Von einem Traum zum anderen

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Von einem Traum zum anderen
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Reinhold Ziegler

Von einem Traum zum anderen

Erzählung

Lektorat: Cornelia Krutz-Arnold

Ich versuch mich jetzt oft zu erinnern, wie alles angefangen hat. War wohl irgendwann im Herbst - Oktober, November oder so. Es hat auch nie richtig angefangen. Es war einfach so, daß sie immer wieder gekommen ist, jede Woche, immer am Montag. Sie kam rein, nahm den Spiegel aus dem Regal, legte das Geld hin und ging wieder, Woche für Woche. Ich kann mich nicht erinnern, daß sie oft was gesagt hätte oder gelacht - ja, doch, vielleicht zu Claudi mal ab und zu ein Wort.

Claudi ist meine Chefin, das kann man so sagen. Sie ist schon über sechzig, und ihr gehört der Schreibwarenladen, wo ich arbeite. Kein Job, mit dem man groß angeben könnte, Zeitschriften verkaufen und Hefte an Schulkinder, wirklich nicht, aber Claudi ist ’ne echt nette Frau. Wenn ich mal 'nen Morgen nicht aus dem Bett komm, schimpft sie nicht gleich los, auch wenn’s neun oder zehn wird. Ich war auch schon mal ’ne ganze Woche weg, hatte keine Lust. Wie ich wieder gekommen bin, hat sie bloß gesagt: »Ich kann’s dir aber nicht bezahlen, Jürgen.«

»Is’ klar«, hab ich gesagt, »das nächstemal sag ich Bescheid.« Dann war die Sache vergessen. Normal wärste bei sowas schon draußen. In ’ner richtigen Firma mein ich, oder so.

Wie ich mit 18 zu Hause raus bin, hab ich das auch erst alles lernen müssen. Zuerst bin ich immer ganz verrückt drauf gewesen, wenn’s viel Geld gab, hab mich echt kaufen lassen. Und dann mit meiner Steuerkarte. Ein Job unter dem anderen. Nie länger als ein, zwei Monate. Dazwischen ewig lang nichts. Ich hab einfach mein Geld aufgebraucht, bis ich nichts mehr zu essen hatte. Oder bis man mich aus dem Zimmer geschmissen hat, weil ich die Miete nicht mehr zahlen konnte. Dann bin ich in eine andere Gegend oder eine andere Stadt. Bruchsal, Pforzheim, Stuttgart. Der Laden von Claudi ist in Karlsruhe. Eigentlich Karlsruhe-Drosdorf. Das ist ein Stück außerhalb. Paar alte Häuser, die große Kirche, die Neubausiedlung und an der Hauptstraße auf die Stadt zu die Hochhäuser. Bei Claudi bin ich schon lange, über ein halbes Jahr.

Ich wollte aber erzählen, wie sie jeden Montag gekommen ist. Irgendwann hab ich sie mal mehr bemerkt, mehr wie halt sonst alle, die so durchlaufen. Sie hatte irre Augen, groß, dunkel und sehr schnell, wenn sie so rumgeguckt hat. Meistens hatte sie Jeans an und ’nen Pullover. War ein hübscher Körper, den sie da verpackt hatte, und ich habe angefangen, mich danach zu sehnen. Mich danach zu sehnen, ihr durch ihr kurzes schwarzes Haar zu struwweln oder neben ihr zu liegen und sie zu fühlen.

Bevor ich damals zu Hause raus bin, ist ’ne größere Sache in die Brüche gegangen, und seitdem war eigentlich nichts mehr. Nichts Richtiges. Ab und zu mal ’ne Zwischen-Tür-und-Angel-Bumserei, das hat aber mehr kaputt wie ganz gemacht.

Es hat angefangen, daß ich mich gefragt habe, wie sie wohl ist. Innendrin mein ich jetzt, nicht im Bett. Ob sie, ich weiß nicht, wie soll man das sagen, ob sie lieb ist vielleicht. Nicht so arrogant oder zickig oder unterwürfig oder wie ich’s halt nicht mag. Einfach lieb, wie’s nicht viele gibt.

Ich wollte sie immer mal fragen, ob wir nicht mal ’nen Kaffee trinken gehen könnten, oder ob sie mal Zeit hat. Aber irgendwie bin ich da zu schüchtern. Sie ist wohl auch zwei, drei Jahre älter, das hat mir auch nicht gerade Mut gemacht, obwohl’s ja saudumm ist.

