l ich.

Sie schlug ihre Hände vors Gesicht.

„Gestorben wäre er so oder so, wir haben alles versucht. Es ist nicht unsere Schuld. Gott sei seiner Seele gnädig.“


Während die Mitschwester Totenwache halten sollte, informierte die Nonne die Mutter Oberin. Sie war im Garten. Zögernd trat die Nonne näher und erzählte von der Operation.

„Vor 300 Jahren hätte man euch verbrannt dafür“, verweigerte die Mutter Oberin jedoch jeden Zuspruch. „Um Hilfe zu holen wäre es zu spät, das waren eure Worte …

Ihr hättet den Mann auf seinem letzten Weg begleiten sollen. Wir sind hier kein Krankenhaus. Und wunderbare Rettungen, Heilungen mit hexistischem Hokuspokus können wir nicht brauchen!

Der Herr wollte seine Seele und ihr wolltet das verhindern. Ich bin keine Ärztin, aber mit solchen Verletzungen …

Wirkliche Hilfe wurde ihm von uns verweigert – anstatt im Dorf einen Notarzt anzufordern habt ihr ihn hierher gebracht.

 

Ihr habt gesündigt Schwestern. Schwer gesündigt. Wir werden die Konsequenzen noch überlegen.

Jetzt aber reinigt ihr den Toten zuerst einmal. Ich werde inzwischen alles Notwendige veranlassen, den Sarg bestellen. Dann legt ihr den Toten hinein und bringt ihn zum Dorffriedhof. Mit dem Priester werde ich sprechen.

Betet, dass später niemand mehr den Sarg öffnet und euren Frevel sieht.“

„Er hat noch gelebt“, verteidigte sich die Schwester, „es war Christenpflicht.“

„Jetzt ist er aber tot“, erklärte die Oberin lakonisch, „und euer Versuch war schändlich. Statt für sein Seelenheil zu beten habt ihr sein Fegefeuer vorweggenommen.

Wenn alles schief geht, werden irgendwelche Kommissare in unser Kloster kommen, vielleicht noch einen Mordfall untersuchen.“

„Aber …“, versuchte die Schwester noch einmal auf Verständnis zu stoßen.

„Nichts aber!“

Die Augen der Oberin glänzten zornig, „Ihr wisst, dass unser Kloster nur durch die großzügigen Subventionen aus Rom Bestand hat, noch Bestand hat.

Es gibt viele – und nicht zuletzt den Bischof hierzulande – die das für reine Geldverschwendung halten und nur auf den geeigneten Anlass warten, um dieses Kloster zu schließen und für immer zu entweihen …“


Arthur quälte sich immer noch mit dem Zitat. Es geisterte herum, wurde aber nicht greifbar. Lag ihm irgendwo auf seiner trockenen, rissigen Zunge. Eng schien es ihm zu werden, wenn ihm die Antwort nicht einfiel.

Lebens eng leben s läng l ich. änglich

Engl ich.

Wirre Fetzen eines geschriebenen Textes bemächtigten sich bildhaft seiner unzureichenden Wahrnehmung.

Frieden nur Frieden.

Verfluchte Todessehnsucht in Augenblicken des Schmerzes.

Ewiger Gott. Verweigere mir deine Absolution für die Unendlichkeit.

Ewig und unendlich waren nur unbrauchbare Worte mit unmenschlichen Assoziationen. Arthur wollte leben.

Zum Teufel mit Erlösung und Fegefeuer.

Er haderte mit seinem Schicksal: „Ich war nicht offen für die Welt, vergaß zu sehen, vergaß zu hören und zu spüren.

Himmel und Hölle waren mir eins und ich verbrannte in Selbstzerstörung.

Mich retten? Mich hinüber geleiten?

Helfende Hände bieten sich immer an.

Aus tiefgläubigen Fratzen springt Obsession entgegen.

