Die Perfektionismus-Falle

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Die Perfektionismus-Falle
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Reinhold Ruthe

Die Perfektionismus-Falle

… und wie Sie ihr entkommen können


Impressum

Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.d-nb.de abrufbar.

3., ergänzte Auflage 2009

ISBN 9783865066121

© 2003 by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers

Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers

Titelfoto: Getty Images

Satz: Satzstudio Winkens, Wegberg

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013

www.brendow-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Kapitel 1 Die Triebfeder des Perfektionisten

Kapitel 2 Perfektionismus hat viele Gesichter

Kapitel 3 Wie kann Perfektionismus entstehen?

Kapitel 4 Perfektionismus in der Erziehung

Kapitel 5 14 Kennzeichen eines Perfektionisten

Kapitel 6 Perfektionismus und Co-Abhängigkeit

Kapitel 7 Alles oder nichts

Kapitel 8 Perfektionismus und Angst

Kapitel 9 Wie kann Perfektionismus verringert werden?

Literaturhinweise

Stichwortverzeichnis

Vorwort

Perfektionismus ist ein Krebsgeschwür im menschlichen Leben und eine Falle, die Wohlbefinden und Zufriedenheit zerstört. Die Lebensqualität leidet. Die bewussten und unbewussten Ziele sind zu hoch. Die Selbstüberforderung übersteigt das Normalmaß. Viele Frauen, Männer und Kinder versuchen als perfekte Menschen zu leben: als Eheleute, als Eltern, als Schüler, als Mitarbeiter und als Christen.

Perfektionismus ist ein unmenschliches Streben. Es setzt Leib, Seele und Geist unter Druck. Menschen, die dem Perfektionismus huldigen, schädigen sich und ihre Umgebung. Sie überfordern sich und machen das Leben zur Qual.

Perfektionismus äußert sich unterschiedlich bei introvertierten oder extrovertierten Persönlichkeiten.

Mehr introvertierte Perfektionisten leiden still vor sich hin. Sie machen kein Spektakel, fallen in der Öffentlichkeit nicht auf. Sie haben das Gefühl, nicht zu genügen, dass ihnen etwas fehlt, dass ihre Leistung nicht ausreicht. Sie fühlen sich hässlich, dumm und unerwünscht und haben Angst, Fehler zu machen. Sie fühlen, andere könnten hinter ihre Inkompetenz kommen.

Die extrovertierten Perfektionisten denken anders. Sie wollen gesehen und bewundert werden. Sie müssen vor den Augen der anderen glänzen. Mit Macht drehen sie auf, holen das Letzte aus sich heraus und demonstrieren ihr Können. Vor den Augen der Umwelt muss alles perfekt und tadellos sein. In den Schubladen und hinter den Kulissen sieht es häufig anders aus. Auch kritisieren sie die andern, die unvollkommen und fehlerhaft arbeiten. Am liebsten würden sie alles selbst und besser machen.

Perfektionismus ist menschliche Überheblichkeit. Denn Irren ist zutiefst menschlich. Verfolgen Sie einmal die Nachrichten: »Menschliches Versagen« wird als Ursache für 80 bis 90 % aller Unfälle im technischen System angegeben. Das gilt für ¾ aller Flugzeugabstürze, für 80 % aller Chemieunfälle und für bis zu 50 % aller Störfälle in Kernkraftwerken.

Perfektionismus ist eine schmerzhafte Einstellung für Christen und Nichtchristen. Diese Menschen streben höchste Normen und Idealvorstellungen an. Perfektionisten sind enttäuscht, wenn andere nicht mit ihren Idealvorstellungen übereinstimmen.

▪ Perfektionismus untergräbt die Zufriedenheit.

▪ Perfektionismus zerstört die Gesundheit.

▪ Perfektionismus ruiniert die Partnerschaft.

▪ Perfektionismus belastet den christlichen Glauben.

Perfektionismus ist kein unabänderliches Schicksal.

▪ Mit Gottes Hilfe können Perfektionisten zu glücklichen Menschen werden.

▪ Mit Gottes Hilfe können sie ihren Ehrgeiz, ihr Vollkommenheitsstreben und ihre Selbstüberforderung ändern.

▪ Mit Gottes Hilfe können sie ein Sowohl-als-Auch sehen und nicht nur ein Entweder-Oder.

