Überall zu Hause, nirgendwo daheim

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Überall zu Hause, nirgendwo daheim
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

1. KAPITEL

Man kann sich ein Zuhause suchen, kann es planen, aufbauen, in Besitz nehmen, oder man kann warten, bis es einem zuläuft wie ein kleiner, schwarzer, heimatloser Hund. Ich habe beides versucht und bin nun doch wieder unterwegs, ein Leben hinter mir und eines vor mir, wie schon tausendmal zuvor. Bochum, München, Berlin – und was jetzt?

Als mein Goggomobil mit kreischendem Motorengeräusch den letzten Hügel hinunterschoss, unter mir in der müden Nachmittagssonne der Ort, dachte ich, das also soll dein neues Zuhause werden: Waldweibersbach. Da war er wieder, dieser Schnitt, der ein Leben vom anderen abtrennt. Das Leben in Berlin, das Zuhause in der Wohngemeinschaft, wenn es je eines war, Christine, der Job, all das, was ein Zuhause aus­macht, der Grieche mit der hutzeligen Mama hinterm Herd, vielleicht sogar der Bolle um die Ecke: all das war abgeschnit­ten in dem Moment, als ich das Ortsschild passierte. Wieder mal war ein altes Zuhause erledigt, und ein neues gab es noch nicht.

Ich war müde und genervt von der langen Fahrt, elf Stunden im Goggo, ein kleines Malheur mit der Zündspule und ein paar Pausen eingerechnet. Ich nahm den Fuß vom Gas, das Krei­schen des Motors verebbte, müde rollerte mein Wägelchen an den ersten Bauernhöfen vorbei. Plötzlich schoss von links, keine zehn Meter vor mir, mit infernalischem Gebrüll ein schwarzer Manta aus einer Hofeinfahrt auf mich zu, driftete rüber bis auf meine Seite, schwenkte sein breitbereiftes Heck quer in meine Richtung, dass mir das Herz stehenblieb. Ich bremste, was das Zeug hielt, mein schwerbeladenes Goggo Coupe schoss quietschend auf den immer größer werdenden schwarzen Wagen zu. Für einen Augenblick sah ich hinter der Windschutzscheibe ein grinsendes Stiftekopfgesicht.

Erst im letzten Moment drehte sich das Auto wieder in Stra­ßenrichtung und dröhnte davon. Im Vorbeihuschen konnte ich in der Hofeinfahrt Leute stehen sehen, die winkten und lach­ten.

Danach hatte ich eigentlich schon genug von Natur, Dorf und Idylle. Mir ist auch absolut nicht danach, von dem Stress zu erzählen, der nach diesem Verrückten nicht aufhörte, von dem unerreichbaren Schuldirektor, der zickigen Sekretärin, die »leider gar nichts tun« konnte, »weil doch noch Ferien sind«, oder den begnadeten Trotteln auf der Gemeindeverwaltung. Dabei wollte ich nichts weiter, als wissen, wo ich einen Platz zum Schlafen fände.

Ich hatte mir das alles ganz anders vorgestellt, Tamtam zur Begrüßung, vielleicht eine kleine Rede des Rektors, der sei­nen neuen Lehrer im Kreise des Kollegiums feierlich willkom­men heißt, ein paar Hände schütteln, aber zumindest ein Dach über dem Kopf. Wahrscheinlich hatte ich mich zu sehr in mei­ner vermeintlichen städterischen Überlegenheit gesonnt, ich als Ex-Bochumer, Ex-Münchner, Ex-Berliner, sie würden be­wundernd um mich stehen, dachte ich, die lebenslänglichen Waldweibersbacher. Und bei diesem gedanklichen Sonnenbad muss ich mir einen Sonnenbrand geholt haben, sonst wäre mir auch in Berlin schon klar gewesen, dass zur Ferienzeit in keiner Schule der Welt ein Kollege anzutreffen ist und dass auch nir­gendwo ein Mensch bereitstünde, mir eine Wohnung anzubie­ten.

Also blieb mir im Grunde nichts übrig, als das zu tun, was ich tat: Ich ließ mein Goggo auf dem Schulparkplatz stehen, packte mein Zelt aus, hüpfte über den lächerlichen Zaun, der wohl hauptsächlich der Abwehr von Kaninchen diente, und begann mein Zelt auf der sorgfältig gemähten Wiese des Schulsportplatzes aufzustellen.