Hohle, leere Augen erfüllen mit Furcht und Schrecken.“

Jene, die aus der Hölle kommen, sind in der Regel zufriedener als jene, die im Himmel wohnen ...

Es war nur die Kehrseite des Obelisken. Arthur sinnierte, wie eine Kehrseite vom selben Standpunkt aus so einfach zu lesen war. Offenbar drehte jemand an diesem Stein.

Noch während die Oberin in ihrem Garten Instruktionen gab, überlagerten sich die Töne des in den entferntesten Gewölbewinkeln reflektierten Pochens und das Echo respondierte hochenergetisch zum Ausgangspunkt in der kleinen Kammer des Klosters, wo der fremde Wanderer auf einem hölzernen Tisch notdürftig operiert lag.

Wie durch ein Wunder begann das Herz erneut zu schlagen. Physikalisch – medizinisch war es nicht zu erklären. Aber plötzlich zuckte Arthur und öffnete ein Auge.

In dem Moment hatte die Schwester Oberin bereits beim Schreiner den Sarg bestellt und den Dorfpriester über den Tod des fremden Wanderers informiert.


Schreiend kam die Mitschwester durch den Kreuzgang gelaufen.

„Er … lebt“, kreischte sie schrill und brach totenbleich zusammen.

„Schnell – bringt sie in ihre Kammer“, jetzt wirkte die Oberin tatsächlich beunruhigt. Das muss geheim bleiben, das durfte nicht nach außen dringen. Zwei Schwestern, die nach mittelalterlichen Vorlagen eine Operation erfolgreich durchführten, waren gefährlicher für ein Kloster, als wenn der Patient verstorben wäre.

Sie nahm ihre wenigen Vertrauten zur Seite. „Ihr füllt mit Stoff umwickelte Steine in den Sarg und vernagelt ihn gut.

Aber ihr wartet noch … bis wir sicher sind, ob der Fremde überlebt oder nicht. Ich will nicht sozusagen zwei Tote beim Pfarrer melden müssen.

In frühestens einer Woche bringt ihr ihn wie vereinbart zum Dorffriedhof. Sagt dem Pfarrer, dass seine Angehörigen erst ausfindig gemacht werden und wir ihn deswegen hier lassen. Eine Aufbahrung ist dann nicht mehr notwendig, es handelt sich um einen uns völlig Fremden. Zudem sei der Mann auch sehr entstellt …

Gott vergebe uns diese Notlügen.

Den Fremden pflegt noch einige Tage, oben in der Kammer, dann muss er weg von hier, egal wohin.“


Arthur war beruhigt und gleichzeitig beunruhigt. Das Pochen hatte stark nachgelassen. Nur mehr von Ferne hörte er ganz leise rhythmische Schläge. Er war beruhigt, denn es schien nicht mehr wichtig, die massive Tür zu öffnen. Er war aber beunruhigt, weil ihm irgendwas entgangen war. Wahrnehmungen hatten sich verflüchtigt. Er war sich dessen sicher. Für kurze Augenblicke war Ungewöhnliches vor sich gegangen, und es wäre wichtig gewesen, alle Sinne beisammen zu haben.

„Wird er sich erinnern können?“, fragte eine ältere Nonne an der Tür. Schwestern umsorgten ihn. Gaben dem Fremden stärkende Getränke aus Ei und Wein, verabreichten Haferbrei und Weißbrot.

Eine schüttelte den Kopf: „Bei der Dosis an Sirup ist eine generelle Amnesie wahrscheinlicher. Er wird nach den Tagen hier nicht wissen, was passiert ist.“

„Gut“, sagte die Nonne bei der Tür nach einigem Überlegen, „dann wird es kein Risiko sein, ihn nicht weit zu transportieren, sondern hier in der Gegend zu lassen. Wir wollen seine noch schwache Lebenskraft nicht überstrapazieren.

Es wird sich so oder so herausstellen, ob Gott ihn führt, oder ob er zeitlebens ein schlechter Mensch gewesen ist.