Nach ’ner Weile war der Montag der Tag, wo ich am liebsten zur Arbeit bin. Hab oft richtig gewartet, bis ich sie durchs Fenster über die Straße kommen sah. Manchmal hab ich mir auch was zurechtgelegt, was ich sag, aber spätestens, wenn an der Tür die Glocke gegangen ist, hatte ich keinen Mut mehr. Hab auch schon mal überlegt, ob ich ihr das Buch schenk, mit Charlie Brown und dem kleinen rothaarigen Mädchen, aber auch dazu hat’s nicht gelangt. Ab und zu ist sie auch sonst mal gekommen, weil sie was anderes gebraucht hat.

Einmal, ich glaub, es war schon in diesem Jahr, hat sie ein Blatt gebracht und wollte fünfundzwanzig Kopien. Wir haben in einem kleinen Nebenraum einen Kopierer stehen. Ich bin da hin und hab das Blatt reingelegt und den Zähler auf 25 gestellt, da hat sie plötzlich in der Tür gestanden. Ich hab gedacht, jetzt sag ich was, weil sie auch so nett gelacht hat - ja, da hat sie wirklich mal gelacht -, hab aber dann bloß irgendeinen Scheiß geschwätzt, von wegen unsere Kopien wären halt doch ein bißchen teurer als in der Stadt und so. Das geht ja auch relativ schnell mit fünfundzwanzig Kopien, und wie sie wieder weg war und ich hatte wieder nichts rausgebracht, war ich völlig fertig. Ich hab dann zu Claudi gesagt, mir wär nicht gut, und bin gegangen. Erst bin ich in der Stadt rumgelaufen, aber dann doch nach Hause und hab mich aufs Bett gehauen und geheult.

Ich hab dann den Croce aufgelegt. Jim Croce I got a name. Das ist genau die Platte, da denk ich an sie. Ihre Platte. Da war mal ’ne Sendung - bei uns im Geschäft läuft ewig das Radio -, und da kam ein Gruß: »Von Maria an einen Jürgen aus Drosdorf.« Und dann kam genau die Platte.

Sicher, es gibt viele Jürgen in Drosdorf, ich wußte auch gar nicht, ob sie Maria heißt, aber ich hab’s mir mal eingebildet. Daß es von ihr war und für mich. Am selben Abend noch hab ich mir die Platte gekauft.

Das ging über Monate so, weiß nicht mehr, wie lang. Ich hatt es eigentlich aufgegeben. Hab nur noch immer drauf gehofft, sie mal in ’ner Kneipe zu treffen. Ich war oft im Depot oder in der Tangente damals, das waren so Orte, wo man ziemlich billig seinen Frust löschen konnte. Sie war nie da.

Es war Anfang Mai, kein Montag. Ich hatte sie nicht erwartet, aber sie stand plötzlich im Laden. Sie hat sich umgeschaut, irgendwas gesucht.

»Was suchst du, kann ich dir helfen?«

Sie hat mich ganz langsam, ganz von innen angeguckt. »Weiß nicht, hab’s vergessen.« Sie ist einfach wieder gegangen.

Ich Idiot frag sie: »Was suchst du?« Gerade das, »was suchst du?«

Am nächsten Tag ist ein Brief gekommen. War ziemlich komisch, hab nie Briefe gekriegt im Geschäft. Jürgen bei Schreibwaren Lohmann, Rheinstraße. Mußte ja ich sein, bin ja nur ich bei Claudi.

Innendrin war ein Zettel: Ich weiß nicht, was ich suche. Mach’s gut.

Hab sicher ’ne Weile gebraucht, bis ich überhaupt wußte, was Sache war. Dann war mir das schon klar, daß es nur von ihr sein konnte. Mir hat das Mut gegeben. Wenn ich mir das vorstelle, Mut hat mir das gemacht, nichts geahnt hab ich, kein bißchen. Hab die Claudi gefragt, ob sie sie kennt, die mit den kurzen schwarzen Haaren, die immer montags den Spiegel kauft.

Mit Namen oder so hat sie sie nicht gekannt, aber daß sie mit ’nem Mofa morgens in die Stadt fährt. Wenn die Claudi in der Früh zum Laden ist, hat sie sie oft gesehen.

Die Claudi hat auch gemeint, daß sie in den Hochhäusern wohnen muß, jedenfalls irgendwo die Richtung. Mir hat das Mut gemacht, der Zettel, und um sechs, wie wir den Laden zugemacht haben, bin ich mal so losgezogen in Richtung Hochhäuser. Wollte sie nicht eigentlich besuchen, hätte ja wohl auch kaum ’ne Chance gehabt, sie zu finden, nur mal da hin, mal da in die Nähe hin.>

Schon von weitem hab ich das blaue Zucken zwischen den Betonblocks gesehen. Da hab ich zum ersten Mal ein bißchen Angst gekriegt.

