Tony Rinaudo - Der Waldmacher

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Aus der Reihe: rüffer&rub visionär #6
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Tony Rinaudo - Der Waldmacher
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Johannes Dieterich, Hg.

TONY RINAUDO – DER – WALDMACHER

Übersetzung aus dem Englischen (Texte von Tony Rinaudo und Dennis Garrity) von Roland Brolde.

Der Herausgeber und der Verlag bedanken sich für die großzügige Unterstützung bei

Elisabeth Jenny-Stiftung Dr. Georg und Josi Guggenheim-Stiftung

und für die Ermöglichung der Reise von Tony Rinaudo

und Johannes Dieterich in den Niger bei

World Vision Deutschland

Der rüffer&rub Sachbuchverlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.

Erste Auflage 2018

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2018 by rüffer&rub Sachbuchverlag GmbH, Zürich

info@ruefferundrub.ch | www.ruefferundrub.ch

Design E-Book: Clara Cendrós

ISBN Book: 978-3-906304-18-2

ISBN E-book: 978-3-906304-45-8

Vorwort | Anne Rüffer

Einleitung | Johannes Dieterich

»Ist das nicht Tony?« | Johannes Dieterich

Die Entdeckung des unterirdischen Waldes | Tony Rinaudo

Hoffnung für Trockengebiete: »Farmer Managed Natural Regeneration« ist die richtige Antwort auf die ruinöse Landdegeneration | Dennis Garrity

»Vertrauen wäre zumindest mal ein Anfang« | Interview mit Günter Nooke

Epilog | Tony Rinaudo

Anhang

Bibliografie

Bildnachweis

Biografien der Autoren



Vorwort

Anne Rüffer, Verlegerin

2. Dezember 2015, Genf. Im voll besetzten »Auditorium Ivan Pictet« hat sich ein hochrangiges Publikum versammelt, um die aktuellen Preisträger des Alternativen Nobelpreises zu ehren. Selten stimmt die Adresse eines Ortes so unmissverständlich mit den Inhalten der Veranstaltung überein wie an diesem Abend: »Maison de la Paix«. Deutschlands Umweltministerin Barbara Hendriks und UN-Generaldirektor Michael Møller eröffnen den Anlass, der unter dem Titel steht: »On the Frontlines and in the Courtrooms: Forging Human Security.«

In der darauf folgenden Diskussion der vier Preisträger von 2015 fällt auf einmal die Aussage, die mich elektrisiert: »Die UN wurde nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet, um nachfolgende Generationen vor der Geisel des Kriegs zu bewahren. Seither hat es über 170 Konflikte gegeben – und ihr habt die Möglichkeit einer Abschaffung von Kriegen nie diskutiert? Come on, guys, das ist doch unglaublich!« Verlegenes Gelächter und ungläubiges Staunen im Publikum, doch Dr. Gino Strada, Gründer der internationalen Hilfsorganisation »Emergency« weiß nur zu gut, wovon er spricht: Seit den frühen 1990er-Jahren baut er Kliniken in Kriegsregionen und kümmert sich um die zivilen Opfer – 10% sind Kämpfer der verschiedenen Kriegsparteien, 90% Zivilisten. Er beendete sein Statement mit der Feststellung: »Nennt mich ruhig einen Utopisten, denn alles ist eine Utopie, bis jemand seine Idee in die Tat umsetzt.«

Einer der wohl meistzitierten Sätze der letzten Jahrzehnte lautet: »I have a dream.« Nicht nur Martin Luther King hatte einen Traum – viele Menschen träumen von einer gerechteren Welt für alle. Und es sind einige darunter – mehr als wir wissen und noch lange nicht genug –, die ihren Traum mit Engagement, Herz und Verstand realisieren. Es sind Pioniere in ihren Bereichen, man mag sie – wie Gino Strada, Martin Luther King, Mutter Teresa oder Jody Williams – durchaus Utopisten nennen. Doch: Jede große Errungenschaft begann mit einer Idee, einer Hoffnung, einer Vision.

