Rassismus

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Robert Miles

Rassismus

Einführung in die Geschichte und Theorie eines Begriffs

Deutsch von Michael Haupt


Titel der englischen Originalausgabe:

Racism

© 1989 by Robert Miles

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Neuausgabe mit leicht geändertem Satzbild,

Paginierung gegenüber früheren Ausgaben geringfügig abweichend

Alle Rechte der deutschen Fassung vorbehalten

© Argument Verlag 1991

Glashüttenstraße 28, 20357 Hamburg

Telefon 040/4018000 – Fax 040/40180020

www.argument.de

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018

ISBN 978-3-86754-860-1

Vierte Auflage 2014

Inhalt

Danksagungen

Zuallererst gilt mein Dank den Kolleginnen und Kollegen aus der Forschungsgruppe Migration und Rassismus im Fachbereich Soziologie der Universität Glasgow für ihre Kommentare und kritischen Bemerkungen zu früheren Versionen dieses Buches. Bruce Armstrong, Paula Cleary, Anne Dunlop, Jackie Lamont, Diana Kay, Nello Paoletti, Vic Satzewich und Edelweisse Thornley haben alle zu einer überaus ertragreichen Reihe von Forschungsseminaren während des Jahres 1987 beigetragen, in deren Verlauf sie meine Aufmerksamkeit nur allzu oft auf mein Unwissen und meine fehlerhafte Logik lenkten.

Zum Zweiten resultieren einige der hier dargelegten Auffassungen aus meiner fortgesetzten Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen in anderen Teilen Europas. Insbesondere möchte ich Frank Bovenkerk, Kristin Couper, Moustapha Diop, Han Entzinger, Marjan van Hunnik, Francien Keers, Marel Rietman, Daniel Singer, Jeanne Singer-Kerel und Gilles Verbunt für ihre intellektuellen Anregungen, ihre Gastfreundschaft und ihren beträchtlichen Sinn für Humor danken.

Zum Dritten habe ich aus den Kommentaren und Ratschlägen von David Frisby (Universität Glasgow) und Marie de Lepervanche (Universität Sidney) beträchtlichen Gewinn gezogen, obwohl sie dies vielleicht nicht erkennen werden.

Zum Vierten bedanke ich mich für die finanzielle Unterstützung seitens des British Council, des Carnegie Trust for the Universities of Scotland, der EG und der Universität Glasgow. Diese Institutionen haben es mir durch verschiedene Forschungssemester und Stipendien in den letzten Jahren ermöglicht, ein weit gespanntes Programm von Forschungs- und Lehraktivitäten in Europa durchzuführen, das in vielerlei Hinsicht zur Abfassung dieses Buches beigetragen hat.

Selbstverständlich liegt die Verantwortung für das, was Sie hier lesen werden, ausschließlich bei mir.


Glasgow Robert Miles

Einleitung

Wie viele andere soziologische Begriffe wird der des Rassismus im Alltag verwendet und hat viele alltägliche Bedeutungen. Hier wie in der soziologischen Theorie ist er zu einem Schlüsselbegriff geworden. Und wie andere Bestandteile dessen, was Gramsci »Alltagsverstand« oder »gesunden Menschenverstand« genannt hat (1971: 323-33), sind viele der alltäglichen Verwendungsweisen unkritisch. Aber eine Besonderheit des Begriffs liegt darin, dass er sehr stark negativ besetzt ist. Zu behaupten, jemand habe eine rassistische Ansicht geäußert, heißt mithin, sie als unmoralisch und unwürdig anzuprangern. All dies bringt für den Sozialwissenschaftler, der die Verwendung des Begriffes zu verteidigen sich anschickt, bestimmte Schwierigkeiten mit sich. Jede in Anschlag gebrachte Definition ist nicht nur für den Rahmen und die Richtung der theoretischen Arbeit von Bedeutung, sondern gleichermaßen für die umfassendere politische Diskussion, was aus dem Streit zwischen Banton und Rex Ende der sechziger Jahre erhellt, bei dem es zum Teil darum ging, ob bestimmte Äußerungen des britischen Parlamentariers Enoch Powell als rassistisch bezeichnet werden könnten (Banton 1970, Rex 1970). Eine ähnliche Diskussion gab es Mitte der achtziger Jahre in Australien (Liffman 1985, Cope und Kalantzis 1985). Bevor wir diesen Gesichtspunkt weiter erörtern, ist es mithin von besonderer Wichtigkeit, die Zielvorstellungen, die Begrenzungen und die Struktur dieses Buches deutlich zu machen.