Entweder findet er jemanden, der ihm hilft – oder aber er findet dort eben doch noch sein Ende. Wie Gott will …“

Sie wuschen ihn und verbanden irgendwelche Wunden. Nähten an seiner Kleidung und besserten irgendwelche Risse und Löcher aus. Freuten sich über den schnellen Heilungsprozess. Verabreichten einen wunderbaren Met.

Täglich weniger, wie sie sagten. Langsam abgewöhnen.

„Er ist soweit“, meldete eines Tages die Schwester.

II

Als Arthur sich endlich zwingt die Augen zu öffnen, kann er kaum etwas erkennen. Seine Pupillen, die Glaskörper – ja selbst die Sehnerven stellen sich nur langsam auf einzelne Bilder ein. Wie in einer Diaprojektion verharren die Bilder jeweils einige Sekunden, bis dann, nach einer Ewigkeit unscharfen Erkennens, endlich das nächste Standbild folgt.

Seine Hand gehört zu diesen ersten Bildern, gefolgt von einem Grashalm im Großformat.

Die Rinde eines offenbar uralten, knorrigen Baumes.

Eine zarte weiß-rosa Apfelblüte.

Eine Raupe auf einer blatt- und blütenlosen Astgabel.

Knospen.

Heu auf einem grob karierten Stoff.

Ein Schuh.

Krokusse.

Huflattiche.

Kleine, blaue Veilchen.

Ein Schmetterling narrt seine Wahrnehmung. So schnell kann sich Arthurs Auge auf die Bewegungen nicht einstellen. Der verzerrte bunte Fleck taumelt damit durch einen verschwommenen Raum und zeigt seine Konturen erst, als er sich auf einem mit Flechten überzogenen Mauerrest niederlässt und einige Zeit im sanften Wind schaukelt.

Arthurs Sinne kehren zurück.

Er hört Vögel, Amseln und eine Braunelle.

Er riecht den Duft der Blüten und Blumen und bildet sich ein, das Gewirr an Düften entmischen und zuordnen zu können.

Aber Äonen scheinen zu vergehen, bis die idyllischen Facetten zu Miniaturen reifen und endlich ansatzweise die Wirklichkeit preisgeben.

Wie war er auf diesen dürftigen Heuhaufen gekommen? Hatte er hier unter dem Apfelbaum die letzte Nacht verbracht? Wo ist das Tagebuch? Der Stift?

Warum weiß er nicht, wohin er zuletzt wollte und was er überhaupt hier verloren hat?

Arthur. Bestimmt. Arthur. 10. 04. 1973. Das ist er. Aber dann? Die Eltern? Er kann sich an die Namen nicht mehr erinnern.

Das Bild seiner Mutter in einem zu großen, zu weißen Bett flackert kurz auf. Nur, warum lag sie dort? Das war nicht „daheim“ – was ist daheim?

Arthur beginnt sich sein Hirn zu zermartern. Verzweifelt legt er sich erneut auf das Heu und schließt seine Augen.

Als er diese wieder öffnet, ist die Situation unverändert. Kein böser Traum, irgendeine schlimme Wirklichkeit.

Eine Wirklichkeit, deren Farben wie gemalt wirken, wie muntere Boten eines erwachenden, lebendigen Frühlings.

Arthur beginnt genauer hinzuschauen. Es dauert jetzt nicht mehr so lange, bis sich die Bilder zu Wahrnehmungen verdichten.

Sein geflicktes Hemd, dürftig verheilte Wunden darunter. Genähte Wunden. Noch stecken Fäden in der Haut, regelmäßige, schwarze Schlaufen. Seine Rippen schmerzen. Nun erst fällt ihm auf, dass er bei jedem Atemzug stechende Schmerzen hat.

Seine gute Berghose ist bis zu den Knien gekürzt worden. Darunter schauen mäßig verheilte Schnittverletzungen auf vernarbten Waden hervor.

Die bloßen Füße stecken in leichten, bequemen Bergschuhen. Wo sind die Socken? Oder Stutzen?