▪ Mit Gottes Hilfe können sie zum Frieden mit sich, mit andern und zum Frieden mit ihrem Herrn finden.

Perfektionismus kann korrigiert werden, wenn mit der Einsicht eine Kurskorrektur verbunden ist.

KAPITEL 1

Die Triebfeder des Perfektionisten

Was ist die Triebfeder von Perfektionismus? Bevor wir diese Frage beantworten können, müssen wir zunächst klären: Was sind die treibenden Kräfte im Menschen überhaupt?

▪ Was gibt ihm Impulse,

▪ die ihn nach vorne ziehen,

▪ die ihn motivieren,

▪ die ihn aktiv werden lassen,

▪ die ihn beeinflussen, klare oder unbewusste Ziele anzusteuern?

Jeder Mensch verfolgt Ziele

Das heißt: Der Mensch verfolgt immer Ziele, die ihm nicht ständig durchschaubar sein müssen. Die Zielstrebigkeit des Menschen ist nicht nur eine Anschauung, sie ist eine Grundtatsache seiner Existenz.

– Immer will der Mensch etwas erreichen,

– strebt der Mensch etwas an,

– setzt ihn etwas in Bewegung,

– machen ihn Motive mobil.

Vielleicht wenden Sie ein: »Moment mal, da gibt es Menschen, die wollen gar nichts mehr tun, die wollen sterben.«

Richtig. Aber verfolgen sie keine Ziele, wenn sie sterben wollen?

Macht euch die Erde untertan!

In den ersen Versen macht Gott deutlich, was er vom Menschen erwartet und wozu er ihn in die Welt gesetzt hat:

Dann sagte Gott: »Nun wollen wir den Menschen machen, ein Wesen, das uns ähnlich ist! Er soll Macht haben über die Fische im Meer, über die Vögel in der Luft und über alle Tiere auf der Erde.« Gott schuf den Menschen nach seinem Bild, er schuf Mann und Frau. Er segnete die Menschen und sagte zu ihnen: »Vermehrt euch! Breitet euch über die Erde aus und nehmt sie in Besitz!« (Mose 1, 26 – 28).

Gott hat also den Menschen mit Energie, mit Macht und mit einem Lebenstrieb ausgestattet, der es ihm ermöglicht, Ziele zu verfolgen, die ER ihm genannt hat.

Wie lauten nun die Ziele dieses Bewegungsgesetzes, dieses Lebenstriebes, dieser Lebensenergie? Wenn wir das formulieren können, wird unter anderem deutlich, was der Mensch mit Perfektionismus bewusst oder unbewusst erreichen will.

In jedem Menschen sind unbewusste und bewusste Kräfte am Werk. Sie werden durch Vererbung, durch Erziehung, durch Sozialisation und durch die Schlussfolgerung, die jeder Mensch aus diesen Faktoren gezogen hat, inspiriert.

Das kleine Kind, das von Erwachsenen umgeben ist, will werden wie sie. Es verfolgt das Ziel,

– groß zu sein,

– stark zu werden,

– etwas darzustellen,

– und identifiziert sich mit Personen seiner Umgebung.

Es ist ein innerer Drang, von unten nach oben zu kommen, aus dem Kleinsein ein Großsein zu entwickeln. Oder anders ausgedrückt:

– Das Kind strebt Überlegenheit an,

– das Kind will sich zeigen,

– das Kind sucht Selbsterhöhung,

– das Kind demonstriert ein Verlangen, sich selbst, die anderen und die Welt – im weitesten Sinne – zu beherrschen.

Ein Weg, Überlegenheit zu gewinnen, ist Perfektionismus

Gott hat den Menschen in die Welt gesetzt, sich die Erde untertan zu machen. Im Paradies hat ihm die Sünde allerdings einen bitteren Streich gespielt. Gute, positive und menschenfreundliche Strategien sind nun mit negativen und destruktiven Verhaltensmustern durchsetzt. Seit der Vertreibung aus dem Paradies hat der Mensch lebensfeindliche, selbstschädigende und krank machende Einstellungsmuster entwickelt, die bis heute dem Mitmenschen und dem Menschen selbst zu schaffen machen.

Dazu zählt auch der Perfektionismus.

