Warum uns der Klimawandel an innere Grenzen bringt …

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Warum uns der Klimawandel an innere Grenzen bringt …
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Richard Stiegler



Warum uns der Klimawandel an innere Grenzen bringt …



… und wie wir daran wachsen können




Richard Stiegler



Warum uns der Klimawandel an innere Grenzen bringt …



… und wie wir daran wachsen können









© 2020 Arbor Verlag GmbH, Freiburg



1. Auflage 2020



Ebook 2020



Alle Rechte vorbehalten



Lektorat: Thomas Böhmer



Titelfoto: ©NASA Goddard Space Flight Center Image by Reto Stöckli



Hergestellt von

mediengenossen.de



E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim,

www.brocom.de





www.arbor-verlag.de





ISBN E-Book: 978-3-86781-309-9






Für Quirin, Jonas und Noah und für alle Kinder, die uns nachfolgen






INHALT



Einleitung





Zum Umgang mit den Fragen am Ende jedes Kapitels







Und noch ein letzter Hinweis





1 Der Klimawandel – eine Krankheit der Erde





Die Diagnose und die Prognose







Der Krankheitsverlauf ist offen





2 Die tieferen Ursachen des Klimawandels





Wofür setzen wir unsere Intelligenz ein?







Verbundenheit und Würde







Wie Seele und Verstand zusammenwirken können





3 Wir sind keine Opfer





Jeder einzelne Mensch trägt Verantwortung







Was kann ich schon ausrichten?







Innere Kongruenz und ihre Strahlkraft





4 Können wir uns ändern?





Wie Systeme einrasten







Wie Systeme wieder aufbrechen







Betroffenheit als Katalysator







Wie Einsicht und Betroffenheit zusammenwirken





5 Existenzielle Grenzen und wie wir daran reifen





Was macht eine existenzielle Grenze aus?







Wie Ohnmacht alte Gefühle aktiviert







Versuche der Abwehr







Das Tor der Kapitulation







Einklang und die Weisheit, die sich daraus entfaltet







Die Bedeutung einer seelischen Begleitung





6 Müssen wir verzichten?





Die Logik des Konsums







Von Bedürfnissen und Ersatzbefriedigungen







Mangel und innere Fülle







Das Glück der Einfachheit





7 Den Niedergang in Würde gestalten





Abstieg als Prinzip der Harmonie







Verzicht, Freiheit und Würde







Not und Mitgefühl





8 Was es zu überprüfen gilt





Die Falle der Moral







Ernährung







Wohnen







Mobilität







Konsum







Internet







Finanzen







Aufforstung







Sich für ein stabiles Klima engagieren





9 Ein Klima-Workshop





Die Grundhaltung einer Herzensoffenheit







Grundelemente eines Tagesworkshops







Die Workshopstruktur im Überblick





10 Über die Kraft der Liebe





Mitgefühl als schützende Hülle







Liebe und Intelligenz





Dank



Zum Autor




»Aber es geht doch um die Kinder.«



ERICH KÄSTNER, KONFERENZ DER TIERE

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Einleitung





Ich schreibe dieses Buch aus persönlicher Betroffenheit. Wenn ich die aktuellen wissenschaftlichen Daten über die zunehmende Erhitzung der Erdatmosphäre betrachte und die Prognosen für die nächsten Jahrzehnte sehe und was sie für die Menschheit und das gesamte Ökosystem der Erde bedeuten, erschüttert mich das. Es ist ganz klar: Wir sind auf dieser Erde mitten in einem dramatischen Wandel.



Ich bin aber auch betroffen, da ich mir sehr bewusst bin, dass ich selbst lange Zeit mit meiner Lebensweise zu dieser bedrohlichen Dynamik beigetragen habe und immer noch beitrage. Ich kann mich nicht als ein Opfer des Klimawandels bezeichnen. Ich bin selbst ein Verursacher.