Den Funken einer Idee, einer Hoffnung, einer Vision weiterzutragen und damit ein Feuer des persönlichen Engagements zu entzünden, das ist die Absicht, die wir mit unserer neuen Reihe – wir nennen sie »rüffer&rub visionär« – verfolgen. Im Mittelpunkt steht die persönliche Auseinandersetzung der Autoren mit ihrem jeweiligen Thema. In packenden Worten berichten sie, wie sie auf die wissenschaftliche, kulturelle oder gesellschaftliche Frage aufmerksam geworden sind, und was sie dazu veranlasste, sich der Suche nach fundierten Antworten und nachhaltigen Lösungen zu verpflichten. Es sind engagierte Texte, die darlegen, was es heißt, eine persönliche Verpflichtung zu entwickeln und zu leben. Ob es sich um politische, gesellschaftliche, wissenschaftliche oder spirituelle Visionen handelt – allen Autoren gemeinsam ist die Sehnsucht nach einer besseren Welt und die Bereitschaft, sich mit aller Kraft dafür zu engagieren.

So vielfältig ihre Themen und Aktivitäten auch sein mögen – ihr Handeln geschieht aus der tiefen Überzeugung, dass eine bessere Zukunft auf einem gesunden Planeten für alle möglich ist. Und: Wir sind davon überzeugt, dass jeder von uns durch eigenes Handeln ein Teil der Lösung werden kann.

Einleitung

Johannes Dieterich

Bis zu 700 Millionen Menschen werden in den nächsten drei Jahrzehnten womöglich ihre Heimat verlassen müssen, weil die Landschaften, in denen sie leben, zunehmend veröden. Das ist kein Kassandraruf eines Aufmerksamkeit erheischenden Untergangspropheten, sondern die Prognose von mehr als hundert Wissenschaftlern, die sich im März 2018 in der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá trafen. In ihrem Bericht schreiben die in der Bonner »Zwischenstaatlichen Plattform für Biodiversität« vereinten Experten, dass Klimawandel und Landzerstörung in großen Teilen der Welt die landwirtschaftlichen Erträge bis zum Jahr 2050 zu halbieren drohten: Als Folge sei mit sozialer Destabilisierung und gewalttätigen Konflikten um knapper werdende Ressourcen zu rechnen.

Zugegeben: Das erschreckende Szenario hat auch mich kalt erwischt – selbst nach mehr als 20 Afrika-Jahren war mir das Ausmaß der Verödung der Acker- und Weideflächen auf dem Kontinent nicht bewusst. Dass ich Tony Rinaudo im März 2016 zum ersten Mal begegnete, war keiner Jagd auf Apokalyptisches, sondern meiner Suche nach einer »positiven Geschichte« aus Afrika zuzuschreiben, die von meinen Heimatredaktionen in Deutschland immer häufiger angefordert werden: Angesichts des Elends in anderen Teilen der Welt will man aus dem bisherigen Kontinent der Kriege, Krankheiten und Katastrophen inzwischen lieber Mut-Machendes hören. Rinaudo erfülle die in ihn gesetzten Erwartungen glänzend: Der Waldmacher stellte sich als Hoffnungsmacher heraus.

Aus seiner Geschichte könnte man ohne Weiteres ein Heldenepos stricken: vom aufopferungsvollen Missionar, der erfolgreich gegen die Verödung ganzer Landstriche ankämpft. Ihm selbst hätte man damit allerdings keinen Gefallen getan: Denn Tony Rinaudo will sich nicht verherrlicht sehen, er will sich vielmehr überflüssig machen. Erst wenn aus seiner Idee eine »Bewegung« geworden ist, sieht sich der Agronom am Ziel seiner Anstrengungen angelangt: Wenn Millionen von Menschen von sich aus dem Abholzen der Bäume auf ihren Feldern ein Ende setzen und zu einer integrierten Landwirtschaft zurückkehren. Dass dieser Paradigmenwechsel ohne großen Aufwand möglich ist, ist das Faszinierendste an Rinaudos Entdeckung: Um die verödeten Landschaften wieder zum Blühen zu bringen, sind weder große Mengen an Geld noch übergebührliche Anstrengungen nötig.

Mit Tony Rinaudo unterwegs gewesen zu sein gehört zu den eindrücklichsten Erfahrungen meiner Reisen auf dem Kontinent: Selten habe ich einen hellhäutigen Menschen erlebt, der mit der afrikanischen Bevölkerung dermaßen »in tune« ist. Dem Agronom ist Besserwisserei ebenso fremd wie Zynismus – oder die Ursünde des weißen Helferheeres, der Paternalismus. Tony leidet mit einem Kleinfarmer, wenn dessen Ziege stirbt, und freut sich mit ihm, wenn sein Sahel-Apfelbaum die ersten Früchte trägt. Und das alles auf Hausa, der Verkehrssprache Westafrikas, die der Australier nach dem wohlwollenden Urteil seiner Gegenüber wie »ein Esel aus Kano« spricht.