Hippie, mein kleiner krausschwarzer Bastard, mein treuer Freund seit meinen ersten Berlintagen, als ich ihn aus einem Wurf schwarzer Wollknäuel ausgesucht hatte, schien genauso entnervt wie ich. Eigentlich wäre ein solcher Zaun kein Hin­dernis für ihn, aber er jaulte, bis ich zurückging und ihn mit einem Schwung herüberholte. Ich hatte noch keine zwei Schläge auf einen Zelthering getan, als sich schon das erste Fenster im Nachbarhaus öffnete. In Berlin hätte Sekunden später eine geifernde Stimme über den Platz gebellt, von we­gen »Polizei holen« und »Chaoten brauchen wir hier nicht«, aber hier blieb alles ruhig. Um so besser, dachte ich. Inzwischen weiß ich, was ein aufgehendes Fenster in Waldwei­bersbach bedeutet, dass nämlich sämtliche Leute im Dorf Minuten später darüber Bescheid wissen, was sich gerade vor diesem Fenster ereignet hat. Aber damals hatte ich noch keine Ahnung von der rasanten Geschwindigkeit natürlicher Kom­munikationssysteme.

Ein fettes Frauengesicht versuchte möglichst unauffällig in meine Richtung zu spähen, verschwand dann für einen Au­genblick, um gleich darauf Seite an Seite mit einem hageren, aufgeregten Männerkopf über einem Unterhemdausschnitt wieder aufzutauchen.

Sand rieselte aus dem roten Nylonzelt, als ich es auffaltete. Sand vom Sandstrand auf Krk, Sandstrand mit Christine, lang­weiliger Sand, langweilige Christine, drei Wochen war es her, und doch schon eine Ewigkeit. Erinnerungen aus einem an­deren Leben. Hippie schnüffelte den Torraum ab, lief lustlos und müde über die streichholzkurze Fußballwiese, suchte in­stinktiv im Sand der Weitsprunggrube nach imaginären Wühl­mäusen, von denen er wahrscheinlich nicht einmal wusste, wie sie aussahen.

Ich war fast fertig mit meinem Zelt, als mich plötzlich ein herantrabender Schatten aufschreckte. Der Mann war wohl eine Autoritätsperson, denn er wedelte aufgeregt mit einem riesigen Schlüsselbund und versuchte dann verzweifelt, den richtigen Schlüssel für das kleine Törchen in dem lächerlichen Zaun zu finden, welches ihn noch von mir, meinem Zelt und dem wild kläffenden Hippie trennte.

»Springen Sie rüber, Sie schaffen es«, rief ich dem über eins­neunzig großen Mann aufmunternd zu, und weil er keine Anstalten machte, meiner Aufforderung zu folgen, fügte ich hinzu: »Der Hund tut Ihnen nichts, der will Sie nur küs­sen!«

Der Mann schien meine Worte nicht zu hören, oder er war so deutsch, dass er ein verschlossenes Törchen auch dann nicht übersprang, wenn er selber der Schlüsselträger war. Jedenfalls schaffte er es endlich, den richtigen Schlüssel zu finden, schloss auf, trat durch das Tor und wurde natürlich sofort von Hippie geküsst.

Hippie, das muss ich erklären, ist eine Mischung aus einem Pudel, einem Terrier und einer Sprungfeder. Es ist einer seiner liebsten Tricks, an Menschen, selbst von der Größe, wie es das Exemplar vor uns war, bis auf Augenhöhe hochzuspringen und sie dann mit rasant vorschießender Schnauze und herausschnellender langer Zunge mitten ins Gesicht zu küssen. Er macht dies pro Mensch und Tag jeweils nur bei der ersten Begegnung, so dass man nach einem morgendlichen Zungenkuss sicher sein kann, für den Rest des Tages davor Ruhe zu haben.

Der Mann mit dem Schlüsselbund prallte trotz meiner Er­klärung erschrocken vor dem hochspringenden schwarzen Fellbündel zurück, so dass er fast rücklings über den Zaun gefallen wäre. Ich erzähle das alles, um klarzumachen, warum die Atmosphäre bei dem dann folgenden Gespräch etwas ge­spannter war, als sie unter normalen Bedingungen hätte sein müssen.

»Sind Sie wahnsinnig? Verrückt? Total übergeschnappt, oder was?« brüllte er.

»Alles falsch«, sagte ich, »ich bin der neue Lehrer – Karl- Dietrich Weber mein Name.«

Einen Augenblick machte der Hüne verdutzt Sendepause, aber dann polterte er weiter: »Scheißegal, wer Sie sind, und wenn Sie der Kaiser von China sind, unser Sportplatz ist kein Campingplatz!«

Ich erklärte ihm ruhig, dass ich zwei Stunden lang versucht hätte, jemanden in der Schule des Dorfes zu finden, in das mich der bayerische Staat versetzt habe, und nochmals vier Stunden, um festzustellen, dass es im ganzen Umkreis weder eine Wohnung noch ein Zimmer gebe, dass das zusammen mit meiner Anreise rund siebzehn Stunden seien und dass ich nun die Nase voll hätte.