Zielvorstellungen, Begrenzungen und Struktur

Die grundlegende Zielvorstellung besteht darin, die weitere Verwendung des Begriffs »Rassismus« in der soziologischen Analyse exemplarisch zu verteidigen. Einige Autoren haben aus den wechselnden und unterschiedlichen Verwendungsweisen des Begriffs den Schluss gezogen, dass es unmöglich geworden sei, ihm innerhalb des theoretischen Diskurses einen Ort zuzuweisen (Banton 1977: 156-72), während andere den Begriff verwenden, ohne dass sie ihn zu definieren versuchen (CCCS 1984). Meine Zielvorstellung erfordert einen historischen Überblick über den Ursprung von Darstellungsweisen des Anderen und die Verwendung des Rassismus-Begriffs ebenso wie eine kritische Bewertung neuerer Versuche, ihn theoretisch zu erfassen. Dies ist die Aufgabe der ersten beiden Kapitel. In der zweiten Hälfte des Buches werde ich, vor dem Hintergrund der Kritik an aktuellen Arbeiten zum Thema, eine Argumentation entwickeln, mit deren Hilfe die weitere Verwendung des Begriffs in der soziologischen Analyse gerechtfertigt und veranschaulicht werden soll.

Die hier dargelegte Analyse ist gleichermaßen geographisch wie historisch begrenzt. Von bestimmten Ausnahmen abgesehen, beschränkt sich die historische Analyse auf den (an sich schon recht ehrgeizigen) Zeitraum vom fünfzehnten bis zum zwanzigsten Jahrhundert, in dem sich die Vorherrschaft der kapitalistischen Produktionsweise entfaltet. Der historischen Begrenzung füge ich die räumliche hinzu, indem ich mich vorwiegend mit dem Rassismus in der »westlichen Welt« beschäftige. Dies ergibt sich aus der Tatsache, dass das bestehende kapitalistische Weltsystem seinen Ursprung zum Teil in den seit dem fünfzehnten Jahrhundert expandierenden Handelsbestrebungen des westeuropäischen Kaufmannskapitals besitzt (Marx, MEW 25: 335-349, Wallerstein 1974, Fox-Genovese und Genovese 1983). Dadurch wurde der Weg frei für koloniale Siedlungs- und Herrschaftsformen, und in der Folge wurden verschiedene Teile der Welt in ein sich entfaltendes kapitalistisches System eingebunden, dessen Zentrum bis zum frühen zwanzigsten Jahrhundert in Europa, und dort vor allem in Großbritannien lag. Von daher bestimmt die Geschichte des britischen Kolonialismus in einem bedeutsamen Ausmaß die geographischen Parameter der darauf folgenden Entwicklung. Zu diesen Parametern gehören Westeuropa, Nordamerika, Teile Afrikas und der Karibik, der indische Subkontinent und Australasien.

Aus diesen Begrenzungen ergibt sich eine bestimmte Form der historischen, wechselseitigen Beziehung zwischen der Entstehung und Entwicklung des Kapitalismus einerseits und dem Rassismus andererseits. Tatsächlich kann eine solche wechselseitige Beziehung, eine Korrelation, hergestellt werden, obwohl sie, wie man in der Statistik weiß, nicht schon an sich einen Maßstab für kausale Abhängigkeiten bildet. Die Eigenart der Verknüpfung zwischen Kapitalismus und Rassismus wird anderenorts in diesem Buch diskutiert.

Zu Beginn werde ich die historische Genese europäischer Diskurse über den Anderen darstellen. Dieser Teil ist seinem Gehalt nach vorwiegend deskriptiv (das analytische Problem der Definition bleibt dem zweiten Kapitel vorbehalten); er geht der Frage nach, auf welche Weise Nichteuropäer in der vorkapitalistischen Epoche charakterisiert wurden und gibt dann einen Überblick über die sich verändernden Wahrnehmungsformen, die das Wachstum des Industrie- und Handelskapitals begleiteten. Einen wichtigen Übergang markiert die allmählich sich entfaltende »Rassen«-Idee, der später ein biologischer Gehalt zugeschrieben und in deren Gefolge eine biologische Hierarchie »wissenschaftlich« legitimiert wurde. Obwohl die Wissenschaft in neuerer Zeit die Unrichtigkeit dieser Argumente herausgestellt hat, bleibt die Idee der »Rasse« davon unberührt und einige »Wissenschaftler« behaupten weiterhin, sie könne mit einer biologischen oder genetischen Substanz unterfüttert werden. In jüngster Zeit haben Politiker »rassischen Unterschieden« eine »naturgegebene« Realität zugesprochen.