Ich schreibe dieses Buch, da ich in meiner Tätigkeit als Psychotherapeut und Leiter von spirituellen Kursen sehe, dass nicht nur ich mit großer Betroffenheit reagiere, sondern dass aktuell in vielen Menschen durch die drohende Klimakatastrophe seelische Prozesse ausgelöst werden, mit denen sie sich häufig überfordert und allein fühlen. Denn in der Öffentlichkeit wird vor allen Dingen über die äußere Dimension des Themas gesprochen. (Also darüber, was CO

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 verursacht, wie wir CO

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 einsparen können, welche Kipppunkte es gibt usw.) Aber wie es den Menschen mit der Bedrohung geht, was es mit ihnen seelisch macht, wenn sie hören, dass sie in Zukunft radikal ihr Leben verändern und vielleicht auf vieles verzichten müssen, und ihre Kinder in einer Welt leben werden, in der dramatische Umwälzungen geschehen, darüber spricht fast niemand.



All diesen Menschen möchte ich mit diesem Buch versichern, dass es unabdingbar ist, die seelischen Wandlungsprozesse, die der Klimawandel anstößt, genauso ernst zu nehmen wie die äußeren Aspekte des Klimawandels. Als Psychotherapeut bin ich mir darüber im Klaren, dass bei allen Lebenssituationen, die uns zunächst überwältigen, ein seelischer Verdauungsprozess in Gang gesetzt wird. Der Klimawandel wird uns Menschen so radikale Änderungen abverlangen – im individuellen Leben, aber auch im gesellschaftlichen Zusammenleben –, dass er schon jetzt als eine bedrohliche Macht erfahren wird, die auf uns zurollt. Wie ein gewaltiger Sturm, der vieles auf den Kopf stellen wird und dessen erste Ausläufer uns bereits erfasst haben, so wird uns auch die Erwärmung der Erdatmosphäre überwältigen und in alle Lebensbereiche verändernd eingreifen.



Wer die Augen aufmacht, weiß, dass sich alles ändern wird. Sich zu ändern ist aber kein äußerer Vorgang. Es ist vor allen Dingen ein innerer. Wenn wir uns äußerlich ändern müssen, aber innerlich diese Veränderung nicht mitvollziehen können, leiden wir unter dem Wandel. Wir können ihn dann nicht äußerlich konstruktiv gestalten, da wir innerlich im Widerstand sind. Daher ist eine seelische Auseinandersetzung mit dem Thema Klimawandel unumgänglich, wenn wir die anstehenden Veränderungen individuell oder auch gesamtgesellschaftlich konstruktiv vollziehen und gestalten wollen. Erst wenn sich der seelische Prozess der Wandlung auf eine vollständige Weise vollziehen konnte, fühlen wir uns nicht mehr als Opfer der Umstände, sondern erfahren uns wieder in unserer Selbstwirksamkeit und im Einklang mit den Dingen.



Wir entdecken unsere eigenen Antworten auf die Herausforderungen des Klimawandels und müssen uns auch nicht moralisch über andere erheben oder sie belehren, sondern können ihnen authentisch und offen begegnen.



Doch das Thema Klimawandel hat nicht nur deshalb eine seelische Dimension, weil ein seelischer Verdauungs- und Veränderungsprozess ansteht, sondern auch weil die Ursachen dieser dramatischen Entwicklung letztlich bis in unsere Seele hineinreichen. Das moderne menschliche Verhalten, das den Klimawandel anheizt, gründet sich letztlich darauf, dass wir uns von dem Bewusstsein abgekoppelt haben, als Menschen zutiefst mit allen Ökosystemen auf dieser Erde verwoben zu sein. Daher greift es viel zu kurz, wenn wir das Problem der zunehmenden Erhitzung der Erdatmosphäre auf einer technischen Ebene lösen wollen. Eine verbesserte Technik, die die Atmosphäre nicht mehr so belastet, betrifft nur die Oberflächendimension des Problems.