Weil dem Leben ein immanentes Streben

– nach Sicherheit,

– nach Überlegenheit,

– nach Vollkommenheit,

– nach Fehlerlosigkeit und

 

– nach Gottähnlichkeit

innewohnt, entwickeln viele Menschen einen unbeschreiblichen Ehrgeiz, andere durch ein Vollkommenheitsstreben zu übertrumpfen.

Konkurrenzkampf und Perfektionismus

Der Konkurrenzkampf wird gefordert und gefördert, um die Fähigen zu einer größeren Arbeitsleistung anzustacheln. Eine gehobene Stellung wird ihnen versprochen. So wird der Beruf weniger als Beitragsleistung für die Gemeinschaft, für die Gesellschaft, für den Leib Christi gewertet, sondern vielmehr als Belastung im Prestigekampf gesehen und empfunden.

Je höher die Stellung, desto höher das Ansehen, das Prestige. Und das Ergebnis?

Der Konkurrenzkampf, oft verbunden mit Ehrgeiz und Perfektionismus, treibt viele Menschen an, macht sie krank und unglücklich. Einer glaubt, den anderen überholen zu müssen.

Auf der Strecke bleiben das Gemeinschaftsgefühl und die Nächstenliebe.

– Die Angst zu versagen,

– die Angst, dem Stress nicht gewachsen zu sein,

– die Angst, das Erreichte nicht halten zu können,

– die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren,

treibt viele in den Zusammenbruch, in den Burn-out.

Der bedeutende Psychiater und Psychotherapeut Rudolf Dreikurs konnte schon Ende der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts schreiben:

»Unsere Strafanstalten, unsere Nervenheilanstalten und Spitäler sind mit überehrgeizigen Menschen bevölkert, deren Versagen im Leben direkt auf ihren übermäßigen Ehrgeiz zurückgeführt werden kann.«

Wenn Ehrgeiz sich dann noch mit Perfektionismus verbindet, ist das Maß voll. Die offenen und versteckten Ziele dieses Überanspruchs treiben Menschen in psychosomatische Störungen und Krankheiten, weil das Ziel, einen sinnvollen Arbeitsbeitrag für die Gemeinschaft zu leisten, verfehlt wird.

Was ist der Sinn unseres Lebens?

Wenn wir Gott über alles lieben und unseren Nächsten wie uns selbst. In diesen beiden Bestrebungen kommt der Sinn unseres Lebens zum Ausdruck.

– Jede Übertreibung durch Ehrgeiz und Perfektionismus ist eine Zielverfehlung,

– jede Übertreibung ist Egoismus und Selbstsucht,

– jede Übertreibung untergräbt unsere Gesundheit,

– jede dieser Übertreibungen ist Sünde.

Viele Perfektionisten sind auf Fehlersuche programmiert.

Wie hängt das zusammen?

Wer von Ehrgeiz und Konkurrenzstreben beherrscht wird, hat immer wieder das Gefühl, zu versagen und überrundet zu werden.

Minderwertigkeitsgefühle und Selbstwertstörungen untergraben das Selbstvertrauen. Unzulänglichkeitsgefühle und Selbstanklagen reißen den Menschen in die Depression. Zufriedenheit und Gelassenheit haben diesen Menschen den Rücken gekehrt. Sie stehen ständig unter Dampf und reagieren hektisch.

Warum?

– Sie sehen den Mangel und nicht den Erfolg,

– sie sehen die Probleme und nicht ihre Lösung,

– sie sehen die Größe ihres Versagens und nicht die Größe Gottes.

Es leuchtet ein, dass man sich so krank machen kann. Der Mensch führt Krieg gegen sich. Er zerstört seine Gesundheit und ruiniert sein Leben. Der Sinn seines Lebens ist verfehlt.

Aber was gibt dem Dasein Sinn? Wovon lebt der Mensch?

In seinem Roman »Krebsstation« beschreibt Alexander Solschenizyn den Mann Jefrem, einen ungeschlachten Burschen, der durch den Krankensaal geht und alle Menschen fragt, wovon sie denn nun leben. Schwierige Frage! »Von der Luft«, meint einer.

»Vom Wasser und vom Essen«, ein anderer. »Vom Arbeitslohn oder von der Qualifikation«, meinen wieder andere. Jefrem gibt sich nicht zufrieden. »Von der Heimat«, meint einer, »daheim ist alles leichter.« Jefrem fragt nun den Funktionär, der gerade ein Hühnerbein abnagt. »Darüber kann doch kein Zweifel sein«, erwidert der ohne Zögern, »die Menschen leben von der Ideologie und den gesellschaftlichen Interessen.«

Reicht das aus? Was ist der Sinn des Lebens? Wofür leben wir?