Im zweiten Kapitel wende ich mich dem analytischen Problem der Definition zu. Ich diskutiere es zum Teil vor dem Hintergrund der vorangegangenen historischen Materialien, zum Teil vor dem Hintergrund neuerer theoretischer Argumentationen, welche die konzeptuelle und explanatorische Reichweite des Begriffs auf verschiedene Weise vergrößert haben. Das wesentliche Merkmal dieser späteren Entwicklung liegt darin, dass der Begriff des Rassismus in seiner Verwendung nicht nur auf bildliche Vorstellungen und Behauptungen verwies, sondern auch auf Praxisformen, Verfahrensweisen und Ergebnisse, die von menschlichen Intentionen und einem bestimmten ideologischen Gehalt oftmals unabhängig sind. Meine Argumentation zielt darauf, dass diese begriffliche Überdehnung mehr Probleme aufwirft als löst, und dass der Begriff des Rassismus nur verwendet werden sollte, um das zu bezeichnen, was man im weitesten Sinne eine Ideologie nennen könnte. In diesem Zusammenhang werde ich mich mit den Schwierigkeiten auseinandersetzen, die Parameter einer solchen Ideologie zu bestimmen.

 

Nachdem ich den Rassismus begrifflich gekennzeichnet habe, untersuche ich im dritten Kapitel, auf welche Weise der Rassismus als ein Prozess der Konstruktion von Bedeutungen (signification) verstanden werden kann. Für mich besteht die »Funktionsweise« des Rassismus darin, dass bestimmten phänotypischen und/oder genetischen Eigenschaften von Menschen Bedeutungen dergestalt zugeschrieben werden, dass daraus ein System von Kategorisierungen entsteht, wobei den unter diese Kategorien subsumierten Menschen zusätzliche (negativ bewertete) Eigenschaften zugeordnet werden.

Das Ziel des vierten Kapitels besteht darin, den Rassismus als einen Prozess der Bedeutungskonstruktion innerhalb bestimmter Kontexte zu untersuchen. Die besonderen Eigenschaften einer Gruppe, die von einem mit Bedeutung aufgeladenen physischen Merkmal abgeleitet sind, spielen eine wichtige Rolle für die Zuweisung von Individuen zu bestimmten wirtschaftlichen Positionen wie auch für die Verweigerung von gewissen ökonomischen Gratifikationen und politischen Rechten. Ich untersuche, wie diese Prozesse der Allokation und Ausgrenzung in einer Reihe unterschiedlicher historischer Kontexte sich verändern und eine Dimension der Geschichtlichkeit kapitalistischer Entwicklung ausmachen.

Rassismus als politische Frage

Dieses theoretische Vorhaben rechtfertigt die Herstellung von kontextuellen Beziehungen. In der westlichen Welt des späten zwanzigsten Jahrhunderts gibt es nur kleine Minderheiten, die sich selbst aus freien Stücken und mit positiver Haltung als Rassisten bezeichnen. Es besteht ein offizieller Konsens darüber, dass diejenigen, die rassistische Überzeugungen äußern und/oder in Übereinstimmung mit solchen Überzeugungen handeln, deswegen verurteilt werden müssen, weil derlei Überzeugungen wissenschaftlich diskreditiert sind und zu moralisch unannehmbaren Verhaltensweisen führen. Dieser Konsens gründet in einer Reihe von geschichtlichen Ereignissen, die in der Öffentlichkeit weithin bekannt sind: so etwa der Sklavenhandel, der vom sechzehnten bis zum neunzehnten Jahrhundert in einigen europäischen Nationalstaaten vom Handelskapital organisiert wurde; der unter der faschistischen Regierung in Deutschland zwischen 1933 und 1945 durchgeführte Mord an Millionen von Juden; die in den Vereinigten Staaten vom späten neunzehnten bis zu den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts praktizierte Rassentrennung; die Einführung und Aufrechterhaltung der Apartheid in Südafrika. Alle diese Ereignisse haben zum Tod ungezählter Menschen geführt und sind – in unterschiedlichem Maße – durch den Rassismus legitimiert worden.

