Das resiliente Gehirn

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Das resiliente Gehirn
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Rick Hanson mit Forrest Hanson

Das resiliente Gehirn

Rick Hanson

mit Forrest Hanson

Das resiliente Gehirn

Wie wir zu unerschütterlicher Gelassenheit, innerer Stärke und Glück finden können

Aus dem amerikanischen Englisch übertragen von Richard Reschika und Nadine Helm


Copyright © 2018 by Rick Hanson and Forrest Hanson

All rights reserved

© 2019 der deutschen Ausgabe: Arbor Verlag GmbH, Freiburg

This translation published by arrangement with Harmony Books, an imprint of the Crown Publishing Group, a division of Penguin Random House LLC, New York. harmonybooks.com

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel:

Resilient. How to Grow an Unshakable Core of Calm, Strength, and Happiness

Umschlaggestaltung:

Mediengenossen, nach einer Vorlage von Sarah Horgan Hergestellt von mediengenossen.de

E-Book-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2019

E-Book 2020

www.arbor-verlag.de

ISBN E-Book: 978-3-86781-299-3

Inhalt

Einleitung

Teil 1 Erkennen

Kapitel 1 Mitgefühl

Kapitel 2 Achtsamkeit

Kapitel 3 Lernen

Teil 2 Ressourcen bilden

Kapitel 4 Durchhaltevermögen

Kapitel 5 Dankbarkeit

Kapitel 6 Vertrauen

Teil 3 Regulieren

Kapitel 7 Ruhe

Kapitel 8 Motivation

Kapitel 9 Intimität

Teil 4 In Beziehung treten

Kapitel 10 Mut

Kapitel 11 Bestreben

Kapitel 12 Großzügigkeit

Weitere Quellen

Danksagung

Über die Autoren

Unseren Eltern

Einleitung

Mein beruflicher Weg begann beim Human Potential Movement in den 1970er-Jahren, und nun bin ich ein klinischer Psychologe mit einem starken Interesse an Neurowissenschaft und Achtsamkeitstraining. Dieses Buch fasst zusammen, was ich darüber gelernt habe, Menschen zu helfen, Wunden der Vergangenheit zu heilen, mit der Gegenwart umzugehen und eine bessere Zukunft zu schaffen.

In der Psychologie und Medizin gibt es die grundlegende Idee, dass der Verlauf, den unser Leben nimmt, lediglich von drei Ursachen abhängig ist: wie wir mit Herausforderungen umgehen, die sich uns stellen, wie wir unsere Verletzlichkeiten schützen, und wie wir unsere Ressourcen erweitern.

Diese Ursachen finden sich an drei Orten wieder: in Ihrer Welt, in Ihrem Körper und in Ihrem Geist. Wenn Sie die Ursachen und die Orte miteinander kombinieren, ergeben sich neun Wege, um Ihr Leben zu verbessern.

All diese Ursachen sind bedeutsam. Im eigenen Geist Ressourcen zu entwickeln, wohnt jedoch eine einzigartige Kraft inne.

Hier bietet sich uns der effektivste Ansatz, da wir für gewöhnlich mehr Einfluss auf unseren eigenen Geist ausüben können, als auf unseren Körper oder unsere Welt. Zudem zeigt sich hier die größte Wirkung, da wir unseren Geist auf all unseren Wegen stets mitnehmen. Wir können nicht immer auf die Welt, auf andere Menschen oder selbst auf unseren eigenen Körper zählen. Doch wir können auf dauerhafte innere Stärken zählen, die fest in unserem Nervensystem verankert sind – und dieses Buch handelt davon, wie man diese entwickelt.

Mentale Ressourcen wie Entschlossenheit, Selbstwertgefühl und Freundlichkeit sind das, was uns resilient macht: fähig, mit Widrigkeiten umzugehen und durch Herausforderungen neue Chancen zu verfolgen. Obwohl uns Resilienz dabei hilft, uns von Verlust und Trauma zu erholen, bietet sie viel mehr als das. Wahre Resilienz fördert das Wohlbefinden, ein grundlegendes Gefühl von Glück, Liebe und Frieden. Indem Sie Erfahrungen des Wohlbefindens internalisieren, bauen Sie bemerkenswerterweise innere Kräfte auf, die Sie wiederum resilienter machen. Wohlbefinden und Resilienz begünstigen einander in einer Aufwärtsspirale.