Wenn Ehrgeiz und Perfektion das Leben motivieren

Auf der Krebsstation schauen viele dem Tod ins Auge. Und bei uns? Viele fragen nicht, sie schuften. Und wenn man schuftet, bleibt keine Zeit zum Nachdenken. Der Ehrgeiz treibt einen vorwärts, wohin auch immer. Man will etwas erreichen, man will überlegen sein, man will Besitz schaffen. Man will dazugehören.

In der Beratung und Seelsorge sind mir immer wieder Menschen begegnet, die sich überarbeitet haben. Sie powern irrealen Zielen entgegen. Wenn dann der Organismus streikt, wenn seelische oder körperliche Krankheiten den so genannten »Fortschritt« stoppen, dann gibt es ein böses Erwachen.

Fragen tauchen auf:

– Was mache ich eigentlich?

– Was will ich zutiefst erreichen?

– Welche sinnvollen Ziele strebe ich an?

– Ist Arbeit der Sinn des Lebens?

Hitler ließ über dem Eingang zu einigen Konzentrationslagern in weithin sichtbaren Buchstaben den provozierenden Satz »Arbeit macht frei!« anbringen. Eine Unverschämtheit!

Wer arbeitet, ist beschäftigt und kommt nicht auf dumme Gedanken. Auch heute gilt:

– Wer schwer arbeitet, hat keine Zeit, über sein Leben nachzudenken.

– Wer schuftet, fragt nicht. Das Tier wird getrieben, der Mensch kann fragen.

– Wer wie ein Besessener arbeitet, verdrängt die existenziellen Fragen nach dem Leben, dem Sinn und dem Warum.

Auch da erscheint der Teufel als geschickter Durcheinanderbringer.

Skepsis und Skeptizismus haben sich als Prinzip weltweit breitgemacht. Skepsis bedeutet in Wirklichkeit: Sich der Wahrheit stellen. Skepsis ist kein Synonym für Unglauben. Der wahre Skeptiker stellt sich der Wahrheit. Und diese Wahrheit ist Christus und der christliche Glaube. Wer Christus vertraut, wird über Arbeit, über Ehrgeiz und Perfektionismus eine veränderte Sicht bekommen.

Darum sollen im nächsten Kapitel die vielen Gesichter des Perfektionismus, um nicht zu sagen die Fratzen des Vollkommenheitsstrebens, untersucht werden.

KAPITEL 2

Perfektionismus hat viele Gesichter

Den Perfektionismus gibt es nicht. Sein Erscheinungsbild ist vielschichtig, seine Ausdrucksformen zahlreich.

Jeder ist seines Stresses Schmied

Perfektionismus ist eine schlechte Angewohnheit. Er kann unser Denken und Handeln bestimmen.

Wie sagte schon der römische Kaiser und Philosoph Marc Aurel vor ein paar tausend Jahren: »Nicht die Tatsachen entscheiden über unser Leben, sondern wie wir sie deuten.«

▪ Unsere Gedanken machen eine Sache gut oder schlecht.

▪ Unsere Gedanken beflügeln oder lähmen uns.

▪ Unsere Gedanken machen uns gelassen oder produzieren einen inneren Aufruhr.

Eine nachdenkliche Geschichte kommentiert diese Aussage:

Es war einmal ein Mann. Man nannte ihn Adam. Er hatte viele Jahre mehr schlecht als recht gelebt. Viele Probleme trieben ihn um, über die er sich Gedanken machte und die ihn über die Maßen stressten. Alle Kleinigkeiten dramatisierte er. Das machte schließlich ein Nervenbündel aus ihm.

Eines Tages bekam er Krebs. Zuerst wurde er operiert und dann mit Strahlen behandelt. Leider blieben alle Eingriffe erfolglos. Er siechte dahin und der Tod klopfte an seine Tür.