 



Solange wir nicht die Tiefendimension und damit die eigentliche Ursache für die Klimaerwärmung erkennen und sich hier ein tiefer Wandel vollzieht, wird die Grundproblematik weiter bestehen. Die Tiefendimension des Problems liegt aber nicht im Außen, sondern in unserer Seele begründet. Auch deshalb schreibe ich dieses Buch, um das Bewusstsein für die tieferen Ursachen des Themas, die in uns liegen, zu wecken.



Nicht zuletzt schreibe ich dieses Buch aus Liebe zu meinen Kindern. Ich weiß nicht, wie ihr Leben und das ihrer Kinder in 30, in 50 und in 100 Jahren aussehen wird. Aber ich wünsche mir zutiefst, dass unsere Gesellschaft den notwendigen Wandel in einer menschenwürdigen Weise und ohne allzu große Verwerfungen vollziehen kann, damit auch zukünftige Generationen noch eine lebenswerte Zukunft auf dieser Erde haben. Jeder noch so kleine Beitrag dazu scheint mir zutiefst sinnvoll.





Zum Umgang mit den Fragen am Ende jedes Kapitels





Am Ende jedes Kapitels finden sich Fragen, die dazu dienen, den Inhalt des Kapitels mithilfe der eigenen Erfahrungen zu verarbeiten und ihre Relevanz für unser Leben zu überprüfen. Wer sich darauf einlässt, wird entdecken, dass die Lektüre dieses Buches eine Tiefenwirkung entfalten kann. Es ist wie immer: Etwas zu hören oder zu lesen ist hilfreich, aber den Inhalt mit dem eigenen Leben zu verbinden und innerlich zu erfahren, bewegt und verändert uns und geht daher tiefer.



Man kann sich diese Fragen selbst in einer stillen Stunde stellen. Es ist aber sicherlich noch wirkungsvoller, mit einem oder mehreren anderen Menschen diese Fragen zu teilen und dadurch in einen tiefen Dialog mit sich selbst und anderen zu kommen. Konkret schlage ich vor, jede Frage zunächst in einem Monolog zu bewegen. Dazu wird einer Person diese Frage gestellt und sie hat dann fünf Minuten Zeit, ihre eigenen Erfahrungen und Gefühle dazu auftauchen zu lassen. Das führt typischerweise zu einer großen Tiefe und Verbindung mit sich selbst. Erst danach öffnet man den Raum für Austausch und Dialog.





Und noch ein letzter Hinweis





Alle Inhalte dieses Buches richten sich gleichermaßen an Männer und Frauen. Zur besseren Lesbarkeit und um eine Sprache zu benutzen, die beiden Geschlechtern gerecht wird, sind die Kapitel mit ungeraden Zahlen in der weiblichen Form und Kapitel mit geraden Zahlen in der männlichen geschrieben. Sprache kann Bewusstheit fördern und die Gleichwertigkeit von Mann und Frau betonen helfen.




KAPITEL 1



Der Klimawandel – eine Krankheit der Erde







Wir möchten Euch (den veränderten Menschen) mitteilen, dass wir die Erde verlassen. Wir überlassen Euch die Mutter Erde. Und wir beten, dass Ihr erkennen möget, was Ihr mit Eurer Art zu leben dem Wasser, den Tieren, der Luft und Euch selbst antut. Wir beten, dass Ihr eine Lösung für Eure Probleme finden werdet – ohne diese Welt zu zerstören. Es gibt auch bei Euch »Veränderten« einzelne Menschen, die dabei sind, zu ihrem geistigen Wesen und wahren Selbst zurückzufinden.







Wenn Ihr Euch nur ausreichend bemüht, habt Ihr noch Zeit, der Zerstörung auf diesem Planeten Einhalt zu gebieten. Aber wir können Euch dabei nicht länger helfen. Unsere Zeit ist abgelaufen. Die Zyklen des Regens haben sich bereits verändert, die Hitze hat zugenommen und in der Pflanzen- und Tierwelt gibt es schon seit Jahren immer weniger Wachstum. Wir können für Eure Seelen nicht länger körperliche Hüllen bereitstellen, weil es hier in der Wüste bald kein Wasser und keine Nahrung mehr geben wird.