Es ist durchaus möglich, dass dieser Konsens in Westeuropa (und anderenorts) seit den siebziger Jahren in Auflösung begriffen ist. In nationalen und übernationalen Parlamenten sind politische Parteien vertreten, deren Forderungen und deren politisches Handeln Parallelen zu faschistischen Gruppierungen der dreißiger Jahre aufweisen (vgl. etwa Husbands 1981, Ogden 1987). Desgleichen lässt sich eine Zunahme an Gewalt gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen in Westeuropa beobachten, die oftmals mit der Behauptung gerechtfertigt wird, die Opfer seien auf die eine oder andere Weise minderwertig (EEC 1986). Doch haben sich diese expliziten Äußerungsformen von Rassismus nicht im luftleeren Raum vollzogen. Obwohl sie offiziell gegen den Rassismus Stellung bezogen, haben viele Organisationen und Institutionen, einschließlich des Staates selbst, Bevölkerungsminderheiten aktiv und passiv diskriminiert. Und eben diese Minderheiten waren, was niedrig bezahlte körperliche Arbeit, Arbeitslosigkeit und mangelhafte Wohnverhältnisse angeht, überrepräsentiert. Der Verdacht liegt nahe, dass dies seinen Grund in weit verbreiteten Ausgrenzungspraktiken findet, die rassistisch motiviert oder gerechtfertigt werden.

Ferner haben sich in den Bevölkerungsteilen, die zur Zielscheibe rassistischer Agitation und Ausgrenzung geworden sind, Gruppen gebildet, die die Konsequenzen des Rassismus anprangern und den Widerstand dagegen organisieren (vgl. etwa Altarf 1984). Sie haben auf den Widerspruch zwischen offiziellem Konsens und tatsächlicher Praxis hingewiesen und eine herausragende Rolle dabei gespielt, das Problem des Rassismus auf die politische Tagesordnung zu setzen. Sie wurden unterstützt durch andere Teile der Bevölkerung in Westeuropa, die nicht nur über den Aufstieg faschistischer Parteien und die Zunahme rassistisch motivierter Gewalt, sondern auch über andere, weniger offensichtliche Äußerungsformen des Rassismus besorgt sind. Zusammengenommen bilden sie im weiteren Sinne eine anti-rassistische Bewegung, wobei es allerdings zwischen den in diesem Kampf zusammengeschlossenen Gruppen oftmals beträchtliche Differenzen und Auseinandersetzungen über Mittel und Ziele gibt. Historisches Erbe und zeitgenössische politische Praxis wirken zusammen, um die öffentliche Aufmerksamkeit auf die diskriminierende Benachteiligung bestimmter Menschengruppen zu lenken. So werden die Bevölkerungen moralisch und politisch aufgerufen, sich am anti-rassistischen Kampf aktiv zu beteiligen, um zu verhindern, dass Ereignisse wie der Holocaust sich je wiederholen, und um politische und wirtschaftliche Benachteiligungen abzubauen.

Der Rassismus ist zum Gegenstand politischer und ideologischer Kämpfe geworden. In diesem Zusammenhang wird aus der einen oder anderen Ecke das Argument laut werden, die Abfassung einer weiteren theoretischen Arbeit sei eine Aufgabe von vergleichsweise geringfügiger Wichtigkeit, wo es so viele andere, praktischere Ziele zu verwirklichen gelte. Damit macht man es sich allerdings zu einfach. Einerseits nämlich gibt es in den Bildungs- und Erziehungsinstitutionen Menschen, die gerne etwas über das Wesen und den Ursprung des Rassismus lernen möchten, andererseits können auch die Behauptungen und Zielvorstellungen der in gewisser Weise amorphen anti-rassistischen Bewegungen nicht unhinterfragt bleiben, wenn über das Untier, das es niederzuringen gilt, ungerechtfertigte Thesen aufgestellt werden. Ungezählte Male ist in Bezug auf die Einheit von Theorie und Praxis hervorgehoben worden, dass die politische Strategie ihre intendierten Ziele kaum erreichen kann, wenn die zu Grunde liegende Analyse falsch ist. Von daher sehe ich keinen Grund, mich für dies Produkt der »Stubengelehrsamkeit« zu entschuldigen. Die Kämpfe, die stattgefunden haben, sind mir, ihrer Art und ihrem Verlauf nach nicht verborgen geblieben, und eben sowenig übersehe ich die Notwendigkeit zu erkennen, dass der akademische Mensch Mitglied verschiedener sozialer Gemeinschaften ist, mit allen daraus sich ergebenden Verantwortlichkeiten. Dies Buch soll – ohne Entschuldigung und Vorbehalt – Ausdruck meiner engagierten Gegnerschaft zum Rassismus sein.