Er schien mir gar nicht richtig zuzuhören, schrie nur plötzlich auf: »Scheiße, so ein Mist, pfeifen Sie Ihren Köter her, der hat gerade auf unsere Tarzanbahn geschissen!«

»Tartanbahn!« berichtigte ich.

»Was?«

»Tartanbahn! Es heißt nicht Tarzanbahn, sondern Tartanbahn – ich gebe auch Sport, müssen Sie wissen.«

Irgendwie war das alles zuviel für den Mann. Die Hitze den ganzen Tag, das verwaiste Schulgelände, man denke nur an die Verantwortung, die so ein Hausmeister tagein, tagaus zu tra­gen hat. Jedenfalls schnappte er nach Luft, drehte sich dann abrupt um und lief kopfschüttelnd zu seinem Törchen hin­aus.

»Ich laß das hier offen«, sagte er fatalistisch, vielleicht war es ein erstes Zeichen stillschweigender Duldung.

Es war längst dunkel, elf Uhr mochte es vorbei sein, als Hippie mich mit seinem hustenden Alarm-Wuff weckte. Ich brauchte eine ganze Weile, bis ich rekapituliert hatte, wo ich überhaupt war, schließlich kommt man nicht so ohne weiteres auf die Idee, man könnte in einem Spessartkaff auf dem Schulsportplatz in einem Zelt liegen, aber so allmählich kam die Erin­nerung zurück. Da waren Stimmen, leise Stimmen, und das unverkennbare Brabbeln eines großen Mercedes. Hippie saß inzwischen kerzengerade auf meiner Brust und machte wieder dumpf Wuff.

»Mach doch mal aus«, hörte ich eine Stimme flüstern, dann ging der Motor aus. Jemand stieg aus dem Wagen. Mit einem satten Plopp fiel die Wagentür ins Schloss, was mich darin be­stätigte, dass es ein Mercedes sein musste. Schritte kamen näher.

»Ich hab den ganzen Abend versucht, dich anzurufen«, sagte die eine Stimme, und ich erkannte sie als die Stimme des Hausmeisters. »Da, schau’s dir an, da steht's, mittendrin. Jetzt mach was!«

Eine unangenehme Stimme antwortete, hoch und weich, sie erzeugte in meiner Phantasie das Bild eines kleinen, fetten Mannes mit undefinierbarem Händedruck:

»Mach was!« antwortete sie. »Mach was! Ich bin Bürgermei­ster und kein Rausschmeißer. Ich hab’s dir doch schon am Telefon gesagt, Kurt, den kann nur die Polizei rausschmei­ßen.«

 

Wuff wollte Hippie machen, aber ich rang ihn auf die Iso-Matte nieder und hielt ihm die Schnauze zu, so dass nur noch ein Pff herauskam.

Der Hausmeister jammerte: »Versteh doch, Werner, das ist ein Lehrer. Ich kann doch einen neuen Lehrer nicht mit der Polizei vom Schulgelände holen lassen.«

»Schöne Lehrer habt ihr, muss man sich nicht wundern, dass aus unseren Kindern nichts wird«, muffelte die Stimme, die wohl zum Bürgermeister von Waldweibersbach gehörte. »Und das Ding da ist wohl sein Auto, was?«

Sie entfernten sich jetzt wieder, liefen die Einfahrt runter, wo ich mein Goggo geparkt hatte. Endlich konnte ich Hippie wie­der loslassen. Wuff machte der dankbar. Ich musste mich anstrengen, um die Unterhaltung der beiden noch zu verste­hen. Sie redeten über meinen Wagen. Irgendein Albert aus dem Dorf musste wohl so ein Coupe gehabt haben, und der Bürgermeister erzählte mit seifiger Stimme von den Zeiten, als dieser Albert deswegen der Traum aller Dorfschönen gewesen sei.

»Du glaubst gar nicht, Kurt, was der Albert mit seinen Schnal­len alles in dem Wägelchen veranstaltet hat!«

»Sag du mir lieber mal«, zischte der Hausmeister hörbar un­geduldig, »was ich mit dem Knaben da auf dem Sportplatz veranstalten soll.«

Sie kamen noch mal den Weg hoch, die Tür des Mercedes wurde wieder geöffnet. »Da machste heut gar nichts mehr, Kurt. Morgen früh, bevor der ganze Ort Bescheid weiß, komm ich her und regel die Sach.«

Dann brabbelte der Wagen den Weg bis zur Einfahrt runter und verschwand. Wuff machte Hippie.