BOTSCHAFT EINES STAMMESÄLTESTEN DER ABORIGINES



(ENDE DER 80ER- JAHRE)

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Der Klimawandel zählt wohl zu den größten Herausforderungen, die die Menschheit jemals zu bewältigen hatte. Er ist keine partielle Krise wie ein Krieg oder eine Hungersnot, die ein Land oder eine Nation betreffen. Er betrifft auch nicht einen Teilbereich des menschlichen Lebens wie der digitale Wandel. Er wirkt sich nicht nur auf ein Ökosystem aus wie beim Verschwinden einer exotischen Tierart. Die zunehmende Erhitzung unserer Atmosphäre betrifft die Erde als Ganzes und damit alle Menschen, alle Tiere und Pflanzen und letztlich alle Ökosysteme.



Auch die Auswirkungen für uns Menschen lassen sich nicht auf Teilbereiche reduzieren. Wenn die galoppierende Überhitzung der Atmosphäre in den nächsten Jahrzehnten wie vorhergesagt zunimmt, werden alle Bereiche unseres menschlichen Lebens betroffen sein. Unser Wirtschaftssystem wird sich radikal ändern müssen. Unsere Sozialsysteme werden unter der Last der weltweiten Flüchtlingsbewegungen zusammenbrechen. Selbst die Nahrungsmittelversorgung und die Versorgung mit Trinkwasser wird für die meisten Menschen nicht mehr sichergestellt sein. Alle Lebensbereiche sind betroffen und es sprengt die Möglichkeiten unserer Vorstellung, was das wirklich für die Menschheit, für unsere Kinder und die Erde als Ganzes bedeuten würde.



Dabei müssen wir konstatieren, dass die drohende Katastrophe, die auf uns zurollt, nicht von außen kommt. Wir werden nicht von aggressiven Staaten bedroht, nicht durch fundamentalistische Religionsanhänger. Es gibt auch keine Bedrohung durch fremde Mächte aus den Tiefen des Weltalls und auch keinen Kometen, der auf die Erde einschlägt. Diese Bedrohung ist hausgemacht. Sie ist die Folge unserer modernen menschlichen Lebensweise, die offensichtlich diesen Planeten und seine natürlichen Gesetzmäßigkeiten verletzt. Wir Menschen sind selbst diejenigen, von denen die Bedrohung ausgeht.



Das Bedrohungsszenario des Klimawandels ist im Moment in einem Stadium, in dem es real noch kaum spürbar ist. In den westlichen Industrieländern geht es uns so gut wie nie zuvor. Zwar gibt es auch hier bereits erste sichtbare Veränderungen wie extrem heiße Sommer, partiellen Starkregen, Ernteausfälle und schmelzende Gletscher, aber wenn wir im Wald spazieren gehen und den Vögeln lauschen, scheint uns der Klimawandel wie ein böser, irrealer Traum, ein Zukunftsszenario, das irgendwie weit weg ist.



Man kann dieses Stadium vergleichen mit einem Menschen, dem vom Arzt eine aggressive Krebserkrankung diagnostiziert wurde, die er aber selbst noch gar nicht verspürt. Es gibt vielleicht bereits einzelne leichte Anzeichen, eine gewisse körperliche Schwäche oder leichte Verdauungsprobleme, aber eigentlich fühlt er sich gesund und die Nachricht eines raumgreifenden aggressiven Tumors wirkt wie ein Schock und fühlt sich gleichzeitig komplett irreal an.