Eine solche Behauptung könnte in wenigstens zweierlei Hinsicht hinterfragt werden. Zunächst werden viele, darunter auch die, die sich rassistisch äußern, dieses ausdrücklich bekundete Engagement als Zeichen politischer Voreingenommenheit betrachten. Doch sind, wie ich auf den nächsten Seiten zeigen werde, die Behauptungen der Rassisten nach und nach von der Beweiskraft der Wissenschaften widerlegt worden. Tatsächlich gibt es eine ganze Reihe von berüchtigten Fällen, anhand derer nachgewiesen werden konnte, dass die Befürworter des Rassismus ihr Beweismaterial bewusst oder unbewusst gefälscht haben, um »wissenschaftliche« Absicherung für ihre Argumente in Anspruch zu nehmen (Gould 1984). Doch selbst wenn es wahr wäre, dass die Weltbevölkerung sich dauerhaft nach Maßgabe irgendeiner biologischen Hierarchie gliederte, bliebe die politische Anklage gegen die ungleiche Behandlung der Menschen, die das ihnen allen gemeinsame Wesen negiert, davon unberührt. Das Menschenrecht, unter wirtschaftlichen und politischen Bedingungen zu leben, die die ungeschmälerte Verwirklichung aller Fähigkeiten und Möglichkeiten gestattet, sollte keine Ausnahme kennen. Doch auf den Sklavenschiffen und den Plantagen, in den Konzentrations- und Todeslagern, im System der Arbeitsmigration und der Reservate, und überall dort, wo mit Hilfe des Gesetzes bestimmte Bevölkerungsgruppen diskriminiert und benachteiligt werden, wird dieses Menschenrecht verletzt. Dieses bürgerliche Recht hat es verdient, verteidigt zu werden, wobei die Frage nicht vernachlässigt werden darf, in welchem Ausmaß dies Recht im Rahmen einer kapitalistischen Gesellschaft voll und ganz verwirklicht werden kann.

Der zweite Einwand wird von denen kommen, die der Auffassung sind, Rassismus sei eine »schwarze« Erfahrung, die zu verstehen »weiße« Menschen unfähig seien. Diese Ansicht wird oft mit der Behauptung verteidigt, dass der Rassismus ausschließliches Produkt und Wesensmerkmal europäischer »weißer« Kulturen und Gesellschaften ist, und dass von daher alle, die diesen Kulturen und Gesellschaften angehören, notwendigerweise rassistisch belastet sind. Daraus folgt, dass die »Weißen« selbst Ursprung oder Ursache des Problems sind und ihnen von daher die Fähigkeit abgeht, den Rassismus verstehen, analysieren und erklären zu können. Des Weiteren könnte das Argument vertreten werden, dass gerade die »weiße« Beteiligung an der Bloßstellung und Bekämpfung des Rassismus ein Beweis mehr für eine rassistische und kolonisierende Einstellung ist, weil diese Haltung den eigentlichen Opfern keinen Raum für eigenständiges, autonomes Handeln lässt. Diese Argumente werden eher im politischen als im akademischen Bereich vorgebracht, wiewohl hier Echos des Ersteren widerhallen. Offensichtlich wird dies etwa in Bezug auf die problematische Kategorie einer »weißen Soziologie« (CCCS 1984: 133f.).

Zumindest in ihrer »harten« Version kann ich diese Argumente nicht akzeptieren. Wie ich weiter unten noch erläutere, ist es ein Fehler, die Parameter des Rassismus durch Verweis auf die Hautfarbe zu begrenzen. Immerhin sind verschiedene »weiße« Gruppen Objekte des Rassismus gewesen und rassistische Äußerungsformen nicht auf »weiße« Menschen begrenzt. So können ohne Zweifel viele Bekundungen des »schwarzen« amerikanischen »Black Muslim«-Führers Louis Farrakhan als rassistisch beschrieben werden (vgl. Searchlight, März 1986 und September 1987).