Mach’s gut, stand auf dem Zettel.

Und ich bin losgerannt.

Bin wie ein Verrückter hingerannt, und dann hab ich sie gesehen. Ganz zusammengekrümmt war sie auf der Bahre, wie sie sie gerade aus der Tür unten getragen haben. Und zwei sind gelaufen, vorn und hinten einer, und haben sie getragen, und einer hat eine Flasche hochgehalten, und eine Frau ist neben der Bahre her und hat geheult, und geschrien hat sie: »Maria, wach doch auf, was machst du denn, wach doch auf.« Und dann sind sie alle rein in den Notarztwagen, die Frau auch, und mit der Sirene sind sie dann davongefahren.

Ich merke, wie ich in ein schwarzes Loch falle, und ich kann nicht schreien oder weinen, ich falle einfach, falle tiefer und tiefer.

»Wo hat sie denn gewohnt?« hör ich mich sagen.

Und jemand gibt mir Antwort, 711, eine Nummer zur Antwort.

Ich fahre mit dem Aufzug in den siebten Stock, weiß nicht, was ich dort noch suche, 708, 709, blauer Teppichboden auf dem Gang, riesige Fenster am Ende, 710, 711. Die Tür steht einen Spalt offen, das Schloß ist ausgebrochen. Langsam drück ich die Tür auf. Innendrin zwei Polizisten, noch ein anderer Typ.

»Ich bin ihr Freund«, sag ich ganz leise.

Die drei drehen sich zu mir. Schweigen plötzlich, eisern, schauen mich an.

»Wissen Sie schon irgendwas?« sagt einer schließlich, der ältere von den Bullen.

Ich schüttel den Kopf, kann auf einmal gar nichts mehr sagen, jemand hält mich fest, wieder der Bulle, setzt mich irgendwo rein.

Ein Bett, ein kleiner Tisch, ein Schrank wie aus einem Kinderzimmer, an der Wand Apfelsinenkisten mit Büchern und Kram, viele Bilder. Beim Fenster das Cover der Croce-Platte. Hier lebt sie also, hat sie gelebt.

Der ältere Polizist zündet sich eine Zigarette an, gibt mir auch eine, gibt mir Feuer. »Tabletten, ein ganzer Haufen, wahrscheinlich schon gestern abend!«

»Wir wollen gehen hier«, sagt der eine Typ, der wohl der Hausmeister ist. »Was machen wir mit der Katze?«

Richtig, eine Katze. Schwarz-weiß, mit einem Stups auf der Nase. Sitzt ganz verängstigt neben mir in der Ecke.

»Ich nehm sie mit«, sag ich und hol sie hoch. Sie zittert am ganzen Körper.

Sie schauen sich an. »Na gut, geben Sie uns Ihre Adresse. Wenn Sie wollen, nehmen Sie sie, bis wir das andere regeln.«

 

Es ist nachts um elf jetzt. Ich bin zu Hause, oder besser in dem Zimmer, wo ich seit fünf Monaten wohne. Es ist bei so’ner alten Frau, der ich lieber aus dem Weg gehe. Jedesmal, wenn sie mich sieht - ich muß bei ihr in der Wohnung durch den Flur-, läßt sie irgendeine Bemerkung fallen. Von wegen Musik zu laut, oder dem Licht nachts, wegen Strom, oder so. Aber das Zimmer kostet nur 150,- DM, und meistens kriegt sie ihre Miete pünktlich. Schade, daß nicht alle alten Frauen so sind wie Claudi.

Ich hab nicht viel drin im Zimmer - von mir, mein ich. Ein Bett, ein Schrank und ein viel zu großer Schreibtisch waren schon drin, ein Nachttisch auch. Außerdem eine Kochplatte, ein Kühlschrank und in der Ecke ein Waschbecken. Von mir - an Möbeln, meine ich - ist eigentlich nur eine olle Kiste. Für mich ist das ein Möbel. Ich schleif sie seit bald drei Jahren mit rum, überall wo ich bin. Auf dem Speicher hab ich sie damals gefunden, als ich weg bin. Ist wohl ’ne Seekiste oder sowas. Recht massiv jedenfalls. Normal nehm ich die als Tisch, aber jetzt hab ich den Deckel runtergemacht und das Ding mit ein paar alten Zeitungen ausgepolstert, für die Katze.