Kurz vor dem Sterben, sein handgeschriebenes Testament lag neben ihm, zog sein Leben noch einmal wie ein Film an seinem inneren Auge vorbei. Einige Ereignisse machten ihn hellhörig. Ein erster Freund, er war zehn Jahre alt, hatte sich über ihn lustig gemacht. Jedenfalls glaubte er das. Er trennte sich von ihm und wollte ihn sein Leben lang nicht wiedersehen. Mit 17 Jahren verliebte er sich das erste Mal. Das Mädchen hielt ein Rendezvous nicht ein und er wandte sich enttäuscht und verbittert von ihm ab. Ein Jahr lang war er untröstlich. Als er verheiratet war und die Katze des Nachbarn auf sein gepflegtes Rosenbeet einen Haufen setzte, führte er einen erbitterten Rechtsstreit, der ihm den ersten Herzinfarkt bescherte. Viele Beispiele mit ähnlichen Reaktionen streiften sein Gehirn. Er schüttelte den Kopf und musste ernsthaft lachen. Dann nahm er seinen Füllfederhalter und schrieb seinen Kindern folgenden Satz ins Testament: »Ihr Lieben, denkt immer daran, im Angesicht der Ewigkeit sind tausend Probleme unseres Lebens, die wir viel zu wichtig genommen haben, wie ein Windhauch – ohne jede Bedeutung.«

Adam hat recht. Im Angesicht des Todes sind die meisten Probleme unseres Lebens, die wir verstärkt dramatisiert, zergrübelt und aufgeblasen haben, völlig überflüssige Aufregungen.

Es sind also negative Gedanken, die den eigentlichen Stress beinhalten. Perfektionismus ist ein hässlicher Stressfaktor, der unser Leben einschnürt, es belastet und viele Energien unnötig auffrisst. Aber hinter dem Perfektionismus steckt eine falsche Leitidee:

– »Nur wenn du vollkommen bist, hat man dich lieb!«

– »Nur wenn du fehlerfrei arbeitest, kannst du bestehen!«

– »Gut ist nicht gut genug. Hol das Letzte aus dir heraus!«

Dieser innere Antreiber kann sich lebensbedrohlich auswirken.

Der introvertierte und der extrovertierte Perfektionist

Da ist Frau Fischer. Eine penetrant ordentliche und zuverlässige Frau. Sie ist Buchhalterin in einer Textilfirma und bei der Firmenleitung beliebt. Ihre Arbeit ist einwandfrei. Wenn sie nicht fertig wird, macht sie Überstunden. Sie will die Arbeit erledigen. Was nicht erledigt ist, bereitet ihr enorme Kopfschmerzen. Am Ende des Jahres war ihr »ein kleiner Patzer« bei der Jahresabschlussbilanz unterlaufen. Sie war untröstlich. Die Firmenleitung beklagte sich nicht, aber Frau Fischer lag mit sich im Krieg. Sie konnte zu Hause ihren Haushalt nicht schaffen, war unglücklich und nicht zu genießen.

»Ich bin eine dumme Pute. Der Fehler hätte nicht geschehen dürfen. Eine ordentliche Buchhalterin ist gegen solche Fehler gefeit. Wenn mir das wieder passiert, werfen mich die Chefs raus. Ein Buchhalter muss perfekt sein, sonst kann er gleich gehen.«

Was sind die Kennzeichen eines introvertierten Perfektionisten?

– Er ist unerbittlich gegen sich selbst.

– Er kann sich Fehler und Sünden nicht vergeben.

– Er kann Fehler bei anderen entschuldigen, aber nicht bei sich.

– Er wertet sich selbst ab.

– Er leidet an sich.

Herr Weber ist ein extrovertierter Perfektionist. Er ist Kontrolleur in einer Elektrofirma. Er ist genau und überkorrekt. Aber er hat eine Schwäche. Ihn ärgert ungemein, wenn eine Kollegin oder ein Kollege etwas vergisst. Jede Großzügigkeit des anderen ist ihm ein Dorn im Auge. Als Kontrolleur – auf diesem Posten ist er goldrichtig – sieht er alles, hört er alles und weiß alles. Seine Kollegen meiden ihn, weil sie in ihm einen »Stänkerer« sehen. Den Spitznamen trägt er seit Jahren. Wenn in der Firma von »Stänker« die Rede ist, weiß jeder, wer gemeint ist.

Herr Weber ist verheiratet und hat zwei Söhne von 13 und 15 Jahren. Das Verhältnis zu ihnen ist mehr als schlecht. Wenn der Vater nach Hause kommt, geht die Kritik los. Irgendwas findet er immer. Einer seiner Söhne hat ihm eines Tages das böse Wort in Riesenlettern an sein Arbeitszimmer geheftet: »Wer sucht, der findet. Wer nicht sucht, findet auch immer.« Der Vater kann darüber nicht lachen. Ihn ärgert diese Kritik, weil er darin eine unverschämte Rebellion sieht.