Der Schlüssel besteht darin, zu wissen, wie man vorübergehende Erfahrungen in dauerhafte, innere, Ihrem Gehirn eingebaute Ressourcen umwandelt. Dies ist positive Neuroplastizität, und ich werde Ihnen zeigen, wie Sie sie anwenden können, um ein resilientes Wohlbefinden zu entwickeln.

Das Gehirn verändern

Ihren Geist zum Besseren zu verändern bedeutet, Ihr Gehirn zum Besseren zu verändern. Das Gehirn formt sich fortwährend um, wenn Sie aus Erfahrungen lernen. Wenn Sie wiederholt einen „Schaltkreis“ in Ihrem Gehirn anregen, stärken Sie ihn. Sie lernen, ruhiger oder mitfühlender zu sein, genau so, wie Sie auch andere Dinge lernen: durch wiederholtes Üben.

Wir entwickeln mentale Ressourcen in zwei Stufen. Erstens müssen wir erleben, was wir entwickeln möchten, wie etwa uns dankbar, geliebt oder zuversichtlich fühlen. Zweitens – von entscheidender Bedeutung – müssen wir dieses vorübergehende Erleben, diese gemachte Erfahrung in eine beständige Veränderung im Nervensystem umwandeln. Andernfalls können sich Heilung, Entwicklung und Lernen nicht einstellen. Einfach nur nützliche, angenehme Erfahrungen zu machen reicht nicht aus. Dies ist die zentrale Schwachstelle der meisten Ansätze Positiver Psychologie, Human Resources Trainings, Coachings und Psychotherapie. Die meisten wohltuenden Erfahrungen, die Menschen machen, werden verschwendet, denn sie ziehen an ihren Gehirnen vorbei. Aber mit nur einer kleinen Anstrengung können Sie helfen, dass diese dauerhafte Spuren hinterlassen, und ich werde Ihnen viele wirkungsvolle Möglichkeiten aufzeigen, dies zu tun – die meisten davon im normalen Alltagsablauf.

Es mag sich kompliziert anhören, aber es ist tatsächlich einfach und ganz eingängig. Das Gehirn funktioniert so – mit Neuronen, die für gewöhnlich fünf bis fünfzig Mal pro Sekunde feuern –, können Sie Resilienz und Wohlbefinden viele Mal pro Tag entwickeln, indem Sie sich jedes Mal eine Minute oder sogar weniger Zeit nehmen. Dabei handelt es sich nicht um eine Sofortlösung. Sie müssen das Gehirn genauso beanspruchen, wie Sie einen Muskel beanspruchen, um ihn zum Besseren hin zu verändern: Viele kleine Anstrengungen summieren sich mit der Zeit. Sie können den Ergebnissen vertrauen, weil Sie sie sich verdient haben werden.

Den Weg beschreiten

Es ist ein Klischee, aber trotzdem wahr: Das Leben ist eine Reise. Entlang dieses langen Weges benötigen wir Vorräte und Werkzeuge, und ich habe die besten, die ich kenne, auf diesen Seiten angeführt. Wir werden erkunden, wie Sie diese inneren Kräfte entwickeln und anwenden können, um Ihre eigenen Bedürfnisse zu erfüllen. Und dann werden Sie anderen zur Erfüllung derer Bedürfnisse sogar noch mehr zu geben haben.

Wir alle haben Bedürfnisse. Wenn man ihnen nicht gerecht wird, ist es natürlich, sich gestresst, besorgt, frustriert, verletzt und weniger wohl zu fühlen. Indem Sie resilienter werden, sind Sie besser in der Lage, Ihre Bedürfnisse angesichts der Herausforderungen des Lebens zu befriedigen, und das Ergebnis ist ein größeres Wohlbefinden.

Jeder Mensch hat drei Grundbedürfnisse – Sicherheit, Zufriedenheit und Verbundenheit –, die in unserer alten Evolutionsgeschichte verankert sind. Obwohl unsere Lebensumstände sich im Laufe der letzten zweihunderttausend Jahre enorm verändert haben, sind unsere Gehirne weitgehend die gleichen geblieben. Die neuronale Ausrüstung, die unsere Vorfahren in die Lage versetzte, ihre Bedürfnisse nach Sicherheit zu befriedigen, indem sie Schutz fanden, Befriedigung durch die Beschaffung von Nahrung zu erleben und Verbundenheit durch den Aufbau einer Beziehung zu anderen zu erfahren, ist in unseren Gehirnen heute immer noch lebendig.

