Werd ich noch jung sein, wenn ich älter bin

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Reiner Schöne

Werd ich noch jung sein, wenn ich älter bin

Erinnerungen und Storys

FUEGO

Über dieses Buch

Sex & Drugs & Rock’n’Roll, Freiheit, Lebenswille - politischer Aufbruch der Achtundsechziger

„Werd ich noch jung sein, wenn ich älter bin“ ist eine Zeitreise von den Bombennächten in Weimar, durch die alte DDR in den Goldenen Westen, weiter in den Wilden Westen Amerikas, nach Hollywood und wieder zurück nach Germany.

Reiner Schöne schreibt über seine Begegnung mit der Gospel-Legende Mahalia Jackson, sein erstes Konzert in der Prerower Seemannskirche, für das er Werbeflyer auf den Zeltplatztoiletten aushängte, von der Arbeit mit Clint Eastwood und Kris Kristofferson, erzählt von seinen Erfolgen in »Hair« und »Jesus Christ Superstar« und von den Dreharbeiten zu »Star Trek«. Er nimmt die Leser mit zu den Locations seiner Abenteuerfilme und Western, lässt sie teilhaben an seinen Höhepunkten und Tiefschlägen – eine Zeitreise nicht nur durch sein Leben. Eine Zeitreise, die eine Epoche und deren ganze Jugend formte. Es wird lebendige Geschichte erzählt, für die heutige Generation, die dadurch Teil nimmt an einer für die heutige Kultur so prägenden Zeit.

Für Sophie Charlotte

Homesick Blues

I’ve been away too long my love, I’m comin’ home

I’ve been away too long my love, I’m comin’ home

Too many faces in too many places

And none of them yours

I hate to wake up in yet another empty motel room

I hate to wake up in yet another empty motel room

I close my eyes and try to see the sweetness of your face

It’s not he homesick blues that gets me by the balls

It’s not he homesick blues that gets me by the ball

It’s just the emptiness I feel when I am gone and you’re not here

I’m losing track how many weeks it’s been so far

I’m losing track how many weeks it’s been so far

Maybe seven down, but baby, hey, it’s only one to go

Killarney, Irland, 10. Juli 2007

Vorwort

Sommer 1977. Wir sind mitten in den Vorbereitungen zu meinem zweiten Album (das erste heißt »Bluesfaces« und ist schon ein paar Jahre alt). Konstantin Wecker, Harold Faltermeier und ich schreiben, arrangieren und lassen die Songs entstehen. Ich verehre Curd Jürgens, dem sie den schönen Song »Sechzig Jahre und kein bisschen weise« auf den normannischen Leib geschrieben hatten.

Ich will so was Ähnliches schreiben, meine Weisheiten in Text und Töne setzen, aber ich bin halb so alt und laboriere rum mit banalen Zeilen wie »Wenn ich mal Sechzig bin…« schreibe und bleibe stecken. Wecker sagt, »Gib mir das mal, ich will mal sehen, was mir einfällt,« und kommt am nächsten Tag mit einem wunderschönen Song ins Studio. »Werd ich noch jung sein, wenn ich älter bin?« Catchy, ohrwurmig, berührend. Hucky F. schreibt das Arrangement, es wurde der Titelsong des Blauen Albums - der Rest ist History.

Mit der zweiten Reiner Schöne Band, meinen Hannöverschen Jungs, wurde die Gangart härter; bei unserer ersten Tour 1979 kam noch das Liedermacherpublikum, die »Werd ich noch jung sein…« – Connaisseurs, aber beim ersten Brett, das geflogen kam, die Gitarren auf 10, hielt sich unten alles die Ohren zu. Das Rock’n’Roll-Leder, auch schon mal ein scheues Stagediving, vor allem aber die Lautstärke verprellten die Altfans - gewannen mir aber auch viele neue Freunde der Deutschrockerei.

Und seit Jahren werde ich immer wieder gefragt, »Wo kann man den Song kriegen?«, aber die LP ist vergriffen, manchmal sehe ich sie auf Flohmärkten oder im Schrank von Freunden.

Die Musik der neuen, der dritten Reiner Schöne Band ist akustisch geworden, bluesbetont, passt in keine gängige Musikindustrie–Schublade, Singer/Songwriter-Musik heißt das heute, und der alte Wecker-Kollaborations-Song ist jetzt wieder - nach all den Jahren – meine Standard-Zugabe bei unseren Gigs. Und da die Nachfrage nach dem Song nicht nachgelassen hat, gibts davon endlich ein Remake auf unserer ersten gemeinsamen CD.