Dabei ist der Vergleich mit einer aggressiven Krebserkrankung durchaus sehr passend, denn ein aggressiver Tumor ist eine Zellwucherung, die so entartet ist, dass sie sich nicht mehr als Teil einer Ganzheit einfügt und dem Organismus dient, sondern in einer unmäßigen Weise wächst und sich die Nährstoffe und den Raum für dieses Wachstum vom Körper, in dem sie lebt, holt. Das Verhältnis kehrt sich also um. Die Zellen dienen nicht mehr dem Körper, sondern der Organismus soll der Zellwucherung in ihrem unmäßigen Wachstum dienen. Wie wir wissen, führt dieser Prozess nach einer gewissen Zeit zwangsläufig zum Zusammenbruch des gesamten Organismus und damit zum Tod eines Menschen. Die entarteten Zellen haben irgendwann ihren Wirt ausgezehrt und damit die Lebensgrundlage für den Organismus und damit auch für das eigene Wachstum vernichtet.



Findet dieser Krankheitsprozess nicht gerade auf unserer Erde statt? Ist nicht der Mensch inzwischen mit seiner Lebensweise eines unmäßigen Wachstums, das in keinem Verhältnis mehr zu den natürlichen Ressourcen dieser Erde steht, zu einem Krebsgeschwür geworden? Dabei ist nicht der Mensch das Problem, sondern sein expansives Verhalten, welches darauf beruht, dass der Mensch sich nicht mehr in die Schöpfung als Ganzes einfügt, sondern sich umgekehrt die Schöpfung zunutze machen will.



Der Klimawandel ist eine schwerwiegende Krankheit, die die Erde als Ganzes befallen hat. Die Diagnose wurde bereits von unseren Wissenschaftlerinnen gestellt und die Prognose ist dramatisch. Sogar die Krankheitsgründe kennen wir. Der Krankheitsverlauf wird entscheidend davon abhängen, wie ernst wir bereits in diesem Stadium, in dem wir noch kaum Symptome verspüren, die Krankheit nehmen.





Die Diagnose und die Prognose





Schon im letzten Jahrhundert haben Wissenschaftlerinnen die Dynamik der Erderwärmung erkannt und davor gewarnt. Allerdings war zu diesem Zeitpunkt der Temperaturanstieg noch so geringfügig, dass sie keine Chance hatten, die Menschen und die Regierungen aufzurütteln. Inzwischen ist die Situation grundlegend anders. Der Temperaturanstieg in den letzten 20 Jahren ist so eklatant, dass wir bereits im Jahr 2019 eine globale Erwärmung von 0,9 °C (seit der vorindustriellen Zeit) erreicht haben. In Deutschland, wo sich die Erwärmung schneller vollzieht, sind wir aktuell bereits bei 1,54 °C angelangt (laut Umweltbundesamt).



Die aktuellen Auswirkungen dieses »Erdfiebers« sind eine Zunahme an Wetterextremen auf der ganzen Welt, ein Abschmelzen der Polkappen und der Gletscher, ein Anstieg des Meeresspiegels, eine Schädigung der Wälder und Ernten durch Hitze und Trockenheit und eine Zunahme von Artensterben. Obwohl diese Auswirkungen bereits mehr als deutlich auf der ganzen Welt gespürt werden, sind sie noch harmlos gegen das, was kommen kann.



Einen Ausblick darauf geben uns die Zukunftsprognosen der Wissenschaftlerinnen. Der Weltklimarat sagt voraus, dass wir bereits in acht Jahren, also im Jahr 2027, eine globale Temperaturzunahme von 1,5 °C erreicht haben werden, wenn wir nicht gravierend gegensteuern. Die Fieberkurve steigt mit solcher Geschwindigkeit an, dass wir bereits 2035, also in ca. 15 Jahren, global die 2 °C erreicht haben könnten.



Um zu ermessen, was diese Zahlen bedeuten, muss man sich vergegenwärtigen, dass bei einer globalen Temperaturzunahme zwischen 1,5 °– 2 °C sogenannte Kipppunkte ausgelöst werden. Kipppunkte oder Tipping-Points werden Prozesse genannt, die unumkehrbar sind und die die Erderwärmung weiter antreiben. Die zwei bekanntesten Kipppunkte sind das Auftauen der Permafrostgebiete und die Erwärmung der Weltmeere. Im ewigen Eis des Permafrostes in Alaska und Russland sind Unmengen an CO

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, aber auch an Lachgas und Methan gebunden. Lachgas und Methan wirken 25- bis 200-mal klimaschädlicher als CO

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. Die Meere wiederum sind der größte natürliche Speicher von Klimagasen. Je kälter die Meere sind, desto mehr CO

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 können sie an sich binden, je wärmer sie werden, desto mehr CO

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 lassen sie in die Atmosphäre.