Rinaudo und seine Methode der Farmer Managed Natural Regeneration (FMNR) stehen im Zentrum dieses Buches. In der einführenden Reportage berichte ich von Reisen mit dem »Waldmacher« nach Äthiopien, Somaliland und in den Niger, wo Rinaudo vor fast 35 Jahren den »unterirdischen Wald« entdeckte. Er selbst erzählt dann, wie er die FMNR-Methode entwickelt und den Farmern ihre Vorzüge aufgezeigt hat. Der Agronom Dennis Garrity erläutert in seinem Beitrag die wissenschaftlichen Fakten zu FMNR. Und Günter Nooke, Afrikabeauftragter der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel, trägt schließlich im Gespräch eine politische Einschätzung der Arbeit des Waldmachers bei.

 

Nach Auffassung der in Bogotá versammelten Wissenschaftler gibt es im Zusammenhang mit der rasenden Verödung eigentlich nur eine Hoffnung: Dass die einheimischen Farmer für ein »nachhaltiges Landmanagement« gewonnen werden. Mit FMNR will Tony Rinaudo die geeignete Methode dafür gefunden haben – gerade noch rechtzeitig, um die Zerstörung unserer Lebensgrundlage aufhalten oder sogar rückgängig machen zu können. Während der einstige Missionar seine Entdeckung selbst als religiöse Offenbarung erlebt hat, kommt einem Agnostiker das Diktum des deutschen Romantikers Friedrich Hölderlin in den Sinn: »Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.«

»Ist das nicht Tony?«

Johannes Dieterich

Hier könnte man ohne Weiteres »Heidi« filmen. Der Wildbach plätschert lustig vor sich hin. Glücklich mampfen die Kühe das saftige Gras. Das Kinn auf seinen Stock gestützt blickt ein Hirtenjunge verträumt ins Tal. Nur die dunkle Haut des Knaben lässt ahnen, dass hier nicht Heidis Heimat ist. Und zwei nahe gelegene, mit Gras bedeckte Hütten verraten vollends, dass sich diese Postkartenidylle auf einem anderen Kontinent abspielt, weit weg von der Schweiz. Wir befinden uns in Afrika, genauer gesagt: in den Bergen nahe der südäthiopischen Stadt Sodo.

»Wenn Sie vor zehn Jahren hier gewesen wären, würden Sie noch viel mehr staunen«, sagt Tony Rinaudo. Der australische Agrarexperte scheint vor Glück gleich zu platzen: Als der Melbourner im Jahr 2006 zum ersten Mal nach Sodo kam, sahen die Berge noch wie nach einer Naturkatastrophe aus. Statt von Bäumen und Gras war die Landschaft damals höchstens von stacheligen Büschen und Kriechpflanzen bedeckt, die Erosion hatte tiefe Furchen in die Abhänge gerissen, bei starkem Regen stürzten regelmäßig Schlammlawinen ins Tal. Sie rissen zuweilen sogar einige der afrikanischen Rundhütten mit sich: Einmal wurde eine fünfköpfige Familie unter den Erdmassen begraben.

In jener Zeit waren die Menschen in der Region Sodo noch auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen – wie im 50 Kilometer weiter südwestlich gelegenen Dörfchen Humbo, dessen Hausberg dem nackten Buckel eines Nilpferds glich. Tony Rinaudo war damals von der Hilfsorganisation World Vision nach Humbo geschickt worden, um eine der letzten noch fließenden Quellen einzufassen. Der Agrarexperte sah allerdings schnell, dass die dortige Bevölkerung ein wesentlich größeres Problem als die nicht eingefasste Quelle hatte: Mit dem ständigen Abholzen der Bäume und dem Übergrasen der Weiden hatte sie ihre eigene Lebensgrundlage zerstört.

»Wir haben oft darüber geredet, ob wir wegziehen sollten«, erinnert sich Anato Katmar, dessen drei Hektar große Farm am Fuß des ehemaligen Nilpferdbuckels liegt: »Aber wohin?« Damals lebte er mit seiner Frau und den fünf Kindern noch in eine kleine Hütte gezwängt, die Mais- und Sorghum-Ernte fiel Jahr für Jahr miserabler aus, von dem kahlen Hügel kullerten ab und zu Felsbrocken in seine Felder und zermalmten die Pflanzen. Von der Höhe herab war als einziger Laut der noch übrig gebliebenen Tierwelt das höhnische Bellen der Paviane zu hören: Die Affen fraßen jedes bisschen Grün weg, das sich auf dem nackten Hügel zeigte. Viele Abende im Jahr gingen die Katmars hungrig ins Bett.