Als er mich das zweite Mal aus dem Schlaf riß, hatte die Mor­gensonne das Innere meiner Nylonhütte schon blutrot ausge­malt. Der Hund hockte jaulend vor dem Zeltausgang, er trippelte von einem Bein aufs andere, viel hätte nicht gefehlt, und er hätte den Reißverschluß mit den Zähnen geöffnet. Die­ser verrückte Hund hatte es in drei Lebensjahren noch nicht gelernt, sein Morgengeschäft statt um halb sieben erst um acht oder später zu verrichten. Da machte er keine Ausnahmen. Wenn ich in Berlin zur Arbeit in die Verlagsauslieferung muss­te, war halb sieben in Ordnung. Ein kleiner Spaziergang in aller Herrgottsfrühe im hastig übergezogenen Jogginganzug, vielleicht war’s ja sogar gesund. Aber Hippie kannte keine Samstage und Sonntage, ihm waren nicht mal die seltenen Morgen heilig, an denen ich mit Christine im Arm erwachte. »Dein Scheißhund muss raus«, sagte sie, wenn das unumgäng­liche Kratzen an der Tür begann, und das war zuverlässig das Ende aller Zärtlichkeiten.

Mein Scheißhund muss raus, dachte ich sofort, noch bevor ich mich richtig orientiert hatte, dann verstand ich zum zweiten Mal in dieser Nacht, wo ich war, und zog ihm den Reißver­schluß auf. Wie ein Blitz schoß er raus, ich sah ihm hinterher. Das Gras war feucht vom Tau, die Morgensonne überglitzerte alles, kein Mensch war zu sehen. Hippie saß mitten auf der Tartanbahn, die hier Tarzanbahn hieß, und produzierte einen Haufen. »Du Schweinehund«, schimpfte ich mit ihm, obwohl ich wusste, dass er, durch und durch ein Stadthund, nie lernen würde, sein Häufchen nicht mitten auf die Straße oder den Bürgersteig zu setzen. »Wiese, Gebüsch, Sand, und du musst mitten auf die Bahn kacken!« Seine Ohren, Lefzen, Schwanz, alles schlappte schuldbewußt nach unten. Wieder was falsch gemacht, das wusste er, nur verstand er nie, was es war.

Ich zog mich an, so gut es ging. Meine Turnschuhe hatte ich vor dem Zelt vergessen, sie waren feucht und kalt. Unten im Dorf hatte ich gestern eine Bäckerei gesehen, hoffte nur, dass sie schon geöffnet hatte.

Ich drückte die Tür zu dem Laden auf, stellte mich als achter in eine Reihe von sieben. »Moin«, sagte ich müde, das war der erste Fehlgriff des Tages. Sieben hellwache Gesichter drehten sich stumm zu mir, nur leichtes, kaum merkliches Zucken und Nicken deuteten an, dass man zumindest von meiner Existenz Notiz genommen hatte.

»Grüß Gott!« sagte schließlich die Bäckersfrau sehr bestimmt, ich nickte verschämt. Als ich endlich an der Reihe war, beging ich den zweiten Fehler des Morgens. »Vier Schrippen«, sagte ich aus alter Berliner Gewohnheit, korrigierte mich aber blitz­schnell: »Brötchen, meine ich.«

»Stöllsche oder Runde?«

Auch wenn ich inzwischen stolz drauf sein kann, zum privile­gierten Kreis der Waldweibersbacher Stöllchen-Bezieher zu gehören, so waren mir, wie ich zugeben muss, damals die Vor­züge dieser Backwaren völlig unbekannt. Ich verlangte also einfach mal Runde.

»Gottlob Runde«, sagte die Bäckersfrau. »Stöllsche sind ja schon fast wieder aus, gell. Aber Runde hamme immer.« Sie packte mir vier Brötchen in die Tüte, ließ mich, grinsend, nicht aus den Augen. »Mir sind der neue Lehrer, gell?«

Ich spürte, wie sich in der Schlange hinter mir die Ohren spitz­ten. Nur ja nichts verpassen.

»Hamme noch kein Platz zum Wohnen gefunden, oder?« »Ne«, sagte ich, »scheint ja ein richtiges Problem hier zu sein- wissen Sie nicht vielleicht was?«

»Leider net«, sagte sie bedauernd, »macht einszwanzig.«

Ich verließ den Laden, band Hippie draußen los.