Die Frau, die unten beim Wagen dabei gewesen war, war ihre Mutter. Die hat ’nen Brief gekriegt, ist hingefahren und hat sie gefunden. Aus Rastatt kommt die. Die Bullen wollten da noch unheimlich viel wissen, aber ich hab ja selbst nichts gewußt, und wenn, was hätt ich denn sagen können. Irgendwann hab ich’s nicht mehr ausgehalten da. Hab gesagt, sie hätten ja jetzt meine Adresse, und bin einfach gegangen, die Katze immer noch auf dem Arm. Dann bin ich bei Claudi vorbei und hab Bescheid gesagt, daß ich nicht komm heut und morgen auch nicht. Sie hat natürlich gefragt, was los ist, aber ich hab bloß gesagt, es ist jemand gestorben, den ich kannte, und da hat sie wohl gemerkt, daß ich nichts reden will, und hat nicht weiter gefragt.

Auf dem Rückweg hab ich noch für die Katze was zum Fressen gekauft, aber jetzt, wo ich ihr das auf meiner einzigen Untertasse vorsetz, will sie nichts. Ich glaube echt, die weiß, was passiert ist, ich bring auch nichts runter. Stundenlang geht das jetzt schon, daß ich hier sitz und mit der Katze rede. Zuerst ist sie durchs ganze Zimmer; jede Ecke hat sie beschnuppert, aber irgendwann ist sie zu mir aufs Bett gesprungen und liegt jetzt einfach da, hört mir zu.

Ich überleg mir, warum ich eigentlich so fertig bin. Ich kannte die doch kaum. Maria Wilder, komisch, jetzt hat sie auf einmal einen Namen. Vorher war sie immer die mit den schwarzen Haaren oder mit den lieben Augen, aber jetzt hat sie einen Namen, jetzt, wo sie tot ist. Ich weiß nicht, was ich suche. Monatelang kommt sie jede Woche, monatelang, und sagt nichts. Da muß doch was gewesen sein, die hat doch nicht einfach so den Zettel geschrieben. Und gekommen ist sie vorher, muß ja direkt vorher gewesen sein. Zu mir ist sie gekommen und hat gesucht und wußte nicht, was. Sie hätte doch nur zu lachen brauchen oder irgendwas, was weiß ich. Aber ich hab schließlich den Mund auch nicht aufgebracht. Scheiße. Wenn ich Idiot gewußt hätte, daß sie vielleicht darauf gewartet hat.

Vorsichtig leg ich die Katze in die Kiste und geh ins Bett. Nach einer Weile merk ich, wie sie aufs Bett springt und sich dann auf meine Füße legt. Auch gut. Ich kann nicht einschlafen, versuch mir zu sagen, daß es mit mir eigentlich nichts zu tun hat. Aber irgendwas hat es mit mir zu tun. Alles hat mit jedem zu tun. Ich frag mich, wofür ich eigentlich noch gut bin, wofür eigentlich alles gut ist. Vielleicht hat sie es richtig gemacht, die Maria.

Am nächsten Morgen wache ich sehr früh auf. Es regnet. Ich mach mir Kaffee und eß ein bißchen was. Die Katze frißt jetzt auch, ich glaube, sie hat sich eingewöhnt. Ich schau ihr lange zu, wie sie vor der Untertasse sitzt und sich dann streckt und putzt. Bestimmt hat sie auch nicht gut geschlafen.

Mir fällt ein, was ich vor dem Einschlafen noch gedacht habe. Ich werd Schluß machen, aber nicht so. Ich will Weggehen von hier. Ich will suchen. Irgendwas muß es doch geben! Aber jetzt ist nicht mehr Nacht, jetzt ist Morgen. Ich weiß nicht, ob der Entschluß von heute nacht noch zählt, muß darüber nachdenken. Ich wasche mich, leg eine Platte auf und geh wieder ins Bett. Erst wollte ich den Croce auflegen, aber das hätte keinen Sinn mehr.

In der Nacht hab ich zuwenig geschlafen, mir fallen immer wieder die Augen zu. Draußen ist’s eh trübe, und die dicken Vorhänge lassen auch das kaum durch. Irgendwann weckt mich ein hysterisches Klopfen. Meine Vermieterin steckt den Kopf rein: »Sie schlafen wohl noch?« Da wäre eine Frau hier für mich. Ich zieh mir was an, sag, sie soll sie reinbringen. Es ist Marias Mutter, ich erkenne sie sofort. Sie schaut sich so komisch um, vielleicht wie jemand, der zum erstenmal ein Amt betritt, ein Gericht oder so. Sie ist klein, mir bis zur Schulter etwa, ein bißchen dick auch. »Wilder, mein Name«, sagt sie nach ’ner Zeit. Und dann: »Was ist passiert?« Steht einfach da und fragt mich, was passiert ist. »Ich komm von der Polizei, die haben gesagt, Sie sind ihr Freund gewesen, die hatten Ihre Adresse da.«

Ihr Freund, klar, das hab ich den Bullen gesagt, was sollte ich sonst sagen.