Was sind die Kennzeichen eines extrovertierten Perfektionisten?

– Er sieht bei andern Fehler und Schwächen.

– Er kritisiert die Unvollkommenheiten anderer.

– Er kann sich leichter verzeihen.

– Er macht lieber die Arbeit selbst, um nicht die Unvollkommenheit anderer ertragen zu müssen.

– Er hat ständig Schwierigkeiten mit anderen Menschen.

– Er leidet an anderen.

Perfektionismus: Irrationale Idee Nr. 11

Der amerikanische Therapeut Dr. Albert Ellis, der Begründer der Rational-Emotiven-Therapie, hat in einem seiner Bücher elf »irrationale Ideen« veröffentlicht, die psychische Störungen verursachen und aufrechterhalten. Er geht davon aus, dass wir in unseren Familien und in unserer Gesellschaft von abergläubischen und unsinnigen Ideen indoktriniert werden. Solche Vorurteile und irrationalen Vorstellungen gelten als Hauptursache für Neurosen, Verhaltensauffälligkeiten und psychosomatische Störungen. Die Formulierung der irrationalen Idee Nr. 11 lautet:

 

»Die Vorstellung, dass es für jedes menschliche Problem eine absolut richtige, perfekte Lösung gibt und dass es eine Katastrophe sei, wenn diese perfekte Lösung nicht gefunden wird.«1

In der Welt der Unvollkommenheit und Unsicherheit glauben viele Menschen, nicht glücklich sein zu können. Sie suchen Sicherheit, absolute Beherrschung der Lage, die vollkommene Wahrheit und die totale Kontrolle.

Alle diese »irrationalen Überzeugungen« sind falsche Erwartungen, beinhalten übertriebene Hoffnungen und enden in großen Enttäuschungen. Ellis geht davon aus, dass der Mensch, der diesen »irrationalen Ideen« nachläuft, genau die Katastrophe herbeiführt, die er vermeiden will. Irren ist menschlich und perfektionistische Lösungen werden zum Albtraum.

Perfektionismus und Magersucht

Überall wird deutlich: Den Perfektionismus gibt es nicht. Es gibt lediglich verschiedene Perfektionismus-Aspekte, die bei unterschiedlichen Personen spürbar werden.

Da sind die Magersüchtigen. Sie haben perfektionistische Neigungen. Wahrscheinlich ist ihr Vollkommenheitsstreben eine der Hauptwurzeln für ihr Elend. Sie haben die Überzeugung, sie seien zu dick und nicht gut genug.

Sandra Litty, eine ehemalige Magersüchtige, schrieb über ihr Leben:

»Ich war weit gelaufen auf dem Weg, den ich meinen eigenen nannte, denn ich hatte ihn selber gewählt. Ich perfektionierte alles in meinem Leben, weil Perfektion das Ziel unserer Gesellschaft ist. Ich wanderte jahrelang auf meinem Weg, wollte es allen Menschen recht machen, wollte gut sein, alle Erwartungen erfüllen und Anerkennung sammeln, um mich selber zu mögen. Ich wurde mehr und mehr von meinen Fähigkeiten und – schlimmer noch – von den Unfähigkeiten abhängig. Wie konnte es anders kommen: Ich musste versagen, immer wieder fallen, denn wer kann diese Ansprüche schon erfüllen? … Auch als ich schon viele Bereiche meines Lebens von dem Zwang zur Perfektion befreit hatte, stand das Essen noch unter meiner Herrschaft. Alles hatte ich weggeworfen, aber die Herrschaft über meinen Körper wollte ich nicht aufgeben.«2

Unmissverständlich spricht die Magersüchtige über ihren Perfektionismus. Die Ansprüche sind neurotisch. Das Vollkommenheitsstreben ist lebensfeindlich. Der Zusammenbruch des Lebenswillens voraussehbar. Wie geht die Magersüchtige damit um?