Das neue Album heißt nach dem Titelsong »Mitten ins Herz«, und das sollte auch der Titel des Buches und somit des Hörbuchs sein.

Beim Abhören der Tracks im Auto auf dem Heimweg von der Schule meiner Tochter kam mir die Erleuchtung: Bullshit, der Titel des Buches muss natürlich heißen »Werd ich noch noch jung sein, wenn ich älter bin«, wie das Lied, das sich seit 1977 wie ein roter Faden durch mein Leben zieht.

So soll es sein.

Reiner Schöne, Berlin, 10. Februar 2012

Ganz nah

Dein Lächeln steckt an

Es kommt aus der Unschuld

Aus der Tiefe der Seele

Und ich wünsche mir

Dass es bleibt

Es macht mich froh

Und ich erkenne mich darin wieder

Wenn ich dir in die Augen seh

Von ganz nah

Dann seh ich mich selbst

Dann erkenn ich mich wieder

Wie ich war

Mit einem Jahr

Oder zwei

Oder vier

Die Nähe bleibt uns

Für immer

Das andere Ende des Regenbogens

Er öffnet die Augen, bevor er aufwacht. Begreift nichts. Wo bin ich, warum liege ich hier zwischen all den Blumen? Erst als ihm eine nasse Schnauze ins Gesicht gestupst wird, klicken langsam die Sinne ein. Wie Ikonen auf einem alten Computer. Eine nach dem andern, wie in slow motion. Neben ihm steht ein türkiser Truck, das Radio ist an, und irgendein Commercial stört den Frieden. Er steht auf, steif und mit Schmerzen im Rücken und macht das Radio aus. Was war los, warum bin ich hier?

Ein Blick auf den Hund bringt ihn zurück zur Realität. Irgendwie war alles zuviel, too much von allem, und er hat sich einfach rausfallen lassen aus seinem Leben. Nur noch weg. Allein sein. Nachdenken oder nicht Nachdenken. Treiben lassen. Stundenlang ist er durch die Wüste gefahren, nur als der Hund unruhig wurde, hatte er gehalten und ihn rausgelassen. Und um irgendwo einen Burger und einen Kaffee in seinen unschlüssigen Magen zu tun. Mechanisch, Hunger war nicht wirklich da.

»Komm her, Julie«. Die Hündin drückt sich an ihn. Sie war schon immer sensibel. Wann immer es ihm nicht gut ging, sie hat es gespürt und war ihm dann noch näher. Hunde haben eine Antenne für menschliche Miseren. Hündinnen vielleicht noch eher als Rüden. Er hatte noch nie einen Rüden. Er hatte überhaupt noch nie einen Hund. Sie ist sein erster.

Die Sonne geht unter, die Grillen werden wach, der Hund jagt einen Jack Rabbit, keine Chance, der Hase wird überleben.

Ist es das, was er wollte? Er lässt sich fallen, macht sich ganz leer, zieht alle Antennen ein und starrt in den Himmel. An nichts denken. Geht das? Als die Hündin zurück kommt, legt er seinen Arm um das hechelnde Tier und steckt seinen Kopf in das schwarze Fell. Sie riecht gut, ganz anders als andere Hunde. Selbst wenn ihr Fell nass ist, ist das immer noch ein schöner Geruch. Er presst sein Gesicht an ihren Kopf und zieht den Hundeduft ein. Ein vertrauter Geruch. Unbedrohlich. Er legt sie langsam auf den Rücken und kniet über ihr. Legt beide Hände um ihren dicken Hals und massiert sie, bis sie das Maul aufklappt und die Zunge raushängen lässt. Das ist das abgemachte Signal zwischen beiden, dass sie glücklich ist.

Er lässt sich wieder auf den Rücken fallen und starrt in den Himmel. Den Bussard nimmt er nicht wahr, der seine Jagd beendet für den Tag. Auch nicht den Kojoten, der auf dem Felsen steht und sie beobachtet. Den Mann und den Hund. Regungslos steht er in der untergehenden Sonne und fixiert die beiden mit seinen gelben Augen. Unbemerkt.