»Sind Sie ihr Freund?«

Ich erzähl ihr alles, von dem Brief mit dem Zettel und daß ich sie eigentlich kaum gekannt hab. Und dann erzähl ich immer mehr, von Claudi und dem Geschäft und wie sie immer kam, montags. Von den Hochhäusern erzähl ich und vom blauen Zucken des Krankenwagens. Und von der Katze.

»Ja, richtig, die Katze, die haben erzählt, Sie hätten die.«

Ich merk, daß wir noch immer stehen, und sag ihr, sie kann sich aufs Bett setzen, wenn sie will. Ob sie ’nen Tee oder Kaffee mag vielleicht, frag ich. »Ja, gerne«, sagt sie. Ich frag noch mal nach. »Tee bitte.« Normal frag ich dann gleich, welchen, und präsentiere meine siebzehn Sorten, aber das kommt mir lächerlich vor, jetzt. Ich nehm einfach irgendeinen. Wie ich’s Wasser aufsetz, merk ich, daß ich ja außer meiner Tasse nur noch den ollen Blechbecher hab. Ich geh raus und frag die Vermieterin, die grad ganz zufällig im Gang vor meiner Tür steht, ob sie mir ’ne Tasse leihen kann.

»Oder besser zwei«, meine ist eh noch dreckig von heut morgen.

Ich geh zurück und stell der Frau eine Tasse nebens Bett. Sie sitzt ganz still da, streichelt die Katze, und über ihr Gesicht laufen Tränen. »Wie sie die gekriegt hat, vor vier Jahren, da hat sie sie Truschka genannt. Ich weiß noch genau, sie hat dagesessen mit dem kleinen Ding und hat gesagt: Ich werde dich Truschka nennen, denke ich, ja, genau das hat sie gesagt. Truschka, was soll das denn überhaupt für ein Name sein, Truschka?«

Sie schaut mich an, weint noch immer. Ich würde sie gerne trösten irgendwie, ihr übers Haar streicheln oder sie in den Arm nehmen oder nur irgendwas sagen, aber ich trau mich nicht, hab ’nen Kloß im Hals. Das Wasser kocht, und ich geh den Tee aufgießen.

»Der Brief kam erst gestern, es war schon zu spät. Warum bloß? Sie hätte doch zu mir gekonnt, einfach nach Hause wieder.« Verstohlen wischt sie sich in den Augen, sie schämt sich jetzt wohl. Ich denk an das einfach nach Hause, wenn das so einfach wäre.

Wir trinken Tee noch, ich sitze auf dem Kistenrand. Viel haben wir nicht mehr geredet. Am Schluß entschuldigt sie sich, daß sie mich gestört hat. Ich bin ziemlich fertig.

Sie arbeitet den ganzen Tag, hat sie erzählt, und die Katze könnte sie nicht nehmen und will sie auch nicht immer so vor sich sehen. Ich soll sie behalten, wo sie schon mal hier ist und sich wohlfühlt.

Jetzt ist es entschieden. Gestern abend hat’s noch einen furchtbaren Krach mit dem Hausdrachen gegeben. Sie ist gekommen, um die Tassen wiederzuholen, und hat Truschka gesehen. Da hat sie schon rumgenörgelt. Ich hab ihr natürlich nichts erzählt, lieber hätt ich mir die Zunge weggebissen. Aber das Schärfste war, wie sie noch am Meckern ist, setzt Truschka sich vor sie auf den Teppich, ihren schönen, wertvollen, vermotteten Teppich, und scheißt einfach drauf. Ich hatte natürlich nicht dran gedacht, daß so Viecher auch mal müssen. Da war dann was los. Ich hab mir die Schreierei nicht lange angehört, hab dann einfach gesagt, zum fünfzehnten zieh ich aus. Ist eh noch eine Woche. Bis dahin werd ich schon sehen.

Bei Claudi war ich auch. Ich hab alles erzählt und daß ich aufhör bei ihr und weggehe. Sie ist echt anständig. Hat den ganzen Monat noch bezahlt, weil ich ja praktisch wie krank sei, das wäre schließlich egal, ob das im Körper ist oder in der Seele. Und kommen kann ich auch wieder, wenn ich will. Eigentlich ist es saublöd, vielleicht - vielleicht nicht. Aber ich hab mich jetzt entschieden.

Es sind ein paar Tage vergangen inzwischen, und es ist noch einiges passiert. Ich sitze gerade auf einer Leitplanke, hier an der Ausfahrt in Karlsruhe. Neben mir mein roter Rucksack, voll mit Klamotten und allem, was du halt so brauchst. Daneben ein kleiner Korb mit Truschka. Die Alte vom Zimmer hat ihn mir gegeben.