Was ist passiert?

Ein Unfall, ein Verbrechen?

Wenn ja, wer hat ihn gerettet? War er Opfer oder Täter?

Kurz erschauert Arthur bei diesem Gedanken, dann überlegt er: Es ist beruhigend und beunruhigend zugleich.

Beruhigend, weil er da sitzt, weil Frühling ist, weil er Überlebender ist. Überlebender irgendeiner traurigen Tatsache.

Der Gedanke ist ihm nicht fremd. Beruhigend und beunruhigend zugleich. Das ist eine Weisheit, eine schöpferische Kraft. Zwei Seiten einer Medaille. Das hat ihm vor Kurzem noch bei einer wichtigen Entscheidung geholfen.

Kommen diese Wahrnehmungen doch zurück?

Er streckt sich im weichen Gras aus. Die Sonne umgarnt und wärmt. Erneut befällt ihn unwiderstehliche Müdigkeit. Er nickt ein.

Bedenken und Ängste verlieren sich im Schlaf, werden zu matten Schatten, die im hellen Licht zerfließen. Der Geruch von Heu, von vertrockneten Halmen, Relikten des Winters zwischen dem jungen, frischen Grün. Ewig könnte er hier so liegen.

Arthur setzt sich wieder auf, mustert die Landschaft rundherum. Die Sonne ist inzwischen ein gutes Stück weiter gewandert.

Felsblöcke und Büsche oder kleinere Bäume finden sich wie Inseln verstreut in dieser riesigen Wiese, die sich weit hinunter in eine Senke erstreckt. So etwas entsteht nicht zufällig oder von alleine. Der Landstrich wird also bewirtschaftet. Allerdings fehlen Zäune, auch Rinder, Schafe oder Pferde.

Am tiefsten Punkt der Senke beginnt ein schier endloser Wald, aus dem sich am Horizont ein felsiger Gebirgsstock erhebt. Unscharf, im Dunst gerade noch zu erkennen.

Hinter dem Apfelbaum mit seinen weit ausladenden Ästen steigt das Gelände bis zu einer Kuppe. Linkerhand scheint die Gegend bewohnt, es sieht aus, als würde da hinter dem Hügel irgendwo Rauch aufsteigen.

Der Apfelbaum steht einsam und mächtig, fast zu groß für einen Apfelbaum.

„Wie bin ich hierher gekommen?“, fragt sich Arthur, „vom Himmel gefallen werde ich ja nicht sein …“ und macht sich auf, Spuren zu suchen.

Seine Neugierde, sein Forschergeist kehrt zurück.

Langsam geht er um den Baum. Schritt für Schritt versucht er keine der unzähligen Blumen zu zertreten.

Um den Baum ist nicht viel zu erkennen. Einige geknickte Blumen und Gräser. Es erinnert ihn an früher. Da waren mehrere Kinder mit Federn am Kopf, die am Rasen nach Spuren suchten. Überrascht von seiner Entdeckung und diesem Bild, dieser Erinnerung, folgt Arthur der Spur. Behutsam, als müsse er die Abdrücke im Gras hypnotisieren, als könnten sich die Eindrücke wieder plötzlich davonmachen, wenn er sie nicht scharf im Auge behält.

Zwei, drei Mal lenken ihn wunderschöne, weiße Glockenblumen ab, mit regelmäßigen gelben Punkten an den Blütenblättern stehen sie büschelweise herum. Der Name will ihm nicht einfallen.

 

Wie ein angehaltener Film bleiben manche Eindrücke immer wieder stehen. Als ob ein Knopf in seinem Denken ist, ein Knoten. Ein Frühlingsknoten.

Es kostet Überwindung sich von diesen Blumen abzuwenden, weiterzugehen. Er zwingt sich zu mehr Konzentration und folgt den Spuren weiter, hinauf auf den Hügel.

