Die verkannten Grundlagen der Ökonomie

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Die verkannten Grundlagen der Ökonomie
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Riane Eisler

Die verkannten Grundlagen der Ökonomie

Wege zu einer Caring Economy

Mit einem Geleitwort von Ernst Ulrich von Weizsäcker

Aus dem Amerikanischen übertragen von Ulrike Brandhorst und illustriert von Christina S. Zhu


ISBN (Print) 978-3-96317-215-1

ISBN (ePDF) 978-3-96317-747-7

ISBN (ePUB) 978-3-96317-748-4

Copyright © 2020 Büchner-Verlag eG, Marburg Coverabbildungen und sämtliche Illustrationen: Christina S. Zhu. Der Essay ist die gekürzte und überarbeitete Fassung der amerikanischen Erstausgabe, die unter dem Titel The Real Wealth of Nations: Creating a Caring Economics 2007 in San Francisco bei Berrett-Koehler erschienen ist.

Das Werk, einschließlich all seiner Teile, ist urheberrechtlich durch den Verlag geschützt. Jede Verwertung ist ohne die Zustimmung des Verlags unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

www.buechner-verlag.de

Inhalt

Geleitwort

Vorwort: Der Weg zu einer realitätstauglichen Wirtschaft

 – Ein Bewusstseinswandel verändert unsere Lebenswirklichkeit

 – Ein kurzer Ausblick auf die folgenden Kapitel

1  1 Warum wir Wirtschaft neu denken müssen

 – 1.1 Womit sich die Ökonomie eigentlich beschäftigen sollte

 – 1.2 Die Wirtschaft neu vermessen

 – 1.3 Kultur, Wirtschaft und Werte

 – 1.4 Der Care-Wert

 – 1.5 Die Schaffung einer Caring Economy

 – 1.6 Die sechs Grundpfeiler einer Caring Economy

1  2 Wirtschaft im Weitwinkel

 – 2.1 Die gesellschaftlichen Grundlagen der Wirtschaft

 – 2.2 Das Dominanz- und das Partnerschaftssystem

 – 2.3 Das unsichtbare Bewertungssystem

1  3 Der Doppelstandard in der Wirtschaft

 – 3.1 Blind für das Offensichtliche

 – 3.2 Geschichten, mit denen wir leben und sterben

 – 3.3 Die Entfremdung der Care-Arbeit

 – 3.4 Wirtschaftskennzahlen, die Fürsorge und Care-Arbeit berücksichtigen

1  4 Zusammenhänge verstehen

 – 4.1 Neue gesellschaftliche und wirtschaftliche Rahmenbedingungen

 – 4.2 Dominanzgeprägte Strukturen

 – 4.3 Dominanzgeprägte Wirtschaftssysteme

 – 4.4 Partnerschaftliche Strukturen

 – 4.5 Antriebskräfte in der Gesellschaft

 – 4.6 Partnerschaftliche Strukturen, Werte und Beziehungen

 – 4.7 Partnerismus in Nordeuropa

 – 4.8 Die Schaffung gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Institutionen

1  5 Ökonomie der Unterwerfung

 – 5.1 Unser grausames wirtschaftliches Erbe

 – 5.2 Unmenschliche und ineffiziente Wirtschaft

 – 5.3 Die Verstetigung von Hunger und Armut

 – 5.4 Die Wirtschaft des Privathaushalts

 – 5.5 Künstliche Knappheit

 – 5.6 Die Eroberung der Natur

1  6 Ökonomie der Partnerschaft

 – 6.1 Die kapitalistische Sichtweise

 – 6.2 Die sozialistische Sichtweise

 – 6.3 Revolution und Rückentwicklung

 – 6.4 Von Kapitalismus und Sozialismus zum Partnerismus

 – 6.5 Wirtschaft und Beziehungen

 – 6.6 Wie können wir Wirtschaft neu denken?