Äthiopien gilt als das Hungerland des Kontinents schlechthin. Aus dem inzwischen über 100 Millionen Einwohner zählenden Staat am Horn von Afrika wurden einst die schlimmsten Dürrekatastrophen der Erde gemeldet. Bis Bob Geldof mit seiner »Band Aid« 1984 das Gewissen der Weltöffentlichkeit wachgerüttelt hatte, mussten eine halbe Million Äthiopier sterben. Noch heute hat das Land – wie die meisten der 55 Staaten des Kontinents – Schwierigkeiten, seine Bevölkerung zu ernähren: Während die Zahl der Hungernden in den vergangenen 25 Jahren weltweit zurückging, ist sie in Afrika weiter gestiegen. Und zwar von 181,7 Millionen Menschen im Jahr 1990 auf 232,5 Millionen im Jahr 2017.

Für die chronische Krise werden neben politischen und klimatischen Ursachen auch ökologische Einschnitte verantwortlich gemacht: allen voran die Verschlechterung der Böden und das Verschwinden der Bäume. Äthiopien, das einst zu weiten Teilen mit Wald bedeckt war, hat in den vergangenen 50 Jahren fast 90% seiner stämmigen Pflanzen verloren. Doch wenn sich Experten über eines einig sind, dann ist es die Bedeutung der Bäume für die Qualität der Böden: Sie halten die Erde fruchtbar und feucht, sorgen mit ihrem Schatten für wesentlich geringere Bodentemperaturen und brechen den Wind, der ansonsten die in der Trockenzeit zu Staub zerbröselte Erde fortträgt.

Am schlimmsten hat die ökologische Verheerung die Sahelzone heimgesucht. Dort breitete sich die Wüste bis vor zwanzig Jahren immer weiter in Richtung Süden aus, die Bäume verschwanden. Fast alle Versuche, der zunehmenden Verödung in den trockenen Landstrichen mit dem Pflanzen neuer Bäume Herr zu werden, schlugen fehl: Die meisten der teuren Setzlinge erlebten nicht einmal ihren ersten Geburtstag. »Millionen von US-Dollar wurden verschwendet«, sagt Tony Rinaudo, der einst für Wiederaufforstungsprogramme in der Sahelzone zuständig war: »Wenn ein Bruchteil unserer Setzlinge überlebte, konnten wir froh sein.«

Das soll nun allerdings Vergangenheit sein, sagt der ansonsten ausgesprochen bescheiden auftretende Australier. Der Agronom aus Melbourne will eine wesentlich erfolgreichere Methode der Wiederbewaldung und Wiederbelebung der Böden gefunden haben – und zwar zum Nulltarif. Rinaudo hat sich nichts Geringeres vorgenommen, als dem Hunger in Afrika den Garaus zu machen: Seine Entdeckung könnte für den Kontinent bedeutender als Milliarden von US-Dollar an Entwicklungshilfe werden.

»Hol mich hier raus«

Als der Australier 1999 erstmals nach Humbo kam, wurde er nicht wie der Messias begrüßt. Die Dorfbewohner standen dem fremden Agrarexperten wenn nicht gar feindselig, so doch zumindest skeptisch gegenüber. Sie argwöhnten, dass das Bleichgesicht im Auftrag ausländischer Agrarkonzerne unterwegs sei. Seine Vorschläge, auf den ohnehin ausgemergelten Feldern auch noch Bäume wachsen zu lassen, die hungrigen Rinder vom kahlen Hügel fernzuhalten und den Köhlern das Schlagen von Brennholz zu verbieten, klangen unsinnig oder sogar verdächtig: Mit dem merkwürdigen Baumfreund wollte man lieber nichts zu tun haben. Anato Katmar gehörte zu den wenigen, der dem Fremden eine Chance einzuräumen bereit war: Womöglich, weil er ohnehin nichts mehr zu verlieren hatte. »Tony«, sagt Katmar, »war meine letzte Chance.« Für seine erste Kooperative musste sich Rinaudo mit einer Handvoll Farmern begnügen: Die sahen sich zu allem Überfluss auch noch dem Gespött und Misstrauen ihrer Nachbarn ausgesetzt.