Sandra Litty beschreibt es so: »Wäre ich dick, dann müsste ich vor Gram vergehen. Doch was soll ich tun? Die einzige Alternative war Selbstmord.«3

Sie wurde wie ein Wunder davor bewahrt, aber der Weg war vorgezeichnet. Wer perfektionistische Ziele anstrebt, landet in einer Sackgasse. Die Anstrengungen sind übermenschlich und die Ziele überspannt.

Perfektionismus und Kontrolle

Eine Spielart des Perfektionismus ist Kontrolle. Kontrolle gehört zu bestimmten Lebensstil-Leitmelodien. Sie kennzeichnen die Einmaligkeit dieses Menschen.

– Sie zeigen, was dieser Mensch am höchsten bewundert.

– Sie zeigen, was dieser Mensch am intensivsten anstrebt.

– Sie zeigen, was dieser Mensch auf alle Fälle vermeiden will.

Die Lebensstil-Leitmelodie Kontrolle spiegelt ein Bewegungsgesetz des Menschen wider, eine Stellungnahme zu den Lebensproblemen und zum Zusammenleben in der Gemeinschaft. Man kann sie auch Prioritäten nennen. Prioritäten sind also hervorstechende Eigenschaften, Verhaltens- und Einstellungsmuster, die diesen Menschen besonders wichtig sind.

Die Priorität Kontrolle kennzeichnet ein Wesensmerkmal des Perfektionisten. Dieser Mensch wünscht sich

– Sicherheit,

– überschaubare Verhältnisse,

– Ordnung und Gewissenhaftigkeit,

– Schutz vor unvorhersehbaren Ereignissen.

Kontrolle kann mehr das eigene Leben oder das Leben der andern betreffen. Der Kontrolleur kann in erster Linie auf Selbstkontrolle oder auf Kontrolle der anderen Wert legen. Wer in erster Linie sich im Auge hat, legt auf Gradlinigkeit, Pflichtbewusstsein und Prinzipientreue im eigenen Leben Wert. Er will vorbildhaft und zuverlässig erscheinen. Sein Leben soll berechenbar sein. Wer primär Kontrolle über andere Menschen gewinnen will, kann zum Tyrannen werden. Er reglementiert und bevormundet seine Kinder, den Partner und seine Mitarbeiter. Diese Form des Perfektionismus reizt zum Widerspruch. Sie fördert Rebellion und Widerstand. Beruflich können solche Menschen viel leisten, nur, ihre Beziehungsfähigkeit ist in der Regel schwach entwickelt.

Der Kontrolleur, der andere kontrollieren will, hat es schwer, sich Gott auszuliefern. Er will sich und sein Leben im Griff haben und nicht abhängig sein. Er fürchtet, von Gott reglementiert und kontrolliert zu werden.

Was ist ein Perfektionist?

▪ Er ist tadellos.

▪ Er ist makellos.

▪ Er ist fehlerfrei.

▪ Er ist außerordentlich.

▪ Er ist übergewissenhaft.

▪ Er ist pingelig.

▪ Er ist ein Buchstabendenker.

▪ Er ist ein Sophist.

▪ Er kann zum Wortklauber werden.

▪ Er denkt und handelt moralistisch.

▪ Er vertritt sehr hohe Maßstäbe.

▪ Er strebt das Vortreffliche an.

▪ Er tendiert zur Vollkommenheit.

▪ Er will sich nichts zuschulden kommen lassen.

▪ Er hat hochgesteckte Erwartungen.

▪ Er treibt sich selbst zum unerreichten Ziel an.

▪ Er will alles hundertprozentig machen.

Perfektionisten sind Menschen, die etwas so gut machen wollen, dass es möglichst nicht mehr zu verbessern ist.

Der Perfektionismuswahn

In einem Brief von Gesine Bauer lese ich einen Beitrag, der überschrieben ist: »Tödlicher Perfektionismuswahn«.

Wörtlich heißt es bei ihr: »Ein perfektes Paar, heißt es im Bekanntenkreis. Beide wissen alles übereinander, reden über alles miteinander, sie perfektionieren ihre Körper in demselben Fitness-Center und ihre Karriere nach demselben Strickmuster. Alles, was nicht perfekt ist, wird mit der Gründlichkeit ausgemerzt, mit dem ergrimmte Hobbygärtner resistentem Unkraut zu Leibe rücken. Sie lesen Bücher über Partnerschaft und kehren nie den Dreck unters Sofa.