 – 6.7 Die Struktur wirtschaftlicher Institutionen

1  7 Technologien, Arbeit und das postindustrielle Zeitalter

 – 7.1 Technologien und die Zukunft der Arbeit

 – 7.2 Gebrauch und Missbrauch von Technologien

 – 7.3 Von Distanz zu Fürsorge

 – 7.4 Technik neu betrachtet

 – 7.5 Technologische Fantasien und globale Realitäten

1  8 Wer wir sind und wo wir stehen

 – 8.1 Was uns die Neurowissenschaft über die Wirtschaft lehrt

 – 8.2 Wirtschaft, Politik und Stress

1  9 Die Care-Revolution

 – 9.1 Von der Bewusstmachung zur Aktion

 – 9.2 Die Dringlichkeit einer ökonomischen Neuordnung

 – 9.3 Was Regierungen und Unternehmen tun können

 – 9.4 Was die sozialen Bewegungen tun können

 – 9.5 Die Dynamik der Transformation

 – 9.6 Was wir selbst tun können

 – 9.7 Das Entwicklungspotenzial von Mensch und Wirtschaft

Literatur

Dank

Endnoten

 – 1 Warum wir Wirtschaft neu denken müssen

 – 2 Wirtschaft im Weitwinkel

 – 3 Der Doppelstandard in der Wirtschaft

 – 4 Zusammenhänge verstehen

 

 – 5 Ökonomie der Unterwerfung

 – 6 Ökonomie der Partnerschaft

 – 7 Technologien, Arbeit und das postindustrielle Zeitalter

 – 8 Wer wir sind und wo wir stehen

 – 9 Die Care-Revolution

Geleitwort

Riane Eisler wurde 1987 weltberühmt durch ihren Bestseller Kelch und Schwert – weibliches und männliches Prinzip in der Geschichte. Der Anthropologe Ashley Montagu nannte Eislers Buch »das wichtigste Buch seit Darwins Ursprung der Arten«. Ihr Buch konfrontierte das mit einer Primitivversion von Darwins »Kampf ums Dasein« verwandte Dominanzsystem, das letztendlich von Angst oder Gewalt geprägt ist. Als Gegenpol formulierte Riane Eisler das Partnerschaftssystem. Dieses bringt die menschliche Gemeinschaft (Frauen und Männer jeden Alters) in eine neue Balance, in der auch Hierarchie und Führung von Partnerschaftlichkeit – also gegenseitigem Respekt und Fürsorge – geprägt sind, womit es allen besser geht.

Riane Eisler ist mit ihren Eltern als siebenjähriges Kind vor den Nationalsozialisten aus Wien geflohen, erst nach Kuba, dann in die USA, wo sie eine glanzvolle akademische Karriere gemacht hat. Kampf ums Dasein ist für sie auch die Schreckenserinnerung an das, was sie als Kind gesehen hat.

Die heutige Ökonomie hat eine starke darwinistische Schlagseite. Der Starke gewinnt und soll gewinnen. Das nennt man dann Fortschritt. Der »Wohlstand der Nationen« wird seit Adam Smith, 80 Jahre vor Darwin, von den Ökonomen nach dem geldwerten Gesamtwohlstand gemessen. Seit 1934 gibt es das Bruttoinlandsprodukt (BIP), das im Kern ein bloßer Indikator für Geldumsätze ist. So stärkt zum Beispiel jeder Verkehrsunfall den Umsatz, also das BIP, aber nicht den Wohlstand.

Kampf ums Dasein und schierer Umsatz charakterisieren das Dominanzsystem und sind doch nicht das, was wir wollen, sagt Riane Eisler im vorliegenden Buch. Die Messlatte des Erfolgs ist bei beiden Fällen das Prinzip der den Männern zugeschriebenen Arbeiten. Im Partnerschaftssystem haben die versorgenden, zugewandten und pflegenden Arbeiten – typischerweise Frauen zugeschrieben – ein viel größeres Gewicht, auch in der Welt der Ökonomie. Riane Eisler sieht die Gleichberechtigung nicht darin, dass Frauen möglichst viele derzeitige Positionen und Funktionen von Männern erobern. Ihr kommt es darauf an, dass die heute außerhalb des BIP blühenden gemeinschaftstragenden Fähigkeiten und Arbeiten gleichberechtigt werden, in der Anerkennung, im Status und auch monetär.