An der Schule sah ich schon von weitem den landmanngrünen Mercedes in der Einfahrt zum Sportplatz stehen. Wuff machte Hippie. Ein untersetzter Mann mit schlecht passendem Anzug stand mit dem Rücken zu uns vor meinem Zelt, rüttelte vor­sichtig an der Zeltstange und redete mit hoher Stimme auf den geschlossenen Reißverschluß ein:

»Hallo, hören Sie! Guten Morgen! Ich würde gerne mal ein paar Worte mit Ihnen reden. Hallo, Herr Weber, hallo!« »Fehlt Ihnen was – Herr Bürgermeister?« fragte ich von hin­ten.

Er fuhr erschrocken herum, eine leichte Röte flackerte über sein Gesicht, dann plusterte er sich wichtig auf, Brust raus, Bauch rein, rückte sein zu enges Jackett zurecht. »Herr We­ber, ich bin ...«

Er brachte den Satz nicht zu Ende, denn Hippie sprang dem Mann, was bei dessen Statur kein großes Problem war, bis in Augenhöhe, um ihm dann quer übers Gesicht zu schlecken. »Ich bin der Bürgermeister Werner Hofschmied«, brachte der Mann schließlich doch raus, als er sich erholt hatte.

»Freut mich sehr«, sagte ich, »ich bin der neue Lehrer, darf ich Sie zu einem Salamibrötchenfrühstück einladen?«

Der Bürgermeister schüttelte den Kopf, einen Moment lang war er wie weggetreten, anscheinend legte er sich eine längere Rede zurecht. »Warum nur, Herr Weber, sind Sie denn gestern nicht, anbetracht Ihrer Ankunft, gleich zu mir gekommen? Sehen Sie, in einer kleinen Dorfgemeinschaft lassen sich doch alle gemeinschaftlichen Probleme, also, ich meine, man kann doch darüber sprechen. Da brauchen wir doch keine solchen« – er deutete auf das Zelt -, »also, wir müssen da nicht provo­zieren, oder?«

»Sie werden’s nicht glauben«, sagte ich, »aber nachdem ich erst im Ochsen war – Betriebsurlaub bis Ende September -, dann im Bergblick – alles voll mit Urlaubern -, bin ich sogar aufs Rathaus gegangen. Aber Ihre Gemeindedame meinte, Sie seien nicht zu sprechen. Und ich musste irgendwo schlafen, das sehen Sie doch wohl ein, Herr Bürgermeister.«

»Schon gut, vergessen wir das, Schwamm drüber. Am besten, Sie bauen Ihr Zelt jetzt ab, dann ist die Sache ja aus der Welt.«

»Oh«, sagte ich, »Sie haben eine Wohnung für mich?« »Nein, woher auch«, sagte er verdutzt.

Ich bin im Normalfall kein Sturkopf, wirklich nicht. Aber wenn mir einer einen so dummen Vorschlag macht, kann ich ziemlich spitz werden.

»Dann machen wir es doch lieber so«, antwortete ich deshalb, »ich sehe mich nach einer Wohnung um, Sie sehen sich nach einer Wohnung um, und sobald einer von uns Erfolg hat, bre­che ich mein Zelt sofort ab und ziehe um. Und bis dahin wohne ich hier auf dem Sportplatz.«

Er wurde rot im Gesicht, wollte platzen, hielt sich zurück, zischte nur »unmöglich, völlig unmöglich« und ging dann zu seinem Auto zurück. »Sie werden mit Ihrer Art bei uns nicht weit kommen, Elerr Weber, das verspreche ich Ihnen«, schimpfte er, dann war ich ihn los.

War das nun ein Triumph? Im Grunde war mir nicht nach Triumphieren. Ich merkte, dass ich einen totalen Durchhänger bekam. So was wie Heimweh, bloß ohne zu wissen, wonach. Irgendeinen vernünftigen Menschen zum Reden hätte ich viel­leicht gebraucht, zumindest mal einen Platz, wo ich meine Tasche richtig auspacken konnte, oder Minimum trockene Schuhe. Ich fühlte mich von diesem dicken Dünnbrettbohrer provoziert. Wenn er so weitermachte, würde er es schaffen, dass ich noch im Winter auf dem Sportplatz kampierte. Und dabei wusste ich doch genau, dass kein Mensch der Welt für meine Wohnungsprobleme zuständig war. Ich hatte mich im Glauben, ein Spessartkaff würde seinen neuen Lehrer mit we­henden Fahnen empfangen, selber ausmanövriert. Mein kleines Coupe stand X-beinig in der Einfahrt, vollgepackt bis oben und noch ein Dachständer drauf. Plötzlich hatte ich keine Lust mehr auf Dorf und neues Leben, hätte am liebsten Hippie wieder zwischen Bücherkarton und Bettwäsche eingefädelt und wäre zurückgefahren nach Berlin.