Heute gibt es in Humbo sieben Kooperativen mit über fünftausend Mitgliedern, keiner von ihnen scheint mehr an Tony Rinaudos Methode zu zweifeln. Während die anderen Dörfer der Region im El-Niño-Jahr 2016 wieder einmal auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen waren, wurden in den Kooperativen am Fuß des Nilpferdrückens Überschüsse eingefahren: Sie werden zur Verteilung in bedürftigen Teilen des Landes an das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) verkauft. Der Hügel selbst ist inzwischen wieder von mehr als zwei Meter hohen Bäumen bewaldet, und auf den Farmen wachsen Obstbäume, die außer Schatten auch Früchte – und hin und wieder einzelne Äste als Brennholz abwerfen. Statt seiner Rundhütte konnte sich Anato inzwischen ein richtiges Haus mit Backsteinen und Wellblechdach leisten. Außer dem obligatorischen Mais und Hirse baut er Kaffee und Bananen an, die er zusammen mit den Mangos aus dem Garten auf dem Markt verkauft. Den Erlös investierte der Farmer in die Ausbildung seiner Kinder: Die zwei Ältesten schlossen bereits ihr Studium ab, die drei Jüngsten gehen noch ins Gymnasium. Bei den Katmars gibt es inzwischen dreimal täglich zu essen: »Hunger«, sagt Vater Anato, »kennen wir nur noch aus der Erinnerung.«

Tony Rinaudo folgt den Erzählungen seines Musterfarmers mit strahlender Miene – für den Agronomen geht in Humbo ein Traum in Erfüllung. Schon Anfang der 1980er-Jahre war Rinaudo von seiner Mission »Serving in Mission« (SIM) in den Niger geschickt worden: Dort sollte er den Vormarsch der Wüste mit dem Pflanzen neuer Bäume stoppen. Mehrere Jahre lang ging der Australier als Don Quichotte der Setzlinge gegen die alles verheerenden Sandmühlen vor: Kaum 10% seiner Bäumchen hätten nach dem Einpflanzen die Hitze und die staubigen Stürme überstanden, erinnert er sich. Und falls einer der Setzlinge mal durchkam, wurde er später von Ziegen gefressen oder noch später zu Brennholz zerhackt. Schließlich hätte Rinaudo mit seiner Geduld auch fast noch den Glauben verloren: »Hol mich hier raus«, haderte er wie einst Hiob mit seinem Gott.

In der Wahrnehmung des ehemaligen Missionars ging seine Geschichte in Maradi auch biblisch weiter. Eines Tages, als Rinaudo gerade Luft an den Reifen seines Geländewagens herausließ, um besser durch die trostlose Sandlandschaft zu kommen, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Bei den grünen Trieben, die überall um ihn herum aus dem Sand sprossen, handelte es sich mitnichten – wie er bislang immer angenommen hatte – um nutzloses Kraut: Sie stellten sich bei genauerer Betrachtung vielmehr als Baumtriebe heraus. Wenn diese jedoch mitten im Sand wachsen konnten, musste sich unter ihnen ein noch intaktes Wurzelwerk befinden, folgerte Rinaudo: Und weil dasselbe Phänomen überall in der Region zu beobachten war, durfte man von einem riesigen Wurzel-Netzwerk unter dem Sand der Sahelzone ausgehen. Bäume, die gewissermaßen verkehrt herum im Wüstenboden stecken, schwante dem Agrarexperten: ein unterirdischer Wald.

Sein Damaskus-Erlebnis stellte Rinaudos Welt vom Kopf auf die Füße. Wenn man den grünen Trieben im Sand nur eine Chance gäbe, würden sie ganz von selbst zu Bäumen heranwachsen, mutmaßte er: Sein verzweifeltes Pflanzen neuer Bäume war womöglich völlig überflüssig. Alles, was man zur Regeneration der verheerten Landschaft brauchte, war ein Taschenmesser, das Rinaudo ständig mit sich trägt: Damit pflegt er die zum Verbuschen neigenden Triebe der Bäumchen zu beschneiden. Weil die Sprösslinge auf die noch im Wurzelwerk gelagerten Nährstoffe, vor allem Zucker, zurückgreifen können, wachsen sie meist in atemberaubendem Tempo zu ausgewachsenen Bäumen heran. Er habe schon oft beobachtet, wie aus einem kümmerlichen Stämmchen innerhalb von drei Jahren ein fünf Meter hoher Baum geworden sei, sagt der Australier.