Der amerikanische Titel ihres Buches ist The Real Wealth of Nations. Eisler geht es eben nicht um den konventionell definierten Wohlstand, sondern um den wahren Wohlstand. Es geht um einen Wohlstand, bei welchem weder Frauen noch Männer diskriminiert werden, sondern die Fülle ihrer Talente nutzen können. Übrigens muss auch die Natur als Teil des Wohlstandes gesehen werden und nicht als zur Plünderung freigegebene Erzgrube.

Die Autorin kritisiert natürlich auch die heutige Art von Dominanzökonomie. Diese schafft künstlich Knappheiten, damit die Preise hochgehen. Oligopole schaffen das besonders gut. Sie zitiert auch Befunde, dass Kinder, die in Dominanz-Elternhäusern aufwachsen, feindselig und zugleich ängstlich gestimmt sind.

Das Kontrastprogramm dazu ist die Partnerschaftsökonomie. Sie ist der Inhalt des zentralen siebten Kapitels des Buches. In der Partnerschaftsökonomie achtet man darauf, dass möglichst viele am Wohlstand teilhaben. Man kümmert sich umeinander. Eltern kümmern sich um ihre Kinder und genießen das. Sie werden dafür nicht bezahlt, jedenfalls nicht von den Kindern. Es ist eine soziale Ökonomie, eine caring economy. Die verlangt natürlich auch einen deutlich höheren Rechtsschutz. Und der nationale Wohlstandsindikator soll die vielfach unbezahlten Leistungen der Partnerschaft und Fürsorge endlich angemessen berücksichtigen – und damit das BIP als einzigen Messwert überwinden.

Die Technologie erlebt ja ständige Wandel. Es fügt sich gut, dass der heutige Trend den Wert der Information erhöht. Hier gibt es keine Knappheiten. Informationsaustausch kann auch Informationspartnerschaft sein. Auch wenn Vorsicht geboten ist, denn die Digitalisierungswelt schafft extrem machtvolle Dominanzen!

Unsere junge Generation ist aufgerufen, sich um Riane Eislers Ideen zu kümmern, sich politisch dafür zu engagieren: für die Zukunft einer partnerschaftlichen Zivilisation. Das wäre sicher der größte Wunsch der Autorin.

Ernst Ulrich von Weizsäcker

Emmendingen, 1. September 2020

Vorwort: Der Weg zu einer realitätstauglichen Wirtschaft

Während ich diese Einleitung zu Die verkannten Grundlagen der Ökonomie schreibe, wütet weltweit die Covid-19-Pandemie, besonders hier in den USA, wo ich lebe. Hier haben wir nicht nur weltweit die höchste Zahl an Corona-Toten, sondern auch eine enorm hohe Arbeitslosenrate, die einhergeht mit einer explodierenden Zahl an Zwangsräumungen, Konkursen, Obdachlosigkeit, Armut und Hunger, während gleichzeitig die US-Aktienmärkte weiter nach oben schießen. Doch die Pandemie zwingt uns nicht nur in den reichen Nationen, unser »altes Normal« zu hinterfragen. Der Zusammenbruch der globalen Wirtschaft hat weltweit die Strukturfehler unseres derzeitigen Systems aufgedeckt, das weder nachhaltig, noch gerecht ist und in dem eine realitätsferne Politik sowie realitätsuntaugliche Regeln, Anreize und Praktiken herrschen.

Dieses Buch zeigt neue Perspektiven auf, die es uns erlauben, Wirtschaft über den konventionellen Tellerrand hinausgehend zu betrachten. Es benennt die verkannten Grundlagen der Ökonomie und macht deutlich, dass wir unsere Wirtschaft weder realitätstauglicher noch nachhaltiger gestalten können, solange wir diese Grundlagen nicht mitberücksichtigen. Dabei liefert dieses Buch auch die Bausteine, die wir für ein nachhaltiges und gerechtes Wirtschaftssystem benötigen, und zeigt uns Handlungsoptionen auf, mit denen wir ein solches System erreichen können.

Ich lade Sie dazu ein, die auf den folgenden Seiten aufgeführten neuen Perspektiven kennenzulernen und anzuwenden, und bitte Sie darum, dieses Buch unvoreingenommen und mit unverstelltem Blick zu lesen, denn wir werden hier Themengebiete behandeln, die weit über das hinausgehen, was herkömmlicherweise unter dem Begriff »Wirtschaft« verstanden wird. Darüber hinaus bitte ich Sie, beim Lesen immer im Hinterkopf zu behalten, was für Sie im Leben am Wichtigsten ist und was Sie sich im Leben am Sehnlichsten wünschen.