Von größerer Bedeutung aber ist die Vorstellung, »Erfahrung« sei das ausschlaggebende Moment bei der Fähigkeit, erforschen, lernen und erkennen zu können. Wird dies Argument in seiner »harten« Version interpretiert, so muss es aus einem logischen Grund heraus scheitern: wenn nämlich Rassismus ein Vorrecht »weißer« Menschen, ein ausschließliches Produkt ihrer Praxis und Erfahrung ist, so ließe sich behaupten, dass nur »weiße« Menschen die Motive und den Ursprung des Rassismus zu begreifen in der Lage sind. Mehr noch, wenn Erfahrung das letztlich ausschlaggebende Moment dessen ist, was erkannt und erklärt werden kann, so werden Untersuchungen über das Ausmaß diskriminatorischer Praktiken in gravierender Weise eingeschränkt. In britischen Studien zu diesem Thema ist festgestellt worden, dass Menschen karibischer und asiatischer Herkunft in Großbritannien weniger häufig die Erfahrung der Diskriminierung machen, als Methoden experimenteller Forschung (in denen man zum Beispiel die Reaktion von Arbeitgebern auf von Schauspielern dargestellte schwarze und weiße Stellenbewerber testet) dies vermuten lassen (Smith 1977: 127-40). Wenn also, mit anderen Worten, die »schwarze« Erfahrung in Großbritannien als einzig signifikanter Maßstab der Realität genommen wird, so wird mit einem solchen Kriterium das Ausmaß der Diskriminierungsformen gewaltig unterschätzt.

Es ist zum Beispiel wahr, dass die Erfahrung von Menschen karibischer und asiatischer Herkunft sich oftmals insoweit von der der »eingeborenen« Bevölkerung unterscheidet, wie Teile der Letzteren sich rassistischer Äußerungsformen bedienen und Diskriminierung betreiben. Desgleichen kann die Übernahme von rassistischen und kolonialen Vorstellungswelten den Raum einschränken, innerhalb dessen Mitglieder der »eingeborenen« Bevölkerung dem Rassismus Widerstand entgegensetzen. Der Fehler liegt in der Annahme, dass die Erfahrung der karibischen und asiatischen Bevölkerung sich in allen Lebensbereichen von der der eingeborenen Bevölkerung unterscheidet und dass alle Mitglieder der eingeborenen Bevölkerung sich dem Rassismus nicht oder nur eingeschränkt entgegenstellen. Das ist falsch, weil solche Unterstellungen auf der Grundlage einer rein kontextgebundenen Stichprobe eine gesellschaftlich konstruierte Kategorie unzulässigerweise verallgemeinern. Zudem leugnen sie eine relative Objektivität, um einer absoluten Subjektivität Vorschub zu leisten.

 

Obwohl (oder besser: weil) also die Erfahrung vieler »weißer« Menschen im Vergleich zu »schwarzen« Menschen begrenzt ist, gibt es doch nicht so etwas wie eine einzige Wahrheit über den Rassismus, die nur Letzteren zugänglich wäre. An einer solchen Auffassung festzuhalten hieße tatsächlich, die »weißen« Menschen zu einem universellen Wesensmerkmal zu verdammen, ihnen folglich den Besitz einer dauerhaften Charaktereigenschaft zuzuschreiben, die sie unvermeidlicherweise von anderen Menschen abhebt. Wie Said mit einer gewissen Untertreibung bemerkt, ist »die Vorstellung, dass es geographische Räume mit eingeborenen, radikal ›unterschiedlichen‹ Einwohnern gibt, die auf der Grundlage irgendeiner diesem geographischen Raum eigenen Religion, Kultur, oder rassischen Wesensart definiert werden können, […] eine fragwürdige Idee« (Said 1985: 322). Wenn man von der Vorstellung ausgeht, dass Wahrheit relativ und konsensuell ist (wobei Letzteres den Gebrauch von wiederhol- und verifizierbaren Forschungsmethoden einschließt), und dass die Behauptungen, die man vorbringt, sich als falsch erweisen können, so gibt es keinen Grund zu der Annahme, die eigene Hautfarbe würde einen natürlicheroder unvermeidlicher Weise daran hindern, einen Beitrag zum Verständnis des Rassismus zu leisten.