War noch ganz komisch, wie ich weg bin. Sie hat mir ’nen Leiterwagen geliehen, wie ich meine Kiste zu Claudi gebracht hab. Immer hat sie rumgemeckert, aber ich glaub, jetzt war sie fast traurig, daß ich weg bin. Vielleicht ist sie doch nicht so eklig.

Der Claudi hab ich die Kiste hingestellt und hab gesagt, wenn ich in zehn Jahren nicht wieder da bin, könnte sie die wegschmeißen. Ich glaub fast, sie hat das ernstgenommen, jedenfalls hat sie ganz erschrocken geschaut.

Es ist verdammt still hier morgens. Die Ausfahrt liegt sowieso im Wald, und so früh morgens ist da kaum was los. Mir ist es fast recht so. Ich weiß eh nicht genau wohin. Richtung Frankfurt erstmal, steht ja auch auf dem Autobahnschild. Die Kante von der Leitplanke drückt mir in den Hintern. Ich rutsch schon dauernd rum, aber Kante bleibt Kante, und aufstehen will ich nicht. Wenn einer vorbeifährt, heb ich mechanisch den Daumen. Aber jetzt sind sowieso nur die Pendler unterwegs. In einer halben Stunde, so um acht rum, kommen dann die LKWs und dann die Vertreter, dann komm ich bestimmt weg hier.

Truschka schreit in ihrem Körbchen, und mir kommen wieder Gedanken an alles. Wie die Frau Wilder, Marias Mutter, also, wie die weg war, da ging’s mir richtig mies. Ich hatte die so richtig hängenlassen. Ich glaub, sie wollte reden mit jemandem, und ich hab sie hängenlassen. Da hab ich dann überlegt, ob ich mal hinfahr. Hab mich erst nicht getraut, mußte aber irgendwas machen. Irgendwann bin ich einfach los, in den Bus rein und nach Rastatt gefahren. Sie wohnt da ganz allein in einer riesigen Wohnung. Ich war lange da, bestimmt drei Stunden. Sie hat erzählt von ihrem Mann, der sich hat scheiden lassen und dann nach Köln zu ITT ist, da hat er irgendeinen Direktorjob in der Verwaltung. Vor fünf Jahren war das, und bald darauf ist auch die Maria weg. Der Vater und Maria, die hätten immer furchtbar gestritten. Über die blödesten Sachen haben die gestritten, sagt sie. Wann sie nach Hause soll und wie sie sich anziehen soll und so. Immer, wenn er heimgekommen ist, hat’s einige Zeit gedauert, und dann haben sie sich in den Haaren gelegen.

Sie hat viel erzählt, wie sie noch eine richtige kleine Familie waren, hier in der Wohnung, und daß jetzt alles kaputt wär. Und ich hab dauernd auf so ein Bild schauen müssen, wo sie drauf sind, die Frau hier, die Maria und noch so’n Typ. Und die Maria schaut echt gut aus auf dem Bild und lacht, und ich hätte schon wieder heulen können. Sie hat dann erzählt, daß die Maria weggegangen war, nach Hamburg. »Und wie sie da zurückgekommen ist«, sagt sie, »da hat sie sich das Zimmer genommen, da bei euch. Ich dachte, jetzt wäre es wieder gut. Dachte, es ist vorbei mit dem Zigeunern. Und jetzt das.« Sie weint.

Dann erzählt sie, daß die Maria einen Freund hatte, ’nen Sohn von einer alten Freundin von ihr. Den hätte sie heiraten sollen. Zwei Jahre waren die zusammen, nichts wäre dann passiert, sowas nicht. Mit dem Bernd. Und sie erzählt von dem Mädchen in Hamburg, der Sylvi, die ihre Freundin dort war und mit der sie eine Wohnung hatte da oben. Und von einer Claude erzählte sie, die war mit Maria in der Schule gewesen, in Rastatt damals, und bei ihr hat Maria ’ne Weile gewohnt, bei ihr und Christian, ihrem Freund. Den kennt sie aber nicht. »Hat mir ja ihre Freunde dann nicht mehr vorgestellt. In Berlin war das, da ist sie hin. Wie wenn’s besser wäre in Berlin. Nur weit weg war’s, arg weit weg.«