Ein Bewusstseinswandel verändert unsere Lebenswirklichkeit

Dieses Buch, Die verkannten Grundlagen der Ökonomie, hat sich aus der Grundannahme heraus entwickelt, dass wir – wie Einstein erklärte – Probleme nicht mit der gleichen Denkweise lösen können, mit der wir sie geschaffen haben. Diese Grundannahme war der Ausgangspunkt für die Arbeit, die ich in den letzten vier Jahrzehnten verfolgt habe.

Mein Buch Kelch und Schwert. Unsere Geschichte, unsere Zukunft hat in den USA mittlerweile die 57. Auflage erlebt und wurde in 27 Sprachen übersetzt – unter anderem auch ins Deutsche. Darin führe ich eine neue Sichtweise bei der Betrachtung sozialer Systeme ein, die uns hilft, diese besser zu verstehen und herauszufinden, wie wir die Grundlagen für eine gerechtere und nachhaltigere Welt schaffen können. Diese Sichtweise, die den Analyserahmen für all meine Bücher und Aufsätze bildet, unterscheidet soziale Systeme in die Kategorien »Partnerschaftssysteme« (Systeme, in denen gegenseitiger Respekt herrscht) und »Dominanzsysteme« (Systeme, die durch eine Top-Down-Kontrolle gekennzeichnet sind).

Diese gesellschaftswissenschaftlichen Kategorien (bzw. diese Partnerschaft-Dominanz-Skala) sind integrale Bestandteile einer Kulturtransformationstheorie, die ich in früheren Büchern eingeführt habe. Sie bilden die Grundlage dafür, dysfunktionale wirtschaftliche Strukturen, Regeln und Praktiken zu verstehen und zu verändern. Betrachtet man Systeme unter dem Gesichtspunkt dieser Kategorien, wird nämlich klar, dass dysfunktionale wirtschaftliche Strukturen, Regeln und Praktiken in dominanzgeprägten Traditionen wurzeln, was in kapitalistischen wie sozialistischen Wirtschaftstheorien gleichermaßen zu einer verzerrten Wahrnehmung geführt hat.

Kapitalismus und Sozialismus sind in der Frühzeit der Industrialisierung im 18. und 19. Jahrhundert entstanden. Das allein wäre schon Grund genug, sie als zu veraltet für die Herausforderungen der postindustriellen Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts zu betrachten. Doch das Problem wurzelt noch viel tiefer.

Weder Familien noch Politik, Bildung, Religion oder eben auch Wirtschaft entstehen in einem luftleeren Raum. Wirtschaft wird von Menschen geschaffen und wird von den Werten und Ansichten innerhalb der Gesellschaft bestimmt, zu der die jeweilige Wirtschaft gehört. Das Problem besteht darin, dass sowohl Adam Smith als auch Karl Marx ihre kapitalistische bzw. sozialistische Wirtschaftslehre in Zeiten entwarfen, in denen man sich in Europa und anderswo noch stark am Dominanzende der Partnerschafts-Dominanz-Skala orientierte.

Dabei waren sowohl Kapitalismus als auch Sozialismus eigentlich Versuche, eine dominanzgeprägte Wirtschaft hinter uns zu lassen, die uns den Großteil der überlieferten Geschichte begleitet hat – angefangen von der Top-Down-Wirtschaft der Stammesführer über die der chinesischen Kaiser und nahöstlichen Scheichs bis hin zu den europäischen Feudalherren. Smith stellte den Merkantilismus bzw. die durch Könige und Hofbeamte ausgeübte Top-Down-Kontrolle der Wirtschaft infrage. Marx wiederum übte Kritik am Kapitalismus und an der Ausbeutung der arbeitenden und bäuerlichen Bevölkerung durch die so genannten Adligen und die immer stärker wachsende Bourgeoisie.