Wir befriedigen unsere Bedürfnisse auf vier wesentliche Arten und Weisen: indem wir erkennen, was wahr ist, indem wir Ressourcen entwickeln und stärken, indem wir Gedanken, Gefühle und Handlungen regulieren und indem wir uns geschickt mit anderen und der übrigen Welt verbinden und in Beziehung treten. Wenn wir diese vier Möglichkeiten anwenden, um unsere Bedürfnisse, bezogen auf die drei Grundbedürfnisse, die wir alle haben, zu befriedigen, ergeben sich zwölf innere Stärken, die die Kapitel dieses Buches bilden:


Sie können diese psychologischen Ressourcen Schritt für Schritt entwickeln, als würden Sie einen Weg beschreiten. Er beginnt mit Mitgefühl – zunächst für Sie selbst, da Ihre eigenen tiefen Bedürfnisse zu erkennen und etwas für sie tun zu wollen, der notwendige erste Schritt ist. Der Weg schließt mit Großzügigkeit ab, denn das Gute im Inneren zu entwickeln, stellt Ihnen mehr und mehr zur Verfügung, was Sie anderen geben können.

Indem Sie diese Stärken entwickeln und resilienter werden, werden Sie weniger Angst und Irritation, weniger Enttäuschung und Frustration und weniger Einsamkeit, Schmerz und Groll verspüren. Und wenn die Wellen des Lebens über Ihnen zusammenschlagen, werden Sie ihnen mit mehr Frieden, Zufriedenheit und Liebe aus der Mitte Ihres Seins heraus begegnen können.

Wie dieses Buch anzuwenden ist

Wir werden praktisch erforschen, Wie wir mentale Schlüsselressourcen für ein resilientes Wohlbefinden erleben, entwickeln und nutzen können. Sie werden nützliche Gedanken über das Gehirn, erfahrungsbezogene Übungen, Werkzeuge zur Entwicklung spezifischer Stärken, Vorschläge für das Alltagsleben und persönliche Beispiele kennenlernen. Unterschiedliche Dinge funktionieren bei unterschiedlichen Menschen und ich möchte Ihnen viele Optionen geben. Finden Sie heraus, was für Sie das Beste ist.

 

Sie können von diesem Buch auf verschiedene Art und Weise Gebrauch machen. Sie könnten über ein Jahr lang jeden Monat ein neues Kapitel für Ihr persönliches Wachstum erkunden. Oder Sie könnten sich ein Bedürfnis herausgreifen, das insbesondere für Sie selbst von Bedeutung ist, wie etwa Sicherheit, und sich auf die bezugnehmenden Kapitel konzentrieren. Die zwölf Stärken unterstützen einander wie die Knoten eines Netzes, die miteinander verbunden sind. Manche Stärken werden Ihnen besonders relevant erscheinen, und es ist in Ordnung, im Buch herumzublättern, um herauszufinden, was Sie am meisten anspricht. Kapitel 2, „Achtsamkeit“, und Kapitel 3, „Lernen“, behandeln grundlegende Prinzipien und Techniken, die das übrige Material untermauern. Wenn Sie auf eine praktische Übung stoßen, können Sie sie langsam lesen, während Sie sie ausführen, oder Sie können sie laut vorlesen und aufnehmen und sich dann die Aufnahme anhören, im Sinne einer geführten Meditation für Sie selbst.

Dieses Buch ist keine Psychotherapie oder Behandlung für irgendein Leiden. Trotzdem habe ich versucht, an den Nerv der Sache zu rühren, und das kann Dinge aufwirbeln. Seien Sie freundlich zu sich selbst, vor allem dann, wenn Sie die praktischen Übungen durchführen. Passen Sie meine Herangehensweise stets Ihren eigenen Bedürfnissen an.

Nützliche Informationen können überall gefunden werden, unter anderem in der Wissenschaft, der klinischen Psychologie und den kontemplativen Traditionen. Da wir ein großes Gebiet abdecken, habe ich die neurologischen Erklärungen vereinfacht und spezielle Therapien und Ausbildungen nicht aufgelistet oder versucht, die umfangreiche Fachliteratur über Resilienz, Wohlbefinden und verwandte Themen zusammenzufassen. Zur weiteren Untersuchung sehen Sie sich bitte den ergänzenden Quellenteil am Schluss des Buches an, genauso wie die Foliensätze, Thesenpapiere und das andere frei zur Verfügung stehende Material unter www.Rick.Hanson.net. Was die kontemplative Praxis betrifft, ist der Buddhismus die Tradition, die ich am besten kenne, und ich werde Ihnen einige Ideen und Methoden daraus anbieten. Dies Buch beruht auf meinem erfahrungsbasierten Online-Programm, den Foundations of Well-Being (www.thefoundationsofwellbeing.com), folgt jedoch nicht genau seinem Aufbau.