Stadt der unbenützten Tankstellen

Maradi muss die Stadt mit der weltweit größten Zahl an Tankstellen pro Einwohner sein: An den Einfallstraßen der nigrischen Provinzstadt finden sich Spritstationen wie andernorts Telegrafenmasten aufgereiht. Die meisten sind allerdings nicht in Betrieb: Sie verdanken ihr Dasein lediglich einer Bestimmung der nigrischen Regierung, wonach nur derjenige eine Genehmigung zum Export von Kraftstoff ins Nachbarland Nigeria erhält, der eine Tankstelle besitzt. Mit dem kleinen Grenzverkehr lässt sich offenbar dermaßen viel Geld verdienen, dass sich der Bau einer nutzlosen Pumpstation schnellstens amortisiert: Ein Beispiel für die bürokratischen Abenteuerlichkeiten, mit denen die knapp 17 Millionen Einwohner des westafrikanischen Staats leben müssen.

Ansonsten ist Maradi wie jede andere Provinzstadt in diesen Breitengraden: zu heiß, zu staubig und dennoch rund um die Uhr lebendig. Nur die schlimmste Mittagshitze verbringen die Fahrer der allgegenwärtigen Motorradtaxis über den Tank ihrer chinesischen Maschinen ausgestreckt, während betagte Peugeots 404 weiterhin über die meist ungeteerten Straßen rumpeln und sich alte Männer auf Steinbrocken sitzend mit Brettspielen die Zeit vertreiben. Das einzige saftige Grün in der mit einem sandfarbenen Film überzogenen Stadt ist im Stadion mit seinem von der Fifa finanzierten künstlichen Rasen zu finden. Viehhirten aus der Umgebung rückten regelmäßig mit ihren Herden an, erzählen sich die Städter spöttisch: Im Glauben, dass sich in der Fußballarena frisches Gras befinde. Ansonsten haben auch die Stadtbewohner wenig zu lachen: In Maradi verfügt nicht einmal die Hälfte der Arbeitsuchenden über einen Job, die meisten der nahezu eine Million zählenden Einwohner müssen mit dem Äquivalent eines Euros am Tag auskommen. In ihren Hütten aus Wellblech gibt es meist weder fließendes Wasser noch Strom.

Die Sahelzone ist das Stiefkind des Kontinents, der selbst schon aus zerrütteten Verhältnissen stammt: In dem wenige hundert Kilometer breiten Landstrich, der sich vom Senegal im Westen des Erdteils bis zum ostafrikanischen Sudan hinzieht, scheint die Armut noch tiefer verwurzelt zu sein als der wilde Feigenbaum mit seinen bis zu 120 Metern in die Erde reichenden Trieben. Aus der Sahelzone stammt ein beträchtlicher Teil der Migranten, die ihr Glück trotz der lebensgefährlichen Reise im europäischen Nachbarkontinent suchen. Hier fällt auch den zornigen Islamisten – die den Einfluss der christlichen Weltherrscher als zumindest eine der Ursachen ihres Elends betrachten – die Rekrutierung neuer Kämpfer nicht schwer. Nicht weit von Maradi entfernt treibt die nigerianische Sekte Boko Haram ihr Unwesen, deren Name so viel wie »westliche Erziehung ist Sünde« bedeutet. Und im Norden des Nigers sind Mitglieder der Terrorgruppe »Al Kaida im Maghreb« aktiv. Westliche Militärs betrachten die Sahelzone als ein derart gefährliches Terrain, dass sie dort Tausende ihrer eigenen Soldaten stationiert haben. Doch auch die französischen, amerikanischen und deutschen Truppenkommandeure wissen, dass den wahren Gründen der Gefahr nicht mit Waffengewalt beizukommen ist. Es ist die Armut, die besiegt werden muss, und das ist Rinaudos Metier.

 

Hausa wie ein Esel aus Kano

»Tony, Tony!«, ruft ein älterer Mann, als er am Dorfrand von Dan Indo den Beifahrer mit der hellen Haut im Geländewagen erkennt: Kurze Zeit später ist das Fahrzeug von einem Schwarm Jugendlicher und einem guten Dutzend lachender Männer umringt. Trotz seiner inzwischen grau melierten Haare erkennt jeder den ehemaligen Missionar auf Anhieb – man klatscht in die Hände, umarmt sich und schüttelt ungläubig den Kopf. Ein stattlicher Mann stellt sich auch selbst als Tony vor: Seine Eltern haben ihn vor mehr als dreißig Jahren nach dem Australier benannt. Keinesfalls der einzige dunkelhäutige Tony im Maradi-Distrikt, wie sich im Verlauf unseres Besuchs herausstellt. Legt man als Maßstab die Ausbreitung seines Namens an, muss Rinaudo hier hervorragende Arbeit geleistet haben.