Allerdings schenken weder die kapitalistische noch die sozialistische Wirtschaftslehre der Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen oder der essentiellen Bedeutung des Umweltschutzes in irgendeiner Form Beachtung. In beiden Theorien wird die Natur lediglich als Objekt betrachtet, das es zu beherrschen und auszubeuten gilt. Smith träumte von unbegrenztem Wirtschaftswachstum, das sich unter der Leitung der unsichtbaren Hand des Marktes und der Verfolgung reiner Eigeninteressen entfalten sollte. Die Vision von Marx beinhaltete eine grenzenlose Expansion der Industrie kontrolliert von der Diktatur des Proletariats.

Die überlebensnotwendigen Haushalts- und Pflegearbeiten wie die Versorgung von Kindern und Kranken oder die Führung eines sauberen und gesunden Haushalts galten sowohl für Smith als auch für Marx eher als »reproduzierende« denn als »produzierende« Tätigkeiten. Keiner von beiden erkannte den Wert der Fürsorgearbeit, angefangen von der Säuglingspflege bis hin zur Pflege der Alten und Kranken. Auch der wirtschaftliche Wert eines sauberen und gesunden Wohnumfelds entging ihnen vollständig, was sich auch auf ihre Einstellung gegenüber dem Umweltschutz – also die Pflege des natürlichen Umfelds übertrug. Für sie war die Sichtbarmachung dieser »Frauenarbeit« kein Thema, denn diese sollte umsonst in von Männern kontrollierten Haushalten geleistet werden.

Noch Mitte des 19. Jahrhunderts, als Marx über den Sozialismus schrieb, galt sowohl die in Privathaushalten als auch die auf dem Markt geleistete Arbeit von Frauen rechtlich als das Eigentum ihrer Väter bzw. Ehemänner. Wenn eine Frau fahrlässig verletzt wurde, konnte sie keine Klage deswegen einreichen, während ihr Ehemann das Recht hatte, Schadensersatz für die ihm dadurch entgangenen Dienstleistungen einzufordern.

Heute gelten Frauen – zumindest in einigen Teilen der Welt – nicht mehr als Eigentum ihrer Väter oder Ehemänner. Aber die Abwertung von Care-Arbeit, also Fürsorge- und Pflegearbeit, ist in der Wirtschaft immer noch die Norm, weil Kapitalismus wie Sozialismus auf einem Wertesystem beruhen, das Menschen je nach Geschlecht mit unterschiedlichem Maß misst. In den meisten Teilen der Welt wird immer noch davon ausgegangen, dass die Arbeit, die Frauen in Haushalten leisten, unbezahlt erbracht wird – und auch die auf dem Markt übliche Bezahlung von Pflegekräften ist jämmerlich gering: So verdienen laut US-Arbeitsministerium Menschen, die als Hundesitter arbeiten, mehr als Menschen, die in der Kinderbetreuung tätig sind.

 

Die aktuellen Wirtschaftskennzahlen wie zum Beispiel das Bruttoinlandsprodukt (BIP) machen deutlich, dass auch der Schutz und die Pflege unserer natürlichen Lebensgrundlagen allgemein immer noch als irrelevant für die Wirtschaftsleistung betrachtet werden. Aus diesem Grund werden auch von Unternehmen verursachte Umweltschäden im Wirtschaftsjargon als »Externalitäten« bezeichnet, obwohl es ohne die natürlichen Lebensgrundlagen überhaupt keine Wirtschaft gäbe. Gleiches gilt für Schäden, die Menschen, darunter auch zukünftige Generationen, durch Aktivitäten entstehen, die im BIP als »produktive Aktivitäten« betrachtet werden.

Dadurch, dass unser Wirtschaftssystem auf derart irrationalen Prämissen fußt, fehlt ihm jeglicher Bezug zur Realität. Das bedeutet, dass wir Wirtschaft von Grund auf neu denken müssen und das bedeutet wiederum, dass wir dabei Bereiche berücksichtigen müssen, über die uns beigebracht wurde, dass sie rein gar nichts mit Wirtschaft zu tun hätten: nämlich diejenigen Bereiche, die – wie wir auf den folgenden Seiten sehen werden –, die eigentliche Grundlage der Wirtschaft darstellen.