Der Einfachheit halber ist die Stimme des Autors hier das „Ich“ von Rick Hanson. Dennoch sind Forrests Gedanken und Wörter auf jeder Seite vorzufinden. Er hat diesem Material eine große Klarheit und Einsicht beigesteuert, und es war mir eine Ehre und eine Freude, dieses Buch zusammen mit meinem Sohn zu schreiben. Dies ist wahrlich eine gemeinsame Unternehmung. Zusammen haben wir versucht, ein nützliches, auf den Punkt kommendes, tief empfundenes Buch vorzulegen.

Wir hoffen, Sie haben Freude daran.

Teil 1

ERKENNEN


KAPITEL 1

Mitgefühl

Wenn ich nicht für mich bin, wer ist dann für mich?

Wenn nicht jetzt, wann sonst?

RABBI HILLEL

Eine der bedeutsamsten Erfahrungen meines Lebens hatte ich, als ich sechs Jahre alt war. Meine Familie lebte in Illinois, am Rande von Kornfeldern. Ich erinnere mich daran, wie ich eines Abends draußen stand und auf das Regenwasser in den Furchen herabblickte, die die Traktoren hinterließen, und dann zu unserem Haus zurückschaute. Ich fühlte mich wehmütig und traurig angesichts des Zorns in meinem Inneren. Es gab Lichter, die auf den entfernten Hügeln funkelten, dem Zuhause anderer, vielleicht glücklicherer Familien.

Als Erwachsener heute kann ich erkennen, dass meine Eltern liebevolle, ordentliche Menschen waren, die mit ihrem eigenen Stress umzugehen hatten, und dass meine Kindheit in vielerlei Hinsicht eine glückliche war. Mein Vater hatte einen schweren Job und meine Mutter alle Hände voll mit meiner Schwester und mir zu tun. Ich kann mich nicht daran erinnern, was in unserem Haus in jener Nacht geschah. Es könnte einen gewöhnlichen Streit gegeben haben. Aber ich erinnere mich daran, als wäre es gestern gewesen, eine Fürsorge mir selbst gegenüber empfunden zu haben. Ich fühlte mich schlecht, jene Gefühle waren von Bedeutung, und ich wollte mir helfen, mich selbst besser zu fühlen. Viele Jahre später lernte ich, dass dies Mitgefühl war – die Erkenntnis von Schmerz zusammen mit dem Wunsch, ihn zu lindern –, das man sich selbst genauso wie anderen entgegenbringen kann.

Ich kann mich genau daran erinnern, dass ich wusste, dass es an mir war, durch die vor mir liegende Zeit zu kommen und jene Lichter und Menschen und jenes größere Glück zu finden.

Ich liebte meine Eltern und war niemandem feindselig gesonnen, sondern ich war für mich selbst. Ich war entschlossen – wie ein Kind es nur sein kann, und genauso ein Erwachsener –, ein so gutes Leben zu haben, wie ich nur konnte.

Mein eigener Weg des Wohlbefindens begann mit Mitgefühl, wie es bei den meisten Menschen der Fall ist. Mitgefühl für Sie selbst ist fundamental, denn wenn Sie sich nicht darum kümmern, wie Sie sich fühlen, und etwas dafür tun möchten, ist es schwer, eine Anstrengung zu unternehmen, um glücklicher und resilienter zu werden. Mitgefühl ist beides, weich und muskulös. Studien haben beispielsweise gezeigt, dass, wenn Menschen Mitgefühl empfinden, sich Gehirnareale für die Bewegungsplanung zum Handeln vorbereiten.

Mitgefühl ist eine psychologische Ressource, eine innere Stärke. In diesem Kapitel werden wir erkunden, wie Sie Mitgefühl entwickeln und für sich selbst nutzen können, und in späteren Kapiteln werden wir sehen, wie man Mitgefühl anderen entgegenbringt.

Stehen Sie sich selbst bei

Wenn wir andere mit Respekt und Zuwendung behandeln, kommt normalerweise das Beste in ihnen zum Vorschein. Weitgehend dasselbe würde geschehen, wenn wir uns auf die gleiche Art und Weise behandeln könnten.