In die politische Auseinandersetzung um den Begriff und um das Ausmaß des Rassismus hat sich seit einiger Zeit auch die Neue Rechte eingeschaltet. Die Motive und Absichten dieser politischen Bewegung haben für unseren Zusammenhang nur eine beschränkte Bedeutung und sind anderenorts kritisch diskutiert worden (Levitas 1986, Gordon und Klug 1986). Was den Rassismus angeht, so entspringt ihre Intervention einer Besorgnis über die beobachteten Folgen anti-rassistischer Initiativen in Großbritannien, wobei die von Palmer (1986) herausgegebene Essaysammlung sich insbesondere auf das britische Bildungs- und Erziehungssystem konzentriert. Er und seine Kollegen werden offensichtlich von dreierlei Sorgen geplagt. Zunächst gilt der Rassismus nunmehr als eine hegemoniale Ideologie und Praxis (Palmer 1986: 1f.) und von der »Lobby für ›Rassenbeziehungen‹« wird gesagt, sie sei »die mächtigste Interessengruppe, die wir im Augenblick überhaupt haben« (Honeyford 1986: 44). Zweitens wird behauptet, dass der Anti-Rassismus »die Herstellung harmonischer Beziehungen zwischen den Gemeinschaften erschwert«, weil er »bei den ethnischen Minderheiten wie auch der eingeborenen Bevölkerung Ablehnung und Argwohn« befördert (Levy 1986: 120f.). Und schließlich heißt es, der Anti-Rassismus würde es verabsäumen, das zur Verfügung stehende Beweismaterial vollständig zu untersuchen, und somit seine Behauptungen ohne ausreichende Absicherung durch Tatsachen vortragen (Marks 1986: 38). In einem Aufsatz wird sogar behauptet: »Man kann es nur als politisch ungesund bezeichnen, wenn ein Großteil der Literatur über Rassenbeziehungen in Großbritannien so verzerrt ist, dass es der systematischen Lüge nahe kommt« (O’Keeffe 1986: 195).

Diese Verpflichtung auf vollständige Würdigung des Beweismaterials vorausgesetzt, erweist sich der von Palmer edierte Sammelband als grundlegend verfehlt, weil alle diese Bedenken nirgendwo durch Tatsachen untermauert werden. Darüber hinaus richten sie sich nicht gegen den Anti-Rassismus als solchen. Vielmehr ist der eigentliche Feind der Marxismus, da behauptet wird, anti-rassistische Initiativen würden sich direkt oder indirekt auf – selbstverständlich von vornherein falsche und unannehmbare – marxistische Analysen stützen (Palmer 1986: passim; vgl. etwa Flex 1986: 18f., Honeyford 1986: 55). In Wahrheit muss eher bezweifelt werden, ob sehr viel von der Literatur, die unter dem Banner des Anti-Rassismus erscheint, die Bezeichnung »Marxismus« verdient hat, weil dieser oftmals als eurozentrisch (Sivanandan 1982; Robinson 1983) oder als veraltet (Gilroy 1987: 18f., 245) dargestellt wird.

Dennoch ist Palmers Buch für unseren Zusammenhang von einigem Interesse, weil es in der Literatur, die eine ausdrücklich anti-rassistische Perspektive entwickelt, zwei zentrale Schwachpunkte richtig benennt und seinen Gewinn daraus zieht. Das heißt natürlich nicht, dass man den Schlussfolgerungen, die die einzelnen Beiträge ziehen, zustimmen muss.

Zunächst richtet sich eine Reihe von Aufsätzen gegen die zunehmende Tendenz, den Rassismus-Begriff in einer lockeren und oftmals undefinierten Weise zu verwenden (vgl. etwa Flew 1986); das ist ein Einwand, dem ich zustimme. Allerdings findet sich in Palmers Buch nicht ein einziger Beitrag, der einen ernstzunehmenden Überblick über die Entwicklung des Begriffs oder seine gegenwärtige Verwendung in der wissenschaftlichen Literatur böte. In dieser Hinsicht geht die Qualität der Kritik über polemische und politisch motivierte Sophisterei nicht hinaus.