Christine in der Tür, ein versöhnliches »Du hattest ja so recht, was will ich in Unterfranken auf dem Kaff« zur Begrüßung. Mich mit ihr auf weichem Futon wälzen statt alleine auf harter Iso-Matte, Pläne den Planern überlassen. Wie die Jahre zu­vor, jeden Morgen zur Buchauslieferung, Morgen, Kadewe, wir haben schon wieder Ärger, was kommste auch so spät, jeden Morgen Computer starten, bis neun läuft das Chaos langsam an. Hektik, wütende Anrufe, Mittagspause. Dann wieder Bildschirm, Telefon. Kadewe, da behauptet jemand, du hättest ihm noch für heute ’nen Kurier versprochen, sind denn die Bücher überhaupt schon da? Rushhour, Augen zu und durch. Christine wollte ihr Auto um sechs wiederhaben, das gibt auch Ärger. Endlich daheim, Parkplatz suchen, drei­mal um den Block. Hallo, Christine, flüchtiges Küsschen. Warum kommst du erst jetzt, ich warte seit sechs auf den Wa­gen. Also, tschüs dann, ich hab Atemtraining, wird später heute. Und danach? Du, ich muss dann mal total alleine sein, wenigstens bis morgen früh, macht dir nichts aus, oder? Ne, ich hab ja Hippie.

Und wieder ein tödlicher Abend. Plötzlich Ruhe außen rum, nur im Kopf noch das Gedröhne vom Tag, Fernseher anschal­ten zum Abschalten, Hippie durch die WG jagen, bis es aus irgendeinem Zimmer brüllt, kannst du nicht mal Ruhe geben, ich muss arbeiten. Nächtelang mit Hippie an der Leine durch die dunklen Straßen, hier ein loser Freund auf ein Bier, da ein paar Kumpel zum Dartspielen, ab und zu ein Telefonat mit Mutter, das war Berlin.

Ein, zwei, drei, fast vier Jahre lang Berlin, und vier Jahre lang jeden Frühsommer der Schrieb vom Bayerischen Kultusmini­sterium, in dem mir meine Wartelistenposition mitgeteilt wur­de, bis ich nach vierjähriger Buße für meinen schlechten Abschluss schließlich doch als Lehrer für Grund- und Hauptschule nach Waldweibersbach, Kreis Aschaffenburg, ver­pflichtet wurde. Ich musste auf einer Karte nachsehen, wo Aschaffenburg war, Waldweibersbach selbst war überhaupt nicht zu finden.

Während ich mich in nostalgischem Selbstmitleid grämte, hatte Hippie seine Grabeaktivitäten von der Sprunggrube auf das Fußballfeld verlegt und versuchte irgendeinen Maulwurf auszugraben. Bis zu den Hinterpfoten war er schon in der Erde, ich musste dreimal pfeifen, bis er endlich von seinem schändlichen Tun abließ und schwanzwedelnd zu mir kam. Er sah aus wie eine Wutz. »Du bist mein Schweinehund«, sagte ich streng zu ihm, »mein äußerer Schweinehund, weißt du das?« Ich kraulte ihm die lehmverdreckten Ohren, er schnappte nach meinem Ärmel und wollte ihn nicht mehr loslassen. Es war gut, wenigstens Hippie um mich zu haben.

Zeit, um Schluss zu machen mit den düsteren Gedanken, im Grunde brauchte ich weder Mitleid noch Pessimismus, ich brauchte eine Wohnung. Zunächst muss man seine Idealvor­stellung kennen: Am liebsten wäre mir etwas gewesen mit einem Schlafzimmer zur Kirche, um morgens von Glockenge­läut geweckt zu werden – ich wusste damals noch nicht, dass sie schon um zehn vor sechs das Geläut anwerfen -, dann ein Wohnzimmer nach Westen, um die Abendsonne zu genießen, ein Hundezimmer mit Blick zum Wald, damit Hippie sich Ha­sen und Rehe angucken konnte, wenn ich zum Unterricht in der Schule war.

Dann muss man taktisch Vorgehen, Punkt für Punkt. Also drehte ich mir den Goggo-Spiegel hin, denn zunächst zählt gutes Aussehen – aber schon mit diesem Punkt hatte ich meine Probleme. Unrasiert war ich und seit der kleinen Schrauberei auf der DDR-Transitstrecke auch nicht mehr richtig gewa­schen. Aber die Türen zu den Waschräumen der Turnhalle waren verschlossen, es war, wie ich gleich befürchtet hatte, ein Campingplatz ohne jeden Komfort. Ich fand schließlich hinter der Halle einen Wasserhahn. Wieder gingen in den Nachbar­häusern die Fenster auf, aber niemand machte mir die Offerte, sein Bad zu benutzen, ich musste mich auch noch im Freien rasieren.