»Zeit für dich.« Er geht zum Truck, kramt unter der Rückbank und holt ein Paket Trockenfutter raus, öffnet eine Wasserflasche, füllt eine Schale und füttert den Hund aus der Hand. Ganz weit weg fliegt ein Flugzeug nach Osten. Ein kleines Gebet, dass das Flugzeug auch da landet, wo es landen soll. Just a little prayer. Dunkel heben sich die Joshua Trees gegen den Wüstenhimmel ab, gegen die Milchstraße; nachts schlafen die Klapperschlangen, er hofft, nicht auf eine zu treten. Die Chance ist gering, tatsächlich einem Wüsten-Rattler zu begegnen, Schlangen weichen aus, weiß er. Das Heulen eines jagenden Kojotenpacks macht die Hündin nervös, sie sucht seine Nähe und knurrt. Warnend; aber mehr ängstlich, er kennt sie seit sechs Jahren, da gibt’s eigentlich nur noch Vertrautheiten zwischen ihnen.

Er liegt da und sieht ganz tief in die Milchstraße hinein. Lichtjahre weit weg ist er, ganz tief eingeschmolzen ins Universum. Komisch, immer wenn er am Mittelmeer den Sternenhimmel sah, überkam ihn ein unstillbares Fernweh, ein schmerzendes Fernweh! Nicht jetzt, nicht heute, da ist nur Frieden und Ruhe. Er ist in der Ferne, in der Welt, er ist angelangt am anderen Ende seines Regenbogens. Go West. Wie die Siedler, die Pioniere der vergangenen Jahrhunderte in ihren Wagentrecks. Von Oklahoma nach Oregon. Von Kentucky nach California. Tausende Gräber säumen die Trails der Ochsenkarren, namenlos, ohne Grabsteine, ohne Blumen. Siedler, die ihre Heimat verlassen hatten, die mit den Indianern in Frieden lebten, bis die US Kavallerie dem ein Ende bereitete, Verrat und Bruch der Verträge politisch kalkuliert im fernen Washington.

Die Hündin hat die Augen geschlossen, aber er weiß, dass sie nicht schläft, das gelegentliche Zucken ihrer Ohren verrät sie. Sie nimmt die Geräusche der nächtlichen Wüste wahr, analysiert sie, jederzeit bereit, Hund zu sein.

 

Er spürt die Kraft, die aus dem Nichts kommt. Aus dem ,An Nichts Denken’. Wie lange hat er damit gewartet, sich überfordert, wie eine Maschine, die den Ölwechsel brauchte und nicht gewartet wurde!? Er hat funktioniert. Immer die Notwendigkeiten im Blick. Ob er vermisst wird, ob sie ihn suchen?

Er spürt, wie er eins wird mit dem Universum, mit der Wärme seines Hundes, der Milchstraße und dem Mantra der Grillen. Ganz langsam sinkt er ein in den Boden, spürt die Wurzeln der Joshua Trees, den Frieden, den er endlich annimmt.

Und dann sieht er den Engel, der vor ihm steht.

20. Oktober 2001

Bierflaschen und Wasserflöhe

Ich werde nie wieder das Geräusch der Bierflaschen vergessen. Leere Bierflaschen, die in den übereinander gestapelten Kästen wackelten; sie wackelten so heftig, dass es sich für immer in meine kleine Kinderseele einprägte. Die Kisten standen im Hausflur eines bebenden Hauses. Es war der 9. Februar 1945, und draußen ging die Welt unter.

Meine Mutter wollte sich nette Wellen legen lassen um ihr schönes Gesicht herum und hatte mich mitgenommen zu ihrem Friseur. Sie war gerade unter der Haube, als die Sirenen mit ihrem markerschütternden Geheul anfingen. Auch das war ein Geräusch, das ich nie wieder vergessen würde. Weimar wurde von englischen und amerikanischen Bombern angegriffen. Es krachte und heulte, alles wackelte, ein Treffer nach dem anderen, und wir waren mitten drin im Inferno. Mein Bruder und der Rest der Familie waren in Ehringsdorf, meine Mutter betete, dass die anglo-amerikanischen Verbände den kleinen Vorort nicht so wichtig nehmen würden wie das große Weimar.