Doch die meisten von uns sind mit anderen besser befreundet als mit sich selbst. Wir kümmern uns um ihren Schmerz, erkennen positive Qualitäten an ihnen und behandeln sie angemessen und freundlich. Aber was für eine Art Freund sind Sie für sich selbst? Viele Menschen sind hart zu sich selbst, sind kritisch, hegen Selbstzweifel und wirken eher destruktiv als konstruktiv.

Stellen Sie sich vor, Sie behandeln sich so, wie Sie es mit einem Freund oder einer lieben Freundin tun würden. Sie würden ermutigend, warmherzig und verständnisvoll sein und Sie würden sich helfen, zu heilen und zu wachsen. Denken Sie darüber nach, wie ein typischer Tag aussehen könnte, wenn Sie sich selbst beistehen würden. Wie würde es sich anfühlen, Ihre guten Absichten und Ihr gutes Herz wertzuschätzen und weniger selbstkritisch zu sein?

Warum es gut ist, zu sich selbst gut zu sein

Es ist hilfreich, die Gründe zu verstehen, warum es sowohl angemessen als auch wichtig ist, sich selbst beizustehen. Andernfalls könnten Glaubenssätze wie diese die Kontrolle übernehmen: „Es ist selbstsüchtig, darüber nachzudenken, was du möchtest.“ – „Du verdienst keine Liebe.“ – „In deinem tiefsten Inneren bist du schlecht.“ – „Du wirst versagen, wenn du größere Träume hegst.“

Erstens, es gibt das Grundprinzip, dass wir Menschen mit Anstand und Mitgefühl behandeln sollten. Nun, „Menschen“ schließt die Person mit ein, die Ihr Namensschild trägt. Die Goldene Regel ist eine Straße, die in beide Richtungen befahren wird: Wir sollten mit uns selbst so umgehen, wie wir es mit anderen tun.

Zweitens, je mehr Einfluss wir auf jemanden haben, umso größer ist unsere Verantwortung, ihn gut zu behandeln. Beispielsweise haben Chirurgen große Macht über ihre Patienten, daher ist es ihre große Pflicht, Sorgfalt walten zu lassen, wenn sie sie operieren. Wer ist die eine Person, die Sie am meisten beeinflussen können? Sie selbst sind es, Sie selbst in diesem Moment und Ihr zukünftiges Selbst: die Person, die Sie in der nächsten Minute, Woche oder im nächsten Jahr sein werden. Wenn Sie über sich selbst wie über jemanden denken, demgegenüber Sie eine Pflicht zur Fürsorge und Freundlichkeit haben, was würde sich an der Art und Weise ändern, wie Sie mit sich selbst reden und wie Sie durch Ihren Tag gehen?

Drittens, gut zu sich selbst zu sein, ist gut für andere. Wenn Menschen ihr eigenes Wohlbefinden erhöhen, werden sie für gewöhnlich geduldiger, kooperativer und fürsorglicher in ihren Beziehungen. Denken Sie darüber nach, wie andere davon profitieren würden, wenn Sie sich selbst weniger gestresst, besorgt oder irritiert und sich friedlicher, zufriedener und liebevoller fühlen würden.

Sie können praktische Maßnahmen ergreifen, um sich selbst davon zu überzeugen, dass es wirklich gut ist, sich selbst mit Respekt und Mitgefühl zu behandeln. Sie könnten einfache Aussagen niederschreiben – wie etwa „Ich stehe mir selbst bei“ oder „Ich trete für mich selbst ein“ oder „Auch ich bin wichtig“ – und sie sich selbst laut vorlesen oder sie irgendwo anbringen, wo Sie sie jeden Tag sehen. Sie könnten sich vorstellen, jemandem zu erzählen, warum Sie sich mehr um Ihre eigenen Bedürfnisse kümmern werden. Oder stellen Sie sich einen Freund, einen Mentor oder sogar Ihre gute Fee vor, die Ihnen nahelegen, sich selbst beizustehen – und lassen Sie sich überzeugen!