Dann hat sie angefangen von Gott zu erzählen und dem Glauben. Ich wollte ihr nicht weh tun, aber ich bin bei dem da oben längst raus aus der Kartei, und so hab ich’s mir halt angehört. Dann hat sie mir noch gesagt, wo der Bernd wohnt, weil ich das wollte, und dann bin ich gegangen. Ich glaub aber, es hat ihr gut getan. Die ist ja ganz allein, sonst so. Ich bin dann in ein Cafe gegangen. Hab mich an ’nen Tisch gesetzt, der draußen stand, und ’ne Tasse Kaffee bestellt. Ich mach das gerne. Einfach so am Bürgersteig sitzen, Kaffee trinken. Manchmal, früher, bin ich extra Sonntag morgens nach Karlsruhe reingefahren, zum Ludwigplatz. Der ist da bei der Hauptpost gleich um die Ecke, und es sind ein paar Cafes da und ein Kiosk. Sonntag morgens, acht Uhr rum. So langsam gehen dann die Läden rundherum auf, und Leute im Schlafanzug machen die Fenster auf. Die meisten, wenn sie die Fenster aufmachen, gucken dann ’ne Weile raus. Da sieht man dann gleich, wie verschieden die Leute so ’nen Tag anfangen.

 

In Rastatt, wie ich da im Cafe gesessen war, hab ich keine Leute angeschaut. Ich hab überlegt, ob ich zu diesem Bernd gehen soll. Die Adresse hatte ich ja, aber ich wußte nicht so recht. Ich mein, für den war das alles ja auch nicht sehr lustig. Der hat das ja bestimmt erfahren, wenn seine Mutter und die Wilder alte Freundinnen sind. Und wenn dann einer kommt und will irgendwas wissen, ist sicher komisch. Außerdem, eigentlich wollte ich ja gar nichts wissen. Konkret, mein ich. Vielleicht, wie sie so gelebt hat, früher, bevor ich sie kannte. Irgendwann hab ich mich aber dann wohl doch entschieden und bin losgestiefelt. Mit ein paarmal fragen hab ich auch hingefunden, groß ist das Rastatt ja nicht.

Hab geklingelt, und wie ’ne ältere Frau, ziemlich mickrig, wie die also aufgemacht hat, hab ich nach diesem Bernd gefragt. »Der ist doch noch nicht da«, hat sie ganz vorwurfsvoll gesagt, »der ist doch im Geschäft!« Sie wollte die Tür schon zuziehen, hat sich’s aber anscheinend doch noch überlegt, nochmal einen Spalt aufgemacht und gesagt: »Aber bald kommen tut er sicher.« Dann hat sie schnell zugezogen, ist aber hinter der Tür stehengeblieben, war ’ne Riffelglasscheibe.

Auf dem Gartenmäuerchen war ein schöner Platz zum Sitzen, da hab ich dann gewartet. Wahrscheinlich war’s der einfach unheimlich, weil ich mich doch seit der Sache nicht mehr rasiert hatte, und das sah wohl ziemlich stoppelig aus. Nach einiger Zeit ist dann auf der Straße vorm Haus die Fahrerei losgegangen. Die schaffen wahrschein’s alle in derselben Firma hier. Zuerst kamen die Mofas und Mopeds und zwei Motorräder. Die kommen wohl am schnellsten durch, wenn die Straßen voll sind. Dann kamen auch Autos.

Irgendwann hat dann mal einer vor der Gartentür gehalten. Ein gelber Kadett, schwarze Streifen von vorn bis hinten, auf der Tür ’ne große Eins. Und so ’ne rote Antenne vorne und im Schwung nach hinten und da irgendwo festgemacht. Vorne vier Scheinwerfer zusätzlich drauf und breite Reifen. Der Typ, der rausgestiegen ist, war eher’s Gegenteil. Ein bißchen Hang zum Doppelkinn und Taille nach außen. Im Gesicht ’ne Sonnenbrille, chic auf der Nase nach vorne geschoben. Jeans hat er angehabt, schön eng, so Marke Hodenklemmer. Und ein T-Shirt, ’n Stück Bauch war natürlich frei, damit man auch die Härchen um den Nabel sehen konnte.

Wie er an mir vorbeikommt - überwinden hab ich mich schon müssen-, hab ich dann gefragt: »Bist du der Bernd?«

Er ist mit einem Ruck stehengeblieben, hat den Kopf gedreht und gesagt: »Ja, warum, liegt was an?«

Ich hab gesagt, ich wär ein Freund von Maria, oder daß ich einer war, und daß ich gern mal mit ihm geredet hätte.

Wie ich »Maria« gesagt hab, hat’s bei ihm im Gesicht ein bißchen gezuckt, und er hat mich noch ’ne Weile von oben bis unten gemustert. »Jürgen heiß ich«, hab ich noch gesagt, und er dann: »Komm mit hoch.«

Er hat aufgeschlossen, und wir sind die Treppe hoch, die war gleich hinter der Tür. So auf der halben Höhe ist unten die Tür auf und die Frau von vorhin hat den Kopf rausgesteckt. »Willst du nichts essen, Bernd?«

»Nein«, wir weiter hoch.

