Nicht nur seelenverwandt

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Nicht nur seelenverwandt
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Regina Elfryda Braunsdorf

NICHT NUR

SEELENVERWANDT

Kurzgeschichten in Episoden

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2018

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Copyright (2018) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte bei der Autorin

Titelfoto „Jahresringe“ © Regina Elfryda Braunsdorf

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018

ISBN: 9783961456277

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Die 12 heiligen Nächte

24. Dezember: Maria

25. Dezember: Charly

26. Dezember: Sabine

27. Dezember: Marta

28. Dezember: Ines

29. Dezember: Anna

30. Dezember: Andreas

31. Dezember: Inga

1. Januar: Bernd

2. Januar: Tim

3. Januar: Sven

4. Januar: Kerstin

5. Januar: Sonja

6. Januar: Christiane

Eine Woche Freundeskreis

Einleitung

1. Donnerstag: Pit

2. Freitag: Rudolf

3. Samstag: Conni

4. Sonntag: Dagmar

5. Montag: Dustin

6. Dienstag: Mona

7. Mittwoch: Karla

DIE 12 HEILIGEN NÄCHTE 24. DEZEMBER BIS 6. JANUAR

So könnten die kurzen normalen Geschichten der ganz normalen Leute auch beginnen:

„Frau Frigg, die uralte Holle öffnet ihr schneeweißes Buch in den langen heiligen rauen Nächten und sieht in die Fenster der Menschenkinder: Maria, Charly, Sabine, Marta, Ines, Anna, Andreas, Inga, Bernd, Tim, Sven, Kerstin, Sonja und Christiane …“

24. Dezember: Maria

Im Briefkasten waren nur zwei Weihnachtskarten gewesen, eine von ihrer Cousine und eine von Claus. Es wurde Zeit für die Vorbereitungen. Maria holte ihre Makowka, die polnische Mohnspeise aus dem Kühlschrank. Normalerweise hätte sie die Makowka auf den Balkon über Nacht gestellt, aber es wäre zu warm gewesen.

So wie viele Mohnkörner, so viel Glück sollte jeder haben im nächsten Jahr. Das Glück musste am Anfang der heiligen Nächte herausgefordert werden.

In dieser Nacht würde heilige Nacht sein: Die Heilige Nacht.

Vater lebte nicht mehr, ihr Sohn war längst erwachsen, die anderen außer der Mutter machten sich nichts mehr, oder nicht mehr ganz so viel aus alten Traditionen. Maria aber wollte dafür sorgen, dass nichts verlorenging. Die wahre Bedeutung hatten ja sowieso nur der Vater gekannt und sie. Das war hier die Frage: „Heilig oder Profan?“ Meistens war es ein „Und: Profan mit Heiligem gemischt.“

Maria freute sich erst seit einigen Jahren auf den Heiligabend, so wie er in der Familie, ihrer Familie begangen wurde. Seit sie die mittleren Jahre erreicht hatte. Seit sie sich von ihrem letzten Lebensabschnitts-Gefährten, wie man so sagte, getrennt hatte.

Was hatte sie immer für nüchterne Männer gehabt: Maria lächelte. Als sie um die Vierzig war, zum Beispiel: Zur Zeit des damaligen Lebensgefährten, Fichtmann. Sie hatte wirklich nur noch so wenig für ihn übrig, dass sie ihn im Nachhinein nur beim Nachnamen nannte.

Auch er war nicht ganz so, wie es sein sollte: Schon im zweiten Jahr ihres Zusammenlebens wollte er nicht mehr zu den Eltern von ihr. Er wollte „einfach nicht den Weihnachtsmann spielen“, wie er trocken sagte. Eigentlich, Schuld daran war Maria selbst gewesen. Aber wenn sie nicht so richtig wollte, war das schließlich etwas ganz anderes.