 

Der Friseur, hatte mein Vater immer doziert, ist die Nachrich­tenzentrale jedes Ortes. Er weiß alles und erzählt alles – also ging ich zuerst dahin.

»Guten Tag«, sagte ich, und prompt kam ein vorwurfsvolles »Grüß Gott« zurück. Die Frau im weißen Kittel begutachtete sofort meine Frisur, vielleicht wäre es taktisch klug gewesen, ihr die Gestaltung meines Haupthaares zu überlassen, aber ich fragte nur nach einer Wohnung.

»Sie sind der neue Lehrer, gell? Woher kommen wir denn?«

Information nur gegen Information war anscheinend die De­vise. Sie erfragte mein komplettes Vorleben, meine Aussich­ten für die Zukunft, welche Klasse ich wohl bekäme, und ihre Tochter sei in der sechsten, und ob ich in Berlin auch schon unterrichtet hätte, ach so, noch nicht, nur in München, na ja, dann werden Sie’s hier schon auch schaffen – bis es mir wirklich zu viel wurde und ich das Gespräch noch mal auf die Wohnung lenkte. Aber eine Wohnung, das tut mir jetzt ehrlich leid für Sie, hatte sie natürlich nicht, bei der Post sollte ich mal fragen. Ich ließ mir den Weg beschreiben und trabte los.

Aus dem Hinterhof des Postgebäudes drang Werkstattlärm, so was zieht mich an. Schließlich hatte ich zwei Jahre damit zu­gebracht, das alte Goggo wieder in Neuzustand zu versetzen, und es war nicht der erste Wagen, an den ich Hand angelegt hatte. Man braucht einen Ausgleich im Leben, egal ob man dreißig Schüler bändigt oder zweihundertfünfzig Buchhändler davor bewahrt, den letzten Rest Verstand zu verlieren. »Grüß Gott, Meister«, schrie ich durch das Kreischen eines Winkelschleifers.

Eine Funkenfontäne brach in sich zusammen, die Maschine verstummte, und aus einem Chaos aus Schrott und Gebraucht­wagen tauchte ein verdrecktes Gesicht auf. »Und?« fragte es.

»Ich suche ’ne Wohnung oder ein Zimmer – dachte, Sie wissen vielleicht was?«

Der Typ zog einen öligschwarzen Lappen aus seinem ölig­schwarzen Overall und wischte sich seine öligschwarzen Finger daran ab, dann fummelte er eine zerknautschte Schachtel GauIoises aus der Tasche und zündete sich umständlich eine an. »Sie sind der Vogel mit dem Goggo Coupe, was?«

Ich nickte.

»Ich könnte Ihnen ’nen super Gebrauchten verkaufen, erste Hand, neuer TÜV.«

»Wenn er ein Wohnzimmer, Küche und Bad hat, schau ich ihn mir gerne mal an.«

»Witzig«, knurrte der Typ, »aber wir sind ’ne Werkstatt und kein Wohnungsmakler.« Mit der Filterlosen im Mundwinkel ließ er seinen Winkelschleifer das Gespräch beenden.

In der Post standen zwei Leute am Schalter an, ich stellte mich dazu und wartete. Hinter dicken Panzerglasscheiben arbeitete die langsamste Kreatur, die ich in meinem Leben zu Gesicht bekommen hatte. Der etwa fünfzigjährige Mann in grauer Postfilzhose, grauhaarig und von der Verantwortung seines Schalterdaseins gebeugt, studierte gerade, wie zum ersten Mal in seinem Leben, einen eingereichten Barscheck. Mit dem Fin­ger zog er beim Lesen die Zeilen nach, kontrollierte Num­mern, Datum, Unterschrift und Betrag. Er fand eine nicht ausreichend entwertete Zeile, griff sich zeitlupenlangsam ein verschrammtes Lineal, einen Kugelschreiber, zog eine schöne, gerade Linie auf den Scheck, betrachtete sie, sagte überzeugt »so« zu sich selbst, verlagerte den Scheck auf eine rutsch­sichere schwarze Gummischreibunterlage, strich ihn sorgfältig glatt. »So«, sagte er noch mal.

Hinter mir standen inzwischen noch zwei Leute, aber alle sa­hen äußerst geduldig dem Treiben des Postbeamten zu, der inzwischen Zeichen für Zeichen und Ziffer für Ziffer die An­gaben des Schecks auf zwei verschiedene Blöckchen über­trug.