Wenn alleine diese beiden Kipppunkte (und es gibt noch viele weitere) ausgelöst werden, werden solche Mengen an Klimagasen freigesetzt, dass der Prozess der Erderwärmung sich verselbstständigt und auch dann weitergeht, wenn die Menschheit es schaffen sollte, keinerlei Klimagase mehr auszustoßen. Mit anderen Worten, der Prozess der Erhitzung wäre unumkehrbar und nicht mehr zu stoppen.



Für diesen Fall rechnet der Weltklimarat mit einer Zunahme des Erdfiebers auf 3,5 °C bis 2050, also bereits in 30 Jahren! Bei dieser Temperatur wären weite Teile der Erde nicht mehr bewohnbar. Küstenregionen und Inseln würden überschwemmt, das



Trinkwasser und die Ernährung eines großen Teiles der Menschheit wäre nicht mehr sichergestellt. Die Folgen wären ungeheure Flüchtlingsbewegungen und damit auch der Zusammenbruch von sozialen und politischen Systemen.



Spätestens bei diesem Szenario sollten wir erkennen, dass der Klimawandel nicht irgendeine Katastrophe ist, von denen es schon viele in der Menschheitsgeschichte gegeben hat. Die Erderwärmung ist eine globale Krankheit der Erde, die in eine Apokalypse aller Ökosysteme führen kann. Die Erde selbst wird sich anpassen und ein neues Gleichgewicht finden, aber für den Menschen bedeutet dies eine Veränderung aller Lebensbereiche. Alles, was uns lieb und teuer ist, wird sich ändern, und unsere Kinder und ihre Kinder haben vielleicht keine Lebensgrundlage mehr.



Eigentlich sprengt es jede Vorstellungskraft, dass womöglich bereits in 30 Jahren die Mehrzahl der Menschen keine Lebensgrundlage mehr haben könnte. Angesichts dieses katastrophalen Szenarios sind sich alle Wissenschaftlerinnen und die meisten Regierungen darüber einig, dass eine Erwärmung über 1,5 °C unbedingt verhindert werden muss. Nur leider erreichen wir die 1,5 °C bereits in acht Jahren, wenn nicht radikale Einschnitte erfolgen.

 



Acht Jahre! Wir haben acht Jahre Zeit, um einen radikalen Systemwechsel zu vollziehen, der alle Bereiche unseres individuellen und gesellschaftlichen Lebens betrifft. Eine unglaubliche Herausforderung!





Der Krankheitsverlauf ist offen





An dieser Stelle möchte ich ins Bewusstsein rufen, wie enorm wichtig es ist, zwischen Diagnose und Prognose einer Krankheit zu unterscheiden. Diagnosen machen uns den aktuellen Stand einer Krankheit deutlich und sind ziemlich verlässlich, da sie sich auf reale Messungen und Beobachtungen stützen. Prognosen dagegen sind Zukunftsszenarien und damit Möglichkeiten. Sie legen uns nicht fest und sind in ihrer Entwicklung offen. Wir kennen es von schweren Krankheitsverläufen, dass die Prognose der Ärztinnen oft sehr vom tatsächlichen Verlauf der Krankheit abweicht.



Daher ist es ungeheuer wichtig, sich bei einer dramatischen Prognose bewusst zu machen, dass sie nur einen möglichen Verlauf beschreibt. Sonst laufen wir Gefahr, dass die Prognose uns innerlich hypnotisiert und wir sie immer mehr als Tatsache behandeln. Das ist sie aber nicht. Sie ist meist nur eine Idee über einen linearen Verlauf, der sich aus der Diagnose ergibt. Lebendige Organismen verhalten sich in ihrer Komplexität aber niemals linear, und Krankheitsverläufe entsprechend auch nicht.