All die Jahre, seit sie überhaupt begann, das eigene Umfeld mit den der anderen zu vergleichen, hatte sie ihre große Familie nie so richtig gemocht. Dieses Fremde. Das Theatralische war so anders. Peinlich. Bei ihnen wäre es immer so laut, so „zu lebendig“, wurde gemeint. Von Freunden und anderen. Maria wusste, was gemeint war: Sie waren zu fremd. Zu laut. Zu gesellig. Zu einfach, zu natürlich. Zu traditionell-katholisch für das säkulare Umfeld.

Dieser Fichtmann hatte sich ständig lustig gemacht über den angeblich noch zu hörenden slawischen Akzent. Marias Vater wäre „so poltrig.“ Und sie, Maria hatte Fichtmann im Stillen recht gegeben:

Einmal! Nur einmal, wollte sie ein normales Weihnachten haben. Ruhe haben, kein Theater. Kein ewiges Singen von Weihnachtsliedern nach dem 12-Sachen-Essen. Nachdem man sich mit Sauerkraut gegen eventuelle Fischgräten vollgestopft hatte. Das Schlimmste waren aber immer die Beschenkungen. Jedes Jahr war ein anderes Familienmitglied oder Schwiegersohn oder … dran, den Weihnachtsmann zu spielen. Richtig mit Sack und Schauspiel. Jeder musste dann ein Lied singen oder einen Vers tönen. Um 22 Uhr gingen dann alle in die Messe. Ein richtiges Programm eben mit Karpfen und Wein. Und Fichtmann war Vegetarier gewesen und er trank keinen Wein.

In jenem zweiten Jahr also sollte bei Fichtmanns, seinen Eltern mit Sippschaft gefeiert werden.

Maria zog ihrem Sohn ein schönes Hemd und eine blaue Hose an. Sie selbst zog ein grün-rot kariertes Kostüm an. Altrosafarbene Seidenbluse. Festlich eben. Für die Schwiegereltern in spe nahm sie eine gute Flasche Cognac und eine Flasche Cherry mit. Außerdem noch einen riesengroßen Konfektkasten für den Rest der Familie. Natürlich alles mit Weihnachtskärtchen versehen und in Geschenkpapier gewickelt. Goldene Stoffschleifen.

Sie klingelten: Die Schwiegermutter (die sie Gott sei Dank niemals tatsächlich geworden war) öffnete in Schürze und unfrisiertem Haar. Auf dem Tisch lag eine abwaschbare Tischdecke und der Fernseher lief. Man war noch nicht so weit. Aber der Weihnachtsbaum war wenigstens schon geschmückt. Natürlich ein echter. Nordmanntanne, nicht so wie bei Maria zu Hause alles künstlich, damit es bis Lichtmess durchhalte und wegen der Nadeln und und und. Hier bei Fichtmann merkte man eben, dass mehr Bildung da war und es wirkte nichts theatralisch und aufgetakelt. Der Vater von Fichtmann war noch in seinem Arbeitszimmer und kopierte seine Noten, wie es hieß. Die ältere Schwester saß mit ihren verwöhnten Gören auf der Couch und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Vor ihr ein Schnapsglas, das durch ihren Bruder oder durch den neben ihr sitzenden Ehemann nachgefüllt wurde.

Maria wurde ein Platz am Esstisch zugewiesen. Neben ihr saß ihr kleiner Sohn. Dann kam das Essen. Zuerst im Plastikwarmhalter Frikassee, dazu Toastbrot. Dann wurde ein schlichter Kartoffelsalat mit Würstchen zelebriert. Aber! es war ruhig. Keiner redete übermäßig. Niemand stritt sich. Und abends wurden nur kleine Aufmerksamkeiten ausgetauscht. Marias Sohn erhielt eine Schokolade mit drei aufgeklebten 5-Mark-Stücken. Maria bekam einen farblosen dünnen Schal überreicht. Nachdem alle eine Schalplatte mit Weihnachtsmusik gehört und Maria zwei Gläser Wasser und ein Waffelbecher Eierlikör getrunken hatte, gingen sie dann gegen Zehn nach Hause.