Das Gefühl, sich um sich selbst zu kümmern

Als ich 1969 von zu Hause wegging, um an der UCLA (= University of California, Los Angeles, A.d.Ü.) zu studieren, war ich hyperrational und verkopft. Dies war eine Vermeidungsstrategie, um mich nicht traurig, verletzt und bekümmert zu fühlen, doch fühlte ich dann überhaupt nichts mehr. Ich musste mit mir selbst in Kontakt kommen, um zu genesen und zu wachsen. Kalifornien in den 1970er-Jahren stand im Zentrum des Human Potential Movement, und ich tauchte darin ein, obwohl es ziemlich verrückt schien. (Urschrei-Therapie! Selbsterfahrungsgruppen! Entblöße deine Seele auf Kommando!) Ich lernte schrittweise, mich allgemein in meine Emotionen und meine Körperempfindungen einzustimmen. Insbesondere begann ich dem Gefühl, mir selbst beizustehen, Aufmerksamkeit zu schenken und mir selbst Wärme und Unterstützung, statt Kälte und Kritik entgegenzubringen. Dies zu tun fühlte sich gut an, deshalb fuhr ich damit fort. Jedes Mal, wenn ich mich auf diese positiven Erfahrungen fokussierte, war es so, als ob ich einen Muskel trainieren und ihn stärken würde, immer wieder. Durch das wiederholte Üben einer Haltung von Freundlichkeit und Ermutigung mir selbst gegenüber drangen diese schrittweise in mich ein und wurden zu einer natürlichen Seinsweise.

Viele Jahre später lernte ich als Psychologe, auf welche Weise meine intuitiven Bemühungen funktioniert hatten. Sich auf die Erfahrung einer psychologischen Ressource zu fokussieren und dranzubleiben – wie etwa dem Gefühl, sich selbst beizustehen – ist eine kraftvolle Art und Weise, diese in Ihrem Gehirn zu verstärken. Dann nehmen Sie diese innere Stärke, wohin Sie auch immer gehen, mit.

In den Kapiteln über Achtsamkeit und Lernen werde ich Ihnen im Detail erklären, wie Sie Ihre Gedanken und Gefühle in dauerhafte innere Stärken umwandeln können: die Grundlage wahrer Resilienz. Das Wesentliche ist einfach: Erstens, machen Sie eine Erfahrung dessen, was Sie in sich entwickeln möchten – wie etwa Mitgefühl oder Dankbarkeit –, und zweitens, fokussieren Sie sich darauf und halten Sie das Erlebte aufrecht, um dessen Konsolidierung/Festigung in Ihrem Nervensystem voranzutreiben.

Dies ist der fundamentale Prozess positiver Neuroplastizität. Um ein Gefühl dafür zu bekommen, probieren Sie die Übung im Kasten aus. Sie dauert nur eine oder zwei Minuten – oder Sie verlangsamen sie um einer tieferen Wirkung willen. Wie bei allem, schlage ich vor, dass Sie sie Ihren eigenen Bedürfnissen anpassen. Darüber hinaus können Sie im Alltag darauf Acht geben, wenn Sie eine Haltung oder ein Gefühl der Fürsorge für sich selbst haben – und dann bleiben Sie bei der Erfahrung für ein paar zusätzliche Augenblicke, indem Sie sie in Ihrem Körper spüren und sich in sie hinein sinken lassen, während diese in Sie hinein sinkt.


SICH SELBST BEISTEHEN Erinnern Sie sich an eine Zeit, als Sie jemandem Beistand leisteten: vielleicht einem Kind, das Sie beschützten, einem Freund, den Sie ermutigten, oder einem älteren Elternteil mit Gesundheitsproblemen. Erinnern Sie sich daran, wie sich das in Ihrem Körper anfühlte – in der Haltung Ihrer Schultern, in Ihrem Gesichtsausdruck. Erinnern Sie sich an einige Ihrer Gedanken und Gefühle – vielleicht gab es ein Erleben von Fürsorge, vielleicht Entschlossenheit oder sogar eine heftige Intensität.

 

Wissend, wie es sich anfühlt, jemandem beizustehen, bringen Sie sich selbst gegenüber diese Haltung entgegen. Spüren Sie, wie es sich anfühlt, sich selbst ein Verbündeter zu sein – jemand, der auf Sie achten, Ihnen helfen, Sie beschützten wird. Erkennen Sie, dass Sie Rechte haben und Bedürfnisse, die wichtig sind.

Es ist normal, wenn andere Reaktionen auftauchen, wie etwa sich wertlos zu fühlen. Nehmen Sie sie einfach wahr und lösen Sie sich von ihnen, und dann kehren Sie zu dem Gefühl zurück, sich selbst Gutes zu wünschen. Fokussieren Sie sich auf diese Erfahrung und bleiben Sie bei ihr für ein paar Atemzüge oder länger.