Hippie begann zu jaulen und ungeduldig an der Leine zu zerren. So ein Hund lebt nicht so lange wie wir Menschen, und ein paar Hundelebensstunden sind schneller verstrichen – ich verstand seine Unruhe.

»Mein Gott, was für ein süßer Hund«, sagte eine Dame be­geistert, woraufhin Hippie sie sofort mit einem Sprungkuss in den Kreis seiner intimeren Freunde aufnahm.

Die Ablenkung hatte Leben in das kleine Postamt gebracht, aber leider auch dazu geführt, dass Herr Wahenziehn, als sol­chen wies das Namensschild meinen grau uniformierten Le­guan aus, seine Arbeit kurzfristig unterbrochen hatte. Unmit­telbar nachdem Hippie wieder mit allen vieren auf dem Boden stand, nahm er sie mit einem endgültig klingenden »So« wieder auf, drückte einen letzten Punkt auf das Papier seines einen Blockes, hauchte ein letztes Mal seinen Stempel an, wälzte ihn ein letztes Mal über das Scheckformular, um dann mit einem gar nicht zu ihm passenden kindlichen, fast schelmischen Lä­cheln die wartende Kundin zu fragen: »Fünfhundert – soll’s zum Schnellausgeben sein, oder willst du’s dir aufsparen?« Die angesprochene Frau winkte verlegen ab. »Ist doch eh gleich ausgegeben, Franz.«

»Na, dann geb ich’s dir klein«, sagte er und zählte ihr die Summe sorgfältig in Fünfzigern und Zwanzigern auf den Schal­tertisch.

Der nächste Kunde trat vor, ich hatte sein Gesicht nur flüchtig von der Seite gesehen, aber er musste im Alter irgendwo zwi­schen fünfundachtzig und hundertzehn liegen. Aus seiner zerschlissenen Jacke quoll ein modriger Geruch nach altem, feuchtem Gemäuer und Mottenkugeln. Die Hosen hingen hochgeschlagen und doch noch zu lang auf den abgetragenen, lehmverschmierten Schuhen. Mit einem müden Schritt trat er grußlos an den Schalter, kramte aus seiner Jackentasche eine abgezählte Summe Kleingeld, ließ sie ungeschickt auf den Schalter rollern.

»Gibst mir eine zu achtzig!« sagte er barsch.

»Was wolln wir denn schicken, Opa Alfred?« fragte der Post­halter.

»Was wolln wir denn schicken, einen Brief natürlich!«

»Der kostet aber jetzt eine Mark.«

»Seit wann das?«

»Paar Tage schon.«

Der Alte schüttelte den Kopf, protestierte grummelnd: »Muss ich da jetzt auch mehr zahlen?«

»Jeder muss mehr zahlen, Opa Alfred.«

Er wühlte unwirsch in seiner Hosentasche, förderte ein Sam­melsurium von Papierfetzen, Kronkorken, Steinchen und ei­nem dreckigen Taschentuch zutage, dazwischen ein paar Groschen. »Da haste!«

Wahenziehn nahm das Geld in Empfang, zog eine Marke aus dem Spender, riss sie sorgsam ab und schob sie unter der Pan­zerglasscheibe dem Alten hin.

»Die mag ich net, ich will eine von den großen bunten!« Geduldig zog der Postbeamte die Marke wieder ein, öffnete sein großes Markenbuch, suchte eine besonders schöne, gro­ße, bunte Marke, löste sie nach doppeltem Kniffen in jeder Richtung aus dem Bogen und schob sie dem Alten hin.

Der zog eine Brille hervor, setzte sie umständlich auf und studierte die Aufschrift. »EU-RO-PA, ne«, sagte er dann, »das will i net, da halt i nix von, Europa, gibst mir doch die andere wieder.«

Inzwischen standen rund zehn Leute im Postamt, keiner un­geduldig, keiner protestierend, alle eher amüsiert vom Dialog zwischen Leguan und Uropa. Der Alte nahm schließlich die Marke in Empfang, leckte sie gründlich ab, drückte sie auf ein schmuddeliges Kuvert und schob es unter der Scheibe dem Postmenschen hin. Dann drehte er sich um, musterte mich kritisch, dann die Reihe hinter mir und zog schließlich, vor sich hin grantelnd, ab.

»Grüß Gott«, sagte ich artig zum Oberpostdirektor, »ich wollte nur fragen, ob Sie vielleicht wissen, wo ich ein Zimmer oder eine Wohnung finden kann.«