Wer es noch rechtzeitig geschafft hatte, saß in einem der Luftschutzkeller; noch lange nach dem Krieg sah man an vielen Häusern die drei Buchstaben mit einem Pfeil nach unten: LSR. LuftSchutzRaum. Die meisten hatten eher einen psychologischen Effekt und waren Augenwischerei; es waren simple Keller; und wenn das Haus drüber einen Volltreffer kriegte, war man auch im Himmel. Wer »nur« verschüttet wurde, hatte einen Schaden fürs Leben. Wir saßen jetzt in so einem nutzlosen Keller und hörten im Hausflur die Bierflaschen scheppern.

Dann heulten die Sirenen Entwarnung, die Luft war rein, die Bomber waren weg.

Meine Mutter nahm mich an der Hand, und wir gingen ins Freie. Das erste, was ich sah, war das brennende Nationaltheater gegenüber vom Friseur. Aus den Säulen loderten haushohe Flammen, es war heiß wie in der Hölle. Überall war Rauch, die Menschen kamen wieder auf die Straße, und wir gingen nach Hause. Unsere Wohnung lag gegenüber vom Goethehaus am Frauenplan. Aber Goethes Haus hatte kein Dach mehr. Das Kaufhaus gegenüber hatte einen Volltreffer abgekriegt, und die Explosion hatte den ganzen Frauenplan beschädigt.

Wir gingen in unsere kleine Wohnung. Auch hier nacktes Chaos. Die Fenster hatten keine Scheiben mehr; der Luftdruck hatte sie alle nach innen gedrückt, meine weinende Mutter lief über knirschende Glasscherben und Trümmerteile, die den gesamten Fußboden bedeckten. Bei jedem Schritt macht es kkrrcckk, kkrrcckk. Die Wohnung war unbewohnbar geworden.

Ich weiß nicht mehr, wie wir zu den Großeltern nach Ehringsdorf gekommen sind, da waren jedenfalls alle am Leben und wohlauf.

Ein paar Tage später stand eine Nachbarin in der Küche und rührte ihren Kuchenteig. Plötzlich kamen sie wieder, die Flugzeuge. Aber sehr hoch; die Sirenen blieben stumm diesmal. Wenn die Flieger in dieser Höhe ankamen, dann war kein Angriff zu befürchten. Sie konnte ihre Augen nicht abwenden, und ihr wurde angst. Eine unglaubliche Anzahl von Bombern flog hoch über Weimar Richtung Osten. Und sie dachte sich, mein Gott, wo die ihre Last abladen, ist das Leben zu Ende. Es war der 13. Februar, und ein paar Stunden später gab es Dresden nicht mehr.

Im Mai war der Spuk vorüber, und vor unserem Haus in der Weimarischen Straße standen die Amis. Ein schwarzer GI kletterte von seinem Panzerspähwagen herunter und gab mir ein Stück Schokolade und einen Kaugummi. Leider kamen nach drei Wochen die Russen, die hatten solche Köstlichkeiten nicht; aber ein paar Jahre später hab ich von den Rotarmisten meine erste Zigarette gekriegt. Eine legendäre Papyrossi, kurze, kratzige Zigaretten mit Papiermundstück, das man einmal kreuz und einmal quer eindrückte, ehe man es sich zwischen die Zähne steckte. Die Variante für Arme waren Selbstgedrehte. Man baute eine kleine Tüte, sie musste aber aus dem Papier der »Prawda« sein - das garantierte den authentischen Geschmack - da kam dann Machorka rein, der raueste Tabak der Welt, mit Stängeln und allem. Kurzgehacktes sibirisches Homegrown. Ein Lungenzug genügte, um sich das Rauchen ganz schnell wieder abzugewöhnen.

Im Goethepark gab’s ein paar Bombentrichter. Von Bomben, die den Fliegern offensichtlich daneben gegangen waren; warum hätten die Amis auch noch Goethes alte Buchen bombardieren wollen!? In diesen Trichtern stand das Grundwasser – es waren inzwischen kleine Biotope geworden. Voll von Leben. Wir waren aber nur an den Wasserflöhen interessiert. Man zog einen von Muttern ihr’n alten Strümpfen über einen runden Draht, befestigte einen langen Stock dran, und fertig war das Wasserflohnetz. Wasserflöhe wurden von unseren Aquariumsfischen sehr gerne gefressen, also hatten die Streubomben wenigstens einen Nutzen nach dem Krieg. Die Ruinen der Häuser waren lange Zeit begehrte, wenn auch gefährliche Abenteuerspielplätze; außerdem gabs da immer Schätze zu finden unter den Trümmern.