Entsinnen Sie sich an Zeiten, in denen Sie sich wirklich für sich selbst eingesetzt und stark gemacht haben. Vielleicht ermutigten Sie sich selbst während einer schweren Arbeitsphase oder Sie nahmen bei jemandem, der Sie verletzt hatte, kein Blatt vor den Mund. Entwickeln Spüren Sie, wie sich das anfühlte, und zwar in emotionaler Hinsicht sowie in Ihrem Körper. Erinnern Sie sich an einige der Gedanken, die Sie hatten, wie etwa: „Es ist völlig in Ordnung, mir helfen zu lassen.“ Bleiben Sie bei dieser Erfahrung und lassen Sie sie Ihren Geist ausfüllen.

Erfahren Sie, was es heißt, sich wirklich seinem eigenen Wohlbefinden gegenüber zu verpflichten. Lassen Sie die Gefühle, Gedanken und Absichten, sich selbst ein guter Freund oder eine gute Freundin zu sein, in Ihr Bewusstsein dringen, lassen Sie sie ein Teil von Ihnen werden.

Bringen Sie ihrem Schmerz Mitgefühl entgegen

Mitgefühl ist eine warmherzige Sensibilität für Leiden – vom feinen mentalen oder physischen Unbehagen bis zum quälenden Schmerz –, die mit dem Wunsch einhergeht, zu helfen, wenn Sie können. Mitgefühl zu geben, mindert den Stress und beruhigt Ihren Körper. Mitgefühl zu empfangen, macht Sie stärker: versetzt Sie besser in der Lage, Atem zu schöpfen, Halt zu finden und weiterzumachen.

Sie profitieren von beidem, Mitgefühl zu geben und zu empfangen, wenn Sie es sich selbst anbieten. Je besser Sie die Lasten und den Stress bei anderen erkennen können, umso besser erkennen Sie dieselben Dinge bei sich selbst. Je mehr Sie sich von deren Leiden bewegen lassen, umso mehr kommen Sie mit ihrem eigenen in Kontakt. Sie können die gleiche Unterstützung, die Sie für einen anderen aufbringen, sich selbst angedeihen lassen. Und wenn es nicht viel Mitgefühl seitens anderer für Sie gibt, dann ist es umso wichtiger, dass Sie es sich selbst entgegenbringen.

Dies bedeutet nicht, zu jammern und sich im Elend zu suhlen. Mitgefühl für Sie selbst findet dort statt, wo Sie beginnen, wenn die Dinge schwer werden, nicht wo Sie aufhören. Forschungen von Kristin Neff und anderen haben gezeigt, dass Selbstmitgefühl eine Person resilienter macht, sie besser in die Lage versetzt, wieder auf die Beine zu kommen.

Es senkt die Selbstkritik und baut Selbstwertgefühl auf, indem es Ihnen hilft, aktiver und erfolgreicher zu sein, und nicht selbstzufrieden und bequem. Im Mitgefühl für Ihren eigenen Körper steckt ein Gefühl der Mitmenschlichkeit: Wir alle leiden, wir alle sehen uns mit Krankheiten und dem Tod konfrontiert, wir alle verlieren andere, die wir lieben. Jeder ist zerbrechlich. Wie Leonard Cohen sang: „There is a crack in everything / That’s how the light gets in.“* Jeder hat einen Riss. Jeder braucht Mitgefühl.

Herausforderungen ans Selbstmitgefühl

Trotzdem ist Selbstmitgefühl für viele von uns eine Herausforderung. Ein Grund dafür liegt in der Art und Weise, wie unser Nervensystem funktioniert. Das Gehirn ist dazu bestimmt, von unseren Erfahrungen verändert zu werden, hauptsächlich von negativen und insbesondere von jenen, die in der Kindheit stattfanden.

Es ist ganz normal, dass Sie verinnerlichen, wie Eltern oder andere sie behandelt haben –was ein Übergehen, Schmälern oder Bestrafen ihrer zarteren Gefühle und Sehnsüchte eingeschlossen haben mag– und sich dann selbst ebenso behandeln.

Ich hatte beispielsweise gewissenhafte und liebevolle Eltern und bin ihnen sehr dankbar dafür. Gleichwohl erfuhr ich, während ich heranwuchs, häufig Kritik und nicht viel Mitgefühl, und ich nahm diese Einstellungen in mich auf. Ich bin immer vom Schmerz anderer bewegt worden. Aber mein eigener Schmerz? Ich schob ihn beiseite und wunderte mich dann, warum er weiter zunahm.

Mitgefühl lernen

Ich musste lernen, wie ich meinem eigenen Leiden Mitgefühl entgegenbringen konnte. Wir lernen viele Dinge im Leben, einschließlich wie man Fahrrad fährt, sich bei einem Freund entschuldigt oder sich selbst beruhigt, wenn man aufgeregt ist. Was ist nötig, damit Lernen stattfinden kann?