Sule Lebo, der Dorfälteste von Dan Indo, will die Hand seines Besuchers gar nicht mehr loslassen. Die beiden unterhalten sich in Lebos Muttersprache Hausa, was diesen immer wieder laut auflachen lässt: »Er kann es noch immer!«, klatscht sich der Bürgermeister auf die Schenkel. Tony spreche Hausa »wie ein Esel aus Kano«, heißt es in den kommenden Tagen immer wieder: Das ist als Kompliment gemeint.

Nach der überschwänglichen Begrüßung kommt Sule Lebo allerdings schnell zur Sache. Die vergangenen Jahre seien hart gewesen, erzählt der Dorfchef: Der Regen fiel miserabel aus, die Ernten waren schlecht, schließlich musste sich der 63-Jährige auch noch für umgerechnet EUR 400 an der Prostata operieren lassen. Um das Schulgeld seiner Kinder zahlen zu können, sah sich Lebo gezwungen, drei seiner acht Ochsen zu verkaufen – und trotzdem geht es dem Farmer mit seinen zwei Frauen und 17 Kindern heute wesentlich besser als zu Beginn der 1980er-Jahre, als er Rinaudo kennenlernte. Damals bewirtschaftete Lebo nur drei Hektar Land, heute sind es 22. Erntete er damals noch lediglich 150 Kilogramm Hirse pro Hektar, so sind es heute 500 Kilogramm. Und die rund zwanzig Ziegen und Schafe seiner Frau gab es damals auch noch nicht. Als der australische Agronom hier mit der Arbeit begann, habe man zwischen dem Dorf und der rund zwei Kilometer entfernten Teerstraße kaum einen Baum gesehen, fährt Lebo fort: Heute stehen Hunderte von ihnen über die Felder verteilt.

Der Dorfchef war einer der wenigen, der Rinaudo damals eine Chance einräumte: Dan Indo wurde zu einem der ersten Projektdörfer des ausländischen Agrarexperten. Der Feldversuch hätte kaum besser verlaufen können: Schon nach wenigen Jahren waren auf den Äckern der Dorfbewohner wieder zahlreiche Bäume herangewachsen – sie spendeten Schatten, senkten die Bodentemperatur, brachen den Wind und gaben ganz nebenbei auch noch Holz zum Hüttenbau oder Feuermachen ab. Lebos Ernteeinnahmen verdreifachten sich, allein mit dem Verkauf von Holz verdient er inzwischen jährlich rund EUR 130, für nigrische Verhältnisse eine stattliche Summe. Mit seinen zahlreichen Feldern, den Ochsen, Ziegen und Hühnern ist dem Kleinbauern der Aufstieg zum diversifizierten Farmer geglückt: Das habe er neben dem Allmächtigen vor allem Tony zu verdanken, lacht Lebo.

Ansonsten ist das Bild, das beim Abklappern mehrerer Dörfer in der rund 30 Kilometer nördlich von Maradi gelegenen Region entsteht, durchaus vielfältig. In Waye Kai verfügt Dorfchef Dan Lamso nach eigenen Worten über »so viele Bäume«, dass er sie »gar nicht mehr zählen« könne. Als Ausdruck seiner Dankbarkeit überreicht er Rinaudo zwei Hähne, die lauthals protestierend auf der Ladefläche des gemieteten Geländewagens landen. Keine zwanzig Kilometer entfernt ist die Laune schon etwas gedrückter: Hier hat sich die Zahl der Bäume auf den Feldern der Dorfbewohner in den vergangenen zwei Jahren drastisch reduziert. Um ihre der Dürre zugeschriebenen Ernteverluste auszugleichen, verkauften die Kleinfarmer große Mengen an Holz. Wenigstens seien sie so einigermaßen glimpflich über die Runden gekommen, tröstet sich Rinaudo: »Bäume können wie ein Sparkonto sein, von dem man in schlechten Zeiten zehrt.«