Mein Bruder kam in die Schule, und ich sollte in den Kindergarten. Genau einen halben Tag hab ich’s ausgehalten. Ich war vier und fand das da alles blöd. Irgendwann drückte die Peristaltik, ich traute mich aber nicht zu sagen: »Ich muss mal.« Drei kleine Worte, die ungesagt, mir dann eine viel schönere Kindheit ermöglichten, als es so ein organisiertes Kindergartenleben jemals vermocht hätte. Unterwegs nach Hause passierte’s; ich konnte es nicht mehr halten, ich versuchte x-beinig zu retten, was zu retten war, aber nichts ging mehr; ich schiss mir in die Hose. Wenn ich nicht in diesem blöden Kindergarten gewesen wär, wäre das nicht passiert, war meine kindliche Schlussfolgerung. Nachdem mich meine Großmutter wieder sauber geputzt hatte, sagte ich trotzig; »Ich will nie wieder in den Kindergarten.«


Mein Bruder Wolfgang und ich.

Ich kriegte auch einen Schlüssel um den Hals und strolchte mit meinem Bruder durch Wald und Flur. Was war das doch für ein schönes Leben in Freiheit.

Irgendwann 1946 mussten wir ausziehen aus dem großen gelben Haus in der Weijmarischen Straße in Ehringsdorf, um den neuen Herren Platz zu machen, den Bonzen der neuen Partei. Wir zogen nach Oberweimar in eine kleine Zweizimmerwohnung; wir alle vier, Vater, Mutter, und wir beiden Jungs. Es war eng, aber es gab eine große Wohnküche. In meiner Erinnerung war sie jedenfalls groß. Wir wurden den Hauseigentümern einfach aufgedrängt, sie mussten in die obere Etage und wohnten genauso beengt wie wir unten.

Die Nachkriegszeit war Partyzeit, man feierte das Überleben; es wurde getanzt, was das Zeug hielt, und es wurden abartige, berauschende Flüssigkeiten konsumiert. Die Erwachsenen arbeiteten hart und feierten noch härter Meine Mutter war der Hit jedes Betriebsfestes; sie steppte mit Frack und Zylinder auf den Tischen. Ich kenne leider nur Fotos und Augenzeugenberichte von diesen ihren Aktivitäten; auch als Weihnachtsmann auf den Kinderweihnachtsfeiern war sie später nicht minder gefragt. Sie hat ihr musisches Talent mit einigem Erfolg auf ihre beiden Söhne vererbt. Mein Vater war stolz auf seine Frau; er, stets der Kavalier alter Schule und immer picobello angezogen und frisiert - letzteres hat er leider nicht auf mich übertragen können – verließ das Haus nie ohne Hut und Krawatte. Unsere Eltern waren oft weg abends. Und meine Mutter war stolz auf ihre beiden Jungs: »Die sind im Bett und sind ganz brav,« sagte sie immer.

Die braven Jungs aber spielten Fußball in der Küche, und der alte Lösch kam mit hochrotem Gesicht die Treppe runter und schiss uns zusammen. Mit Recht, wir waren laut; der selbst gebastelte Fußball donnerte an die Küchentür, eins der beiden Tore. Als er weg war, waren wir leise und machten mit Zeitungspapier und Feuerholz ein geräuschloses Lagerfeuer auf den Küchenfliesen; Karl May hatte bereits seine Spuren hinterlassen.

Die große Mutprobe war dann, nackig ums Viertel zu rennen. Dazu mussten wir aber erst aus den nicht ganz niedrigen Fenstern im Erdgeschoss klettern. Raus war nicht so schwer, aber beim Reinklettern kriegte die Kniescheibe den einen oder anderen blutigen Kratzer ab. Nackig um den Block, am hellerlichten Sommerabend, das war wirklich eine Mutprobe, die wir beide bestanden haben. Sie wurde oft wiederholt.

Wenn man Glück hatte, kam man an eine leere Tankhülse ran, die die Flieger offenbar abgeworfen hatten; so zwei bis drei Meter lange Blech-Zigarren. An der Seite wurde eine Öffnung ausgeschnitten, wer konnte, ließ sich die scharfen Ränder mit Holz verkleiden, damit man sich nicht verletzte, und dann wurde das Boot zu Wasser gelassen. Die »Boote« waren natürlich nicht sehr seetüchtig, weil sie ja einen runden Boden hatten. Sie sahen aus wie Mini-U-Boote. Wer einen Handwerker in der Familie hatte, der hatte auch einen Kiel unterm Kahn, das war das Non Plus Ultra.