»Du hast doch den ganzen Tag noch nichts gegessen, oder, warum willst du denn nichts?«

Er bleibt stehen, dreht sich um und brüllt: »Ich will nichts essen, gottverdammte Scheiße, kapierst du das denn nicht?« Die unten zieht ganz schnell den Kopf ein und macht die Tür zu.

Oben, in seinem Zimmer, bietet er mir förmlich einen Stuhl an. Wir schweigen uns an, er kaut sich auf der Oberlippe rum. Jetzt sehe ich erst, wie jung der noch ist. So im ersten Angucken hätte ich dreißig vermutet, aber älter wie fünfundzwanzig ist der bestimmt nicht. Er fängt plötzlich an zu erzählen, und ich wunder mich, was der alles so raussprudelt. Glaub, der ist ganz froh, daß er bei mir seinschlechtes Gewissen abladen kann.

»Am Ende, weißt du, da ist es ziemlich böse geworden. Hab mich nicht mehr großartig interessiert für sie. Blöderweise hab ich ihr das dann mal gesagt, wie wir uns zwei Wochen, nachdem Schluß war, wieder getroffen und gestritten haben. Sie hat furchtbar geheult damals, und dann, ein Jahr später, wie sie schon in Berlin war, hat sie mal geschrieben, daß sie sich betrogen fühlt um die zwei Jahre und daß sie mich immer noch mag und so. Aber ich hatte doch dann schon die andere, und, weißt du, ich mach mir da nichts vor, von wegen modern oder so, ’ne Frau muß in erster Linie eine Wohnung sauberhalten können und Kochen und Kinder und so, und da wär sie bestimmt nichts gewesen. Die hat doch dauernd nur geträumt, weißt du, aber ’ne süße Maus ist sie schon gewesen.«

Ich such mir einen Punkt, wo ich hinschauen kann, damit ich den Typ nicht angucken muß. Meine Augen bleiben auf einem Bild hängen von einem Rennwagen. Eine Zeichnung, geschnitten zum Reinschauen. Schön auf dunkles Holz aufgezogen. Fehlt nur der Goldrahmen.

Manchmal denk ich, daß man alle Menschen in zwei Kisten tun könnte. Die einen sind die, die Verbotenes träumen. Die anderen die, die Erlaubtes träumen.

»Stehst du auf Rennwagen?«

Ich muß wohl ziemlich da draufgestarrt haben. »Klar«, rutscht es mir raus, »vor allem auf die Fans.« Er kapiert nichts, lacht nur verlegen. Ich sag dann, daß ich ihn nur mal kennenlernen wollte und daß ich jetzt gehen müßte. Ich hätt’s ja ganz nett gefunden. Scheißhöflichkeit, aber soll ich ihm sagen, daß ich ihn zum Kotzen finde? Ich versteh bloß nicht, was sie an dem gefressen hatte. Obwohl, der kann sich ja auch geändert haben - und sie wahrscheinlich auch. Nur halt jeder in eine andere Kiste.

Mensch, ich steh ja noch immer hier an der Einfahrt. Vor lauter Erinnern hab ich glatt vergessen, den Daumen rauszuhalten. Truschka schreit wie verrückt. Wahrscheinlich hat sie Hunger. Heute morgen hat sie nichts gefressen. Hat wohl gemerkt, daß was im Busch war. Und jetzt Hunger haben. Typisch. Ich hab so ’ne Plastikschachtel im Rucksack mit Futter. Wie ich’s ihr in den Korb geben will, springt sie raus. Ist eine ganz schöne Plackerei, bis sie wieder drin ist. Jedenfalls hab ich so meinen Hintern mal von der Kante gelüftet.

’ne Weile steh ich rum, der Verkehr wird jetzt stärker. Grade, wie ich mich entschließe, mich wieder auf die Planke zu setzen - irgendwann muß sich schließlich Hornhaut bilden -, hält ein Typ mit ’nem alten Ford. Er legt sich über die Sitzbank, kurbelt die Scheibe runter: »Wohin, junger Wandersmann?«

Ich glaub, ich faul ab. Kann ja heiter werden. »Richtung Frankfurt«, sag ich, »und dann immer geradeaus«, damit’s ein bißchen witziger klingt.

Wie ich den Korb mit der Truschka reinstell, muß die natürlich schreien. »Junge, ist das ’ne Katze da drin?« »Klar«, sag ich, »’n Kanari miaut anders.«