Irritiert zeigt sich Rinaudo von den Zuständen in Sarkin Hatsi, wo er gleich zu Beginn des Besuchs von einer Frau angebettelt wird. »Geh auf dein Feld und kümmere dich um die Pflanzen und Bäume, dann brauchst du nicht zu betteln«, bekommt die Bittstellerin zu hören: Der ehemalige Missionar will keine Almosen verteilen, sondern Bedingungen verändern. »Ist das nicht Tony?«, ruft ein Mann vom Nebenhaus, dessen Arm in einer Schlinge steckt: Damani Idi verletzte sich beim Sturz vom Dach die Schulter. Der 58-Jährige stellt sich als einstiger Musterschüler Rinaudos heraus: Er ließ auf seinen Feldern Hunderte an Akazien sprießen und machte aus ihren Kernen Kaffee. Seinen Röstbetrieb habe er inzwischen allerdings eingestellt, erzählt Idi: Sein Sieb sei kaputtgegangen. »Ach, Unsinn!«, protestiert Rinaudo: Ein neues Sieb könne höchstens ein paar Euro kosten. Dann sei er eben zu faul gewesen, würgt der Farmer weitere Nachfragen ab – offensichtlich sucht der Vater von 13 Kindern (von denen sechs bereits gestorben sind) einer substanziellen Unterhaltung aus dem Weg zu gehen. Um herauszufinden, was in dem Dorf tatsächlich vor sich geht, würde er sehr viel mehr Zeit brauchen, als ihm jetzt zur Verfügung stehe, sagt Rinaudo. Festzuhalten ist zumindest, dass sich nicht alle Probleme einer Dorfgemeinschaft mit Bäumen lösen lassen.

Von allen besuchten Dörfern macht Tambara Sofoua den besten Eindruck: Hier hat die Bevölkerung sogar eine Bürgerwehr zum Schutz vor Baumdieben auf die Beine gestellt. Ein von der Hilfsorganisation World Vision bezahlter Fachmann ist außerdem damit beschäftigt, die unter dem sperrigen Begriff »Farmer Management Natural Regeneration« (FMNR) bekannt gewordene Methode Rinaudos noch zu verfeinern: Derzeit zeigt er den Kleinbauern, wie man anderen Bäumen die Triebe eines Ziziphus mauritania aufpfropft. Denn dessen Frucht, der »Pomme de Sahel« oder Sahel-Apfel, lässt sich auf dem Markt für gutes Geld verkaufen. Während seiner Zeit in Maradi experimentierte Rinaudo auch mit der Einführung nicht einheimischer Bäume. Wegen ihres schnellen Wachstums, ihrer Resistenz gegen die Dürre und den nährstoffreichen Kernen hatte es ihm vor allem die australische Acacia colei angetan, die bereits von der nigrischen Regierung ins Land geholt worden waren. Mit deren Kernen erzielten Kleinbauern beachtliche Erfolge: Baro Yacouba aus Kumbulla begeisterte seine Nachbarn mit Akazien-Spaghetti und Akazien-Pfannkuchen. Rinaudo redet über das Thema allerdings nicht gerne: Denn unter einigen Wissenschaftlern stieß sein Baumimport auf scharfe Kritik. In fremder Umgebung hätten Bäume grundsätzlich nichts zu suchen, meinten die Bio-Fundamentalisten: Der »biologische Imperialismus« habe bisher nur Unheil angerichtet. Rinaudo ist die ideologische Debatte ein Graus. Es gebe keine »guten« oder »schlechten« Bäume, meint der Agronom: »Es kommt ausschließlich darauf an, wie man sie einsetzt und behandelt.«

Seen in der Wüste

Auf der Rückfahrt nach Maradi ziehen dunkle Wolken auf. Wenig später fängt es zu schütten an – und das noch vor der eigentlichen Regenzeit, die sich gewöhnlich eher zaghaft ankündigt. Einen derartigen Wolkenbruch habe er im Niger noch nie erlebt, schwärmt Rinaudo, während sich die Halbwüste um uns herum in eine Seenlandschaft verwandelt. Damals sei höchstens nachts Regen gefallen, fährt der Agrarexperte fort: Tagsüber sei es für Niederschläge vermutlich »zu heiß« gewesen, die vom hellen Sand reflektierte Hitze habe womöglich die Wolken vertrieben. Rinaudo ist überzeugt davon, dass sich der vermehrte Baumbestand auch auf das Mikroklima auswirkt. Er habe schon oft beobachtet, wie sich Wolken über erhitzten freien Flächen verziehen, während sie über kühleren Waldstücken abregnen. Noch steckt die mikroklimatische Forschung in den Kinderschuhen: Doch dass Bäume den Niederschlag beeinflussen, scheint inzwischen weithin anerkannt zu sein.