Der Schlüssel, um jede Art psychologischer Ressource zu kultivieren, Mitgefühl inklusive, besteht darin, diesbezüglich wiederholte Erfahrungen zu machen, die zu beständigen Veränderungen in der neuronalen Struktur oder Funktion führen. Es ähnelt dem Aufnehmen eines Liedes auf einem altmodischen Tonbandgerät: Wenn das Lied gespielt wird – wenn Sie also die Ressource erfahren –, können Sie veranlassen, dass eine physische Spur in Ihrem Nervensystem hinterlassen wird.

Wenn Sie bereits etwas Erfreuliches oder Nützliches erfahren – vielleicht die Befriedigung, einen Bericht bei der Arbeit zu beenden, oder die Annehmlichkeit, sich am Ende eines langen Tages aufs Sofa fallen zu lassen –, bemerken Sie es einfach. Sie können auch bewusst eine Erfahrung dessen erschaffen, was Sie entwickeln möchten, wie etwa das Gefühl, sich selbst beizustehen. Sobald Sie die Erfahrung machen, fühlen Sie diese möglichst in vollem Ausmaß und nehmen Sie sich ein wenig Zeit – einen Atemzug oder zwei oder zehn –, um dabei zu bleiben. Je öfter Sie dies tun, umso mehr richten Sie sich darauf aus, psychologische Ressourcen in sich zu verschalten.

Um mehr Selbstmitgefühl zu entwickeln, nehmen Sie sich ein paar Minuten Zeit und probieren Sie die Übung im Kasten aus. Indem Sie Mitgefühl für sich selbst kultivieren, werden Sie besser in der Lage sein, es sich zunutze zu machen, wann immer Sie es brauchen.


MITGEFÜHL FÜR SIE SELBST Erinnern Sie sich jetzt einmal an Zeiten, in denen Sie sich von Menschen, Haustieren oder spirituellen Wesen liebevoll umsorgt fühlten, in Ihrem Leben heute oder in der Vergangenheit. Jede Art von Fürsorge für Sie zählt, wie etwa Zeiten, in denen Sie miteinbezogen, geachtet, gemocht oder geliebt worden sind. Entspannen Sie sich, und öffnen Sie sich für das Gefühl, liebevoll umsorgt zu sein. Wenn Sie abgelenkt werden, kehren Sie einfach zu dem Gefühl, Fürsorge zu empfangen, zurück. Bleiben Sie bei diesen Gefühlen, und spüren Sie, wie sie in Sie eindringen, wie Wasser in einen Schwamm.

Dann denken Sie an einen oder mehrere Menschen, für die Sie Mitgefühl empfinden – vielleicht an ein Kind, das Schmerzen hat, an eine Freundin, die eine Scheidung durchmacht, oder an Flüchtlinge, die ihre Heimat verlassen mussten. Bekommen Sie ein Gefühl für deren Lasten, Sorgen und Leiden. Spüren Sie eine warmherzige, anteilnehmende Fürsorge. Sie könnten eine Hand auf Ihr Herz legen und Gedanken hegen wie etwa: Möge dein Schmerz nachlassen mögest du Arbeit finden … mögest du diese Krankheit überstehen.“ Geben Sie sich selbst dem Mitgefühl hin, indem Sie zulassen, dass es Sie ausfüllt und Sie durchströmt.

Spürend, wie sich Mitgefühl anfühlt, übertragen Sie es auf sich selbst. Erkennen Sie jegliche Arten und Weisen, in denen Sie sich gestresst, müde, krank, schlecht behandelt oder unglücklich fühlen. Dann bringen Sie sich Mitgefühl entgegen, so wie Sie es bei einem Freund oder einer Freundin tun würden, die sich wie Sie fühlen mag. Werden Sie sich bewusst, dass jeder Leid erfährt und dass Sie nicht allein mit ihrem Schmerz sind. Vielleicht legen Sie eine Hand auf Ihr Herz oder Ihre Wange. Je nachdem, was geschehen ist, könnten Sie denken: „Möge ich frei sein von Leiden … mögen diese verletzten Gefühle vorübergehen…möge ich mich nicht so sehr sorgen… möge ich von dieser Krankheit genesen.“ Stellen Sie sich Mitgefühl als einen sanften warmen Regen vor, der auf Sie niederfällt, der die müden, schmerzenden, sehnsüchtigen Stellen im Inneren berührt und lindert.