In Bezug auf das Erdfieber ist die Diagnose eindeutig. Neben den Symptomen des Klimawandels, die sich in der Zunahme von Wetterextremen zeigen, belegen dies Temperatur- und CO

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-Messungen in der Atmosphäre. Diese Messungen zeigen uns, dass die Fieberkurve in den letzten 20 Jahren real ungeheuer schnell angestiegen ist. Wer sich dieser Diagnose verschließt oder sie leugnet, ist eine unverbesserliche Patientin und wird aus der aktuellen Diagnose keine direkten Konsequenzen ableiten. Das wiederum macht das Eintreten der Zukunftsprognose aber sehr viel wahrscheinlicher.



Wie gesagt: Die Diagnose ist eindeutig. Dagegen stellt die Prognose einer Zunahme der Erderwärmung auf bis zu 3,5 °C in 30 Jahren nur eine Möglichkeit dar, wie sich das Klima entwickeln könnte. Sie stützt sich auf eine lineare Fortschreibung der aktuellen Messdaten. Diese Prognose ist wichtig, da sie uns aufrütteln kann, aber sie ist keine Tatsache und legt die kommende Entwicklung des Klimas in keiner Weise fest. Das müssen wir uns vor Augen halten, um nicht wie ein Kaninchen auf die Schlange zu starren. Sonst können wir die ungeheuren Aufgaben, die vor uns liegen, nicht bewältigen.



Die Herausforderung besteht nämlich darin, alles, was in unserer Macht liegt, zu tun, um den Prozess der Klimaerwärmung zu verlangsamen und vielleicht doch noch zu stoppen, bevor immer mehr Kipppunkte ausgelöst werden und er sich verselbstständigt. Dazu gibt es eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Wir können unser Leben (in individuellen und kollektiven Bereichen) so umstellen, dass wir drastisch CO

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 einsparen, und zum anderen können wir zum Beispiel durch Aufforstung CO

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 aus der Atmosphäre wieder herausholen.



Tatsächlich ist das Zeitfenster, das wir zur Verfügung haben, um in den Prozess der Klimaerwärmung aktiv einzugreifen, so kurz, nämlich acht Jahre, und die Aufgabe so gewaltig, dass wir uns nicht zwischen Einsparen und Aufforsten entscheiden können. Wir müssen beides tun, um eine reale Chance zu haben, den Fieberanstieg der Erdatmosphäre zu verlangsamen.



Die gute Botschaft daran ist, dass wir bereits sehr genau wissen, welche Verhaltensmuster im eigenen Leben und welche globalen Systeme (Energiegewinnung, Verkehr, Landwirtschaft, Fleischwirtschaft …) umgestellt werden müssen und wie das geschehen kann. Auch die Wirkung einer globalen Aufforstung ist inzwischen erforscht. Sie könnte sofort im großen Stil betrieben werden. In Kapitel 8 werde ich konkret auf beide Möglichkeiten eingehen.



Für den Moment ist es mir aber wichtiger, ganz allgemein darauf hinzuweisen, dass wir dem Erdfieber nicht willenlos ausgeliefert sind. Wir kennen bereits entscheidende Heilmittel, und ich bin sicher, dass die kollektive Erschütterung, die die Diagnose einer Erkrankung der Erde bewirkt, einen ungeheuren kreativen Prozess in Gang setzen wird. Dieser kann heilsame Ideen, kreative Lösungsansätze und vielleicht noch ganz andere Kräfte hervorbringen, die jetzt noch gar nicht voraussehbar sind. Hölderlin sagt: »Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch.«







Fragen zur eigenen Reflexion





• Wie bewusst ist mir die Dynamik des Klimawandels?



• Welche Rolle spielt er in meiner Innenwelt

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