„Von dort oben kann ich mir bestimmt einen guten Überblick verschaffen“, denkt Arthur und spürt, wie ihn der Entschluss – wieder planend sein Leben in den Griff zu bekommen – glücklich macht. „Jeder Strohhalm ist recht, der mich zurück ins Leben führt.“

Auf einer flachen Stelle, noch ein gutes Stück unter dem höchsten Punkt, findet Arthur Reifenabdrücke. Rund um das Ende dieser Abdrücke ist das Gras stark zertreten. Hat man ihn mit irgendeinem Gefährt hierher gebracht? Wer?

Wer verbindet einem die Wunden, pflegt einen gesund, um den Patienten dann aber in dieser gottverlassenen Gegend auszusetzen, orientierungslos und allein?

Indianer, genau. Indianer pflegten ihre Opfer gesund, bevor sie diese an einen Baum banden und marterten. Das hat er einmal gelesen. Arthur schaut an sich hinab und muss grinsen. Indianer ist er jedenfalls keiner. Plötzlich kann er mit dieser Spuren lesenden Kindheitserinnerung wieder etwas anfangen. Kleiner Bär ist jetzt ein Mann, ist Arthur.

Erinnerungen kommen zurück, stellt er zufrieden fest.

Vater spannte den Bogen, den Bogen. Vater. Klaus und Susanne. So heißen die Eltern. Ja: Klaus und Susanne.

Als ob ihm diese Eingebung zu viel seiner Kraft gekostet hätte, schwillt ein hoher Ton in seinem rechten Ohr an zu einem quälenden Schmerz. Lustige Funken tanzen vor seinen Augen und das Blut pocht laut in den Schläfen.

Arthur muss sich kurz ins Gras legen.

Wasser, verflucht. Wo ist Wasser? Sein Mund ist wieder so trocken. Er braucht unbedingt was zu trinken, zu trinken, trinken, trinken.


Irgendwas hält Arthur im Schlaf.

Seinem Kopf, seinen Gedanken fehlt die Macht über den Körper.

Er will die tauben Glieder bewegen, wenigstens einen Millimeter.

Will aufwachen.

Wehrt sich mit aller Kraft.

Seine Lider drücken schwer auf die Augen.

Bleiern, erstarrt.

Wie ein Toter in einem viel zu engen Sarg.

Er kann denken, kann fühlen, aber sein Körper reagiert nicht.

Eingebettet in raumlose Umgebung.

Gefangen in Bewegungsunfähigkeit.

Er spürt sein Herz rasen. Spürt, wie ihm heiß wird. Wie Schweiß sich in dicken Tropfen auf seiner Stirn sammelt. Unter den Achselhöhlen. Ruhig. Ganz ruhig. Denkt er. Ruhig. Aber Panik steigt auf. Heiß, es ist so heiß, das Herz …

In dem Moment, in dem die Lähmung nachlässt, sind all seine Muskeln zum Zerreißen gespannt. Sofort reagiert sein Körper. Schreiend schnellt Arthur hoch. Sitzt eine Zehntelsekunde aufrecht. Doch mit einem stechenden Schmerz in der Brust fällt er zurück. In sich zusammen und krümmt sich wimmernd am Boden.

Minutenlang bemüht sich Arthur, seine hektische Atmung zu verlangsamen. Tränen laufen über sein Gesicht. „Langsam“, spricht er mit sich selber und streicht sich mit der Hand über die Stirn.

Dann wischt er mit dem Hemdsärmel über seine Augen.

Vorsichtig dreht er sich und versucht in eine kniende Position zu kommen. Der Schmerz lässt nach.

Es braucht einige Minuten, bis er wieder durchatmen kann und die Übelkeit vergeht.

Arthur schaut um sich.

Staunend erkennt er, dass diese Wiese nicht so endlos groß ist. Einige Baumgruppen, dazwischen felsige Erhebungen und zwei von Menschenhand zusammengetragene Steinhaufen – dann scheint dort schon die Talsohle erreicht.

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