Unsere Mutter hatte die charmante Neigung, ihre beiden Jungs zum Kinderfasching wechselweise in das Mädchen zu verwandeln, das sie so gerne noch gehabt hätte.

Irgendeiner meiner Freunde hatte so ein Hülse aufgetrieben. Wir hievten sie auf unseren Familienhandwagen. Die Ilmbrücke zwischen Ehringsdorf und Oberweimar wurde gerade repariert. Wir organisierten ein paar Brocken Teer, Reste des Belags, einen alten Eimer und zogen mit der Fracht zu unserem Garten. Wir nannten ihn unser Feld, weil er nur an zwei Seiten durch die Nachbargärten eingezäunt war und weit weg von unserm Hause lag. Auf dem Feld wurde ein Feuer angefacht, der Teer kochte, unser Boot kriegte einen Rostschutz, und mein Vater am nächsten Tag einen Anfall, weil wir nicht nur das Boot geteert hatten, sondern auch die Zwiebeln, die Tomaten, die Bohnen; der halbe Garten trug Spuren der Aktion. Und leider auch der Handwagen.

Inzwischen hatten wir unser Boot zu Wasser gelassen; der Stapellauf konnte beginnen. Das Kanu war wie erwartet unstabil, das Reinklettern war nicht ganz leicht, man gab mir das Paddel, ich paddelte drei Meter … und kippte um. Ich konnte mich zwar befreien und kam wieder hoch, aber unsere Titanic sank langsam und verschwand in der Ilm. Und da blieb sie dann, wir hatten die Nase voll von der Aktion Paddelboot. Inzwischen molekular verrostet, treiben seine Partikel durch die Gewässer des Freistaats Thüringen.

Als wir dann nach vielen Jahren endlich eine größere Wohnung gefunden hatten, zogen wir nach Weimar. Ich war in der siebenten Klasse und hatte überhaupt keine Lust, meine Freunde in Oberweimar zu verlassen, meine Klasse, ich wollte an meiner alten Schule bleiben. Also stand ich jeden Morgen eine halbe Stunde früher auf, um rechtzeitig da zu sein. Manchmal mit dem Rad, manchmal zu Fuß, im Winter oft auf Skiern. Ich musste jeden Morgen an Goethes kleinem Gartenhaus im Park vorbei; auf dem Nachbargrundstück gabs einen Schäferhund. Dieser verdammte Hund kam immer durch die Haselnusshecke auf mich zu, blieb drei Meter vor mir stehen und bellte bösartig auf mich ein. Das machte mir Angst. Und dann hab ich mir von meinem Konfirmationsgeld eine ganz und gar unchristliche Waffe gekauft; einen Hirschfänger mit Blutrinne. Den hab ich dann immer bei mir getragen und dachte mir, wenn der Misthund mich jemals angreift, dann ist er tot. Ich war kampfbereit.


Einschulung

Der Hund musste das gespürt haben. Er hatte Angst vor mir und blieb fürderhin immer hinter seiner Hecke. Er wagte sich nicht mal mehr zu bellen. Das war mein Kalter Krieg; Einschüchterung durch Aufrüstung.

Das Leben bringt es mit sich, dass man das Nest verlässt und sich in der Welt herumtreibt. Man sieht seine alten Freunde nur noch selten. Bei gelegentlichen Klassentreffen, bei den - immer zu kurzen - Besuchen zu Hause. Man driftet auseinander. Mit manchen mehr, mit manchen weniger, und manchmal verliert man Freunde auch. Das ist schmerzlich.

 

Aber manchmal sitzt man zusammen, redet von den ersten Jahren, den gemeinsamen Erlebnissen; das Bier zischt über die Bratwürste, die auf dem Grill duften und langsam knusprig werden; und dann wird man ganz still, horcht in sich hinein, und die Bilder kommen wieder. Das sind leise, glückliche Momente, in denen ich mich immer fühle, als wär ich maximal, na sagen wir mal zwölf.

Als ob die Zeit stehen bleibt.

Killarney, Irland, 7. Juli 2007