Nur wenige von Palmers Autorinnen und Autoren versuchen zu bestreiten, dass es so etwas wie Rassismus (oder, wie sie manchmal sagen, Vorurteile) in Großbritannien gibt, und nicht einer von ihnen möchte sich als Rassist bezeichnen oder explizit rassistische Behauptungen vorbringen. Man gibt sich jedoch einige Mühe, Argumente und Praktiken zu rechtfertigen, die andere als rassistisch definieren würden. Honeyford behauptet, die »Vorliebe für die je eigene Art« sei »eine universelle Neigung« (1986: 52). O’Keeffe geht gleichermaßen davon aus, dass »Vorliebe kein Vorurteil ist« und findet nichts Anstößiges darin, »bei der Heirat Menschen der eigenen Rasse« den Vorzug zu geben (1986: 190). Diese Behauptung klingt unverfänglich, obwohl man durch das Fehlen jeglichen Beweismaterials für ihre Untermauerung ihres problematischen Charakters gewahr wird. An und für sich genommen ist die Behauptung, es sei »natürlich«, »die je eigene Art« zu bevorzugen, nicht rassistisch, wenngleich es Gründe gibt, ihre Richtigkeit zu bezweifeln. Aber es handelt sich hier um die ausdrückliche Rechtfertigung eines Eingrenzungs- und damit zugleich eines Ausgrenzungsprozesses. Bevorzugen heißt, Gegenständen, Personen oder Gruppen einen Rang zuzuweisen, eine Bewertung vorzunehmen, wodurch notwendigerweise andere Gegenstände, Personen oder Gruppen ausgeschlossen werden. Worauf es im Zusammenhang der Rassismusdiskussion ankommt, sind die Kriterien, mittels derer »die je eigene Art« und damit die Anderen kategorisiert und von daher zugleich ein- und ausgegrenzt werden, nicht zu vergessen die Erklärung, die für solche Ein- und Ausgrenzungen angeboten wird.

O’Keeffe enthüllt die problematischen Konsequenzen, die das Argument der Vorliebe für die je eigene Art mit sich bringt, wenn er zur »Frage der Einwanderung nicht-weißer Personen« erklärt, es sei »absurd zu leugnen, dass eine etablierte Gemeinschaft das Recht besitzt, ihre wesenhafte Identität zu bestimmen und zu verteidigen. Gegenwärtig schließt diese wesenhafte Identität das weiß -Sein mit ein« (O’Keeffe 1986: 191). Sehr wahrscheinlich wird damit eine Einwanderungspolitik gerechtfertigt, deren Ziel es ist, Angehörige »nicht-weißer Rassen« daran zu hindern, in Großbritannien ansässig zu werden, weil ihre Gegenwart die unangenehme Konsequenz hätte, diese mutmaßliche »weiße Identität« zu zerstören. Vor dem Hintergrund der weiter unten entwickelten Definition handelt es sich dabei zweifellos um ein rassistisches Argument: O’Keeffe verwendet somatische oder phänotypische Kriterien, um verschiedene Bevölkerungen nach Kategorien zu sortieren. Dabei misst er der Anwesenheit »nicht-weißer« Menschen in Großbritannien negativ bewertete Folgen zu, um ihre Ausgrenzung durch ein Einwanderungsgesetz zu rechtfertigen, das der Bevorzugung »weißer« Menschen dient.

Noch ein zweites Thema (das wir ebenfalls weiter unten erörtern) zieht sich wie ein roter Faden durch Palmers Buch. Verschiedene Autoren wenden sich gegen Argumente, die besagen, dass die statistisch aufweisbaren Benachteiligungen, denen Menschen karibischer und asiatischer Herkunft in Großbritannien ausgesetzt sind, als Folge des Rassismus gedeutet werden können (so etwa Marks 1986: 36). Zum Teil gehen die Einwände auf die Frage nach der Definition von Rassismus zurück. Zusätzlich jedoch wird eingewendet, a) dass statistische Korrelationen noch keinen Beweis für ein Kausalverhältnis darstellen, und b) dass eine statistisch gleiche Kategorisierung von Menschen karibischer und asiatischer Herkunft signifikante Unterschiede zwischen diesen Gruppen unsichtbar machen könnte. Logisch und empirisch sind beide Argumente gut begründet. Schlussfolgerungen der Art, dass der Rassismus zum Beispiel bei der Leistungsschwäche westindischer Kinder an englischen Schulen keine Rolle spielt, ziehe ich daraus jedoch nicht (vgl. Flew 1986: 20).