Die Kinder kommen, alle hübsch, gesund und intelligent, und vor allem perfekt erzogen. Die Schulden fürs Haus sind abbezahlt, keiner geht fremd, beide haben Erfolg. Ein perfektes Paar im perfekten Glück.

Und dann plötzlich ist es aus. Der Freundeskreis des perfekten Paares zerfällt in zwei Teile: In einem schimpft sie unflätig über ihn, packt wochenlang so viel Übles aus, dass allen schon davon schlecht ist, und im anderen Teil praktiziert er das Gleiche mit umgekehrten Vorzeichen. Was ist da passiert?

War alles nur ein einziges Betrugsmanöver, was da wie Liebe aussah? Wer ist schuld an diesem Scherbenhaufen? Schuld ist nur einer: der partnerschaftliche Perfektionismuswahn.«4

Perfektionismus ist ein gefährlicher Bazillus. Alles muss perfekt und komplett sein. In der Lexikonreihe darf kein Stück fehlen, das Gläserservice muss vollständig und die Videothek fehlerfrei sein. Die Partnerschaftsdevise heißt: Glück ist, wenn nichts mehr fehlt. Alles ist fehler- und keimfrei.

Alle Winkel werden vom Staub befreit. Jeder Bazillus wird an die Luft befördert. Die Liebe hält das nicht aus. Perfektionismus evakuiert die Liebe. Sie kommt ins Schleudern, ihr geht die Luft aus. Perfektionismus ist ein Liebeskiller. Perfektionismus ist ein radikales Desinfektionsmittel. Mit Staub und Unordnung ist auch die Liebe weggeschrubbt.

– Beide sind perfekt.

– Beide sind erschöpft.

– Beide sind überarbeitet.

– Beide kapitulieren.

Sehr schön hat der Entertainer Otto Waalkes die perfekte Hausfrau auf die Schippe genommen. Übertrieben ahmt er sie nach. Sie schrubbt und saugt, poliert und desinfiziert. Und dann hört Otto eine Stimme: »Es ist sauber, aber noch nicht rein!«

Otto stürzt sich erneut mit Feuereifer in die Arbeit. Und wieder ertönt die Stimme im Hintergrund. Endlich versteht der Zwangsneurotiker: Seine Arbeit ist unnütz, solange er selbst im Raum ist. Er ist der Unsaubere, der die Reinheit verhindert. Als er die Küche verlässt, hört er eine triumphierende Stimme: »Jetzt ist alles rein.«

Wer scheuert und putzt, desinfiziert und blank poliert, lenkt von sich ab. Er sieht den Schmutz draußen. Er projiziert seinen Schmutz in die Welt. Fanatisch stürzt er sich auf die Säuberung der Umwelt und die Innenverschmutzung bleibt im Dunkeln.

In der Partnerschaft ist das nicht anders. Mit Röntgenblicken wird der andere durchleuchtet. Alle Staubfänger werden unters Mikroskop gezerrt. Es wird geputzt, kritisiert und Staub aufgewirbelt. Zärtlichkeit und Liebe werden ausgefegt. Zurück bleibt ein steriles Paar, das keimfrei in seinen vier Wänden haust.

– Die Liebe hat das Weite gesucht.

– Die Liebe ist desinfiziert.

– Die Liebe hat dem Perfektionismus Platz gemacht.

Perfektionismus und Depression

Es ist signifikant, dass viele depressive Menschen mit Perfektionismus zu tun haben. Depressive Menschen sind geistlich tiefgründig. Sie wollen ernst und ehrlich und nicht oberflächlich ihren Glauben leben.

Der amerikanische Theologe und Seelsorger David Seamands charakterisiert diese Menschen folgendermaßen:

»Es gibt viele verschiedene Arten von Depressionen. Sie unterscheiden sich in ihrer Stärke sehr voneinander. Ich möchte unser Augenmerk auf eine Art Depression richten, die durch ein angeschlagenes Gefühlsleben entsteht, vor allem durch eine geistliche Verzerrung, die man Vollkommenheitsstreben nennt – mit einem Fremdwort: Perfektionismus. … Das Vollkommenheitsstreben ist eine Nachäffung der Glaubensvollkommenheit. Anstatt uns zu heiligen Menschen und ausgeglichenen Persönlichkeiten zu machen – das heißt, zu ganzen Menschen in Christus –, macht das Vollkommenheitsstreben uns zu Pharisäern und Neurotikern.«5