Ein kurzer Ausblick auf die folgenden Kapitel

Dieses Buch beschreibt die Kernelemente einer Caring Economy des Partnerismus, einem neuen Wirtschaftssystem, das Partnerschaftselemente aus Kapitalismus und Sozialismus integriert, jedoch über diese hinausgeht, da es den wirtschaftlichen Wert von Umweltschutz sowie von Pflege und Fürsorge, beginnend in der frühesten Kindheit, (an)erkennt. In den folgenden Kapiteln wird beschrieben, was notwendig ist, um in unserer postindustriellen Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft ein gerechtes und nachhaltiges Wirtschaftssystem zu schaffen, wobei von der Prämisse ausgegangen wird, dass ein Wirtschaftssystem das Wohlergehen und das Glück der Menschen fördern sollte.

In Kapitel 1 gehen wir über den engen Bereich der Wirtschaftsbeziehungen hinaus, die in konventionellen sozialistischen und kapitalistischen Modellen berücksichtigt werden. Hier wird die erste der fünf Grundlagen einer Caring Economy vorgestellt: Ein umfassendes und realitätsgetreues Wirtschaftsmodell, in dem die überlebensnotwendigen Beiträge von Privathaushalten, Kommunen und Natur berücksichtigt werden. Dabei wird deutlich, dass wir den Blickwinkel weiten und über den herkömmlichen Wirtschaftsbegriff hinausdenken müssen, wenn wir ein realitätsnäheres, gerechteres und nachhaltigeres Wirtschaftssystem schaffen wollen.

Aus diesem erweiterten Blickwinkel heraus betrachten wir die Wirtschaft in Kapitel 2 in ihrem umfassenderen kulturellen Kontext, was uns zur zweiten Grundlage einer Caring Economy führt: den kulturspezifischen Überzeugungen und Institutionen, in denen Fürsorge und Fürsorgearbeit ein hoher Wert beigemessen wird. In diesem Kapitel werden die Kategorien des Partnerschafts- bzw. Dominanzsystems eingeführt, bislang ausgeblendete Zusammenhänge sichtbar gemacht und neue Standards und Regeln für die Messung dessen vorgestellt, was wir als wirtschaftlich für wertvoll erachten. Zudem wird in Kapitel 2 deutlich, inwiefern all diese Fragen einen direkten Einfluss auf unser Leben und auf die Zukunft unserer Kinder und unseres Planeten haben.

In den darauffolgenden Kapiteln 3 und 4 führe ich zwei weitere Grundlagen des Partnerismus ein, nämlich zum einen wirtschaftliche Regeln, Maßnahmen und Praktiken, die auf Fürsorge beruhen, und zum anderen Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen, die eher partnerschaftliches als dominanzgeprägtes Verhalten fördern. Auch in diesen Kapiteln wird der Zusammenhang zwischen unserem Alltagsleben, unserer Wirtschaft und unseren kulturellen Werten und Normen hergestellt. Sie zeigen, wie Problemlösungen, Kreativität und Unternehmertum durch eine auf Fürsorge basierende Politik und Praxis unterstützt werden und welche enormen Vorteile für Menschen, Unternehmen und unsere natürliche Mitwelt daraus erwachsen.

Dabei greifen wir auf die Arbeit fortschrittlicher Wirtschaftsdenker und Wirtschaftsdenkerinnen zurück und betreten dabei in Hinblick auf Arbeit, Werte und Leben ein spannendes Neuland. Um dem Begriff der produktiven Arbeit in einer postindustriellen Wirtschaft gerecht zu werden, definieren wir ihn neu, denn in der postindustriellen Gesellschaft besteht das wichtigste Kapital in dem, was in der Wirtschaftswissenschaft als »hoch qualifiziertes Humankapital« bezeichnet wird. Darüber hinaus berücksichtigen wir auch den Schutz unserer heute im Wirtschaftsjargon als »Naturkapital« bezeichneten natürlichen Lebensgrundlagen.

Außerdem begeben wir uns auch auf eine Reise in die Vergangenheit und stellen überlieferte toxische Mythen und Werte auf den Prüfstand, denn darin offenbaren sich versteckte Gender-Doppelstandards, die wir aus früheren, wirtschaftlich ungerechteren und ineffizienteren Zeiten übernommen haben. Dabei erkennen wir, dass diese Gender-Doppelstandards auch zu einem Doppel-Standard in der Wirtschaft und damit zu einer nicht nachhaltigen Art des Lebens und Arbeitens geführt haben – und machen uns auf die Suche nach gesünderen Alternativen.

Die enormen Kosten für Mensch, Gesellschaft, Wirtschaft und Umwelt, die durch unsere herkömmlichen wirtschaftlichen und politischen Systeme verursacht werden, untersuchen wir in Kapitel 5 – ebenso wie die Unfähigkeit dieser Systeme, mit den Herausforderungen, die vor uns liegen, zurechtzukommen. Dabei wird deutlich, dass viele Probleme, zwischen denen (wie uns beigebracht wurde) kein Zusammenhang besteht, aus überlieferten Dominanztraditionen heraus entstanden sind, was uns erlaubt, grundlegende Themen ausfindig zu machen, die herkömmliche Denkweisen und Kategorisierungen ausgeblendet haben.

In Kapitel 6 suchen wir nach dem Weg zu einer Caring Economy des Partnerismus. Das Kapitel skizziert kurz die Entstehungsgeschichte der modernen Wirtschaftslehren, welche die Grundlage und die Grundprinzipien für die Entwicklung eines neuen konzeptuellen Rahmens liefern, der die besten Elemente von Kapitalismus und Sozialismus aufgreift, jedoch über diese beiden hinausgeht.

Das Thema von Kapitel 7 sind postmoderne, technologische Durchbrüche auf Gebieten wie der Robotik, der Biotechnologie und der Nanotechnologie sowie deren Auswirkungen auf unser Leben und Arbeiten. Hier wird eine neue Betrachtungsweise von Technologie und Technik eingeführt, bei der nicht jegliche technische Erfindung – vom Dosenöffner bis zur Atombombe – in die gleiche technologische Kategorie eingeordnet wird. Außerdem wird gezeigt, dass diese rasante technologische Entwicklung in dem epochalen Übergang in das postindustrielle Zeitalter den Wechsel zu einer Caring Economy sogar noch dringlicher macht.

In Kapitel 8 machen wir eine Bestandsaufnahme: Wo stehen wir und wohin können wir von hier aus gehen? Anhand faszinierender Erkenntnisse der Neurowissenschaft stellen wir fest, dass eine Caring Economy die Fähigkeiten in uns fördert, die wir im Laufe der Evolution ausgebildet haben und die uns als Menschen auszeichnen.

Wie jeder von uns diesen Wechsel zu einer menschlicheren, nachhaltigeren und wirtschaftlich effektiveren Zukunft in der Praxis beschleunigen kann, wird in Kapitel 9 behandelt. Zu diesen praktischen Schritten gehören neue Kennzahlen für die wirtschaftliche Gesundheit, die anders als das BIP (und die meisten BIP-Alternativen) auch die überlebensnotwendigen Beiträge sowohl aus den Privathaushalten als auch aus der Natur miteinbeziehen und zeigen, welch enormer wirtschaftlicher Wert aus Investitionen erwächst, die in diese nach unserer neuen Sichtweise als Grundlagen der Wirtschaft anerkannten Bereiche getätigt werden.

Mit diesem Buch will ich zum Diskurs und zum Handeln anregen. Die verkannten Grundlagen der Ökonomie wurde für alle Menschen geschrieben, die sich ein besseres Leben und eine bessere Welt wünschen. Es soll ihnen praktische Werkzeuge zur Erreichung dieser Ziele mit auf den Weg geben.

Ich bin überzeugt, dass wir gemeinsam das Wirtschaftssystem schaffen können, das wir uns wünschen und das wir brauchen: Ein Wirtschaftssystem, das Kreativität und Großzügigkeit anstelle von Gier und Zerstörungswut fördert. Alle Zeichen weisen darauf hin, dass dies die einzige Möglichkeit ist, die uns an diesem kritischen Punkt in der Entwicklung unserer Spezies und unseres Planeten bleibt. Wenn wir gemeinsam daran arbeiten, können wir unsere enorme menschliche Kreativität dazu verwenden, dieses Ziel zu erreichen, indem wir eine Caring Economy des Partnerismus und damit eine Grundlage für eine neue, gerechte und nachhaltige Normalität schaffen.

Riane Eisler

Carmel, 15. August 2020