Es war der ruhigste Heiligabend, den Maria jemals bis dahin erlebt hatte. In ihrer Erinnerung wurde dieser 24. Dezember 1991 ein Sinnbild der Langenweile. Mit Fichtmann war es das letzte Weihnachten gewesen.

„Das war ja ein komisches Weihnachten“, hatte ihr Sohn nächsten Tag bei Oma und Opa gesagt, als mit großer Geste die Geschenke überreicht wurden, die der familieninterne Weihnachtsmann gestern dagelassen hatte.

 

Es war dann auch das einzige Mal geblieben, dass Maria außerhalb zu Heilig Abend war. Nun schon 60 Jahre lang.

Inzwischen wurde die Verantwortung für das Zubereiten des Essens aufgeteilt: Die kleine Schwester machte die zwei Sorten Karpfen, paniert und gebraten. Oma kochte die Vorsuppe mit dem Eierstich. Sie bereitete auch das Sauerkraut zu mit den Rosinen und Apfelsinnenstückchen und einem Schuss Öl. Die Kartoffeln kochten von alleine. Der Schwager Nummer Eins, der aus Tschechien stammt, kochte die guten Sahnesoßen und das Pilzragout. Zutat Neun und Zehn des Essens waren die Gemüsebeilagen: Erbsen und einmal Möhrchen. Und die Zwölf war die Makowka. Vater hätte jetzt gesagt: „So, wie viele Mohnkörner, so viel Glück euch allen, meine Kinder, jeder sollen haben im nächst Jahr!“

25. Dezember: Charly

Die Sonne war schon aufgegangen, heute sollten die Tage wieder länger werden. Charly steckte seine große Nase aus der Bettdecke raus. Es war frisch, obwohl er unter Protest seiner Frau die Heizung auf Maximum, auf 5 gedreht hatte.

Seine Schwiegermutter hatte keinen Thermostat. Zu Hause war die Temperatur am Tag auf 25 Grad und ab 22 Uhr auf 21 Grad Celsius geregelt: Immer konstant. Um 6 Uhr früh wurden wieder die 25 Grad automatisch eingestellt. Aber hier bei der Schwiegermutter war es eben nicht so. Kühl. Kühl in jeder Hinsicht.

Charly drehte seinen Hals zur Seite. Er würde jetzt seinen Nacken dehnen müssen: 60 Sekunden halten. Aber die Muskeln müssten warm genug sein. Das hatte er bei der Rückenschule gelernt, nachdem er den Hexenschuss überstanden hatte. Er fasste sich am Nackenansatz. Warm. Zwischen seinen Fingern spürte er seine wuchernden Rückenhaare. Er hatte gestern keine Zeit mehr gefunden, sich umfassend zu rasieren. Schuld war allein seine Frau; Ute nervte ständig. „Tu das, tue jenes.“ Die Geschenke mussten eingepackt und verpackt werden. Nur angebliche Aufmerksamkeiten, da man sich seit zehn Jahren offiziell nichts mehr schenkte. „Nimm doch die Einkaufsboxen“, hatte sie gesagt. So war seine Frau eben. Hätte er die Einkaufsboxen genommen, dann hätte sie gesagt: „Warum nimmst du nicht die großen Taschen?“

Charly begann seinen schmerzhaft verspannten Nacken zu dehnen.

Unten in der Küche klapperte es schon die ganze Zeit. Und es duftete nach gutem Kaffee. So wurde es langsam angenehmer. Er sah zur Uhr, er musste jetzt runter. Er hatte ja seiner Schwiegermutter versprochen, sie in die Kirche zu fahren. Aber vorher musste er noch einen Happen essen, ob er wollte oder nicht.

Früher, als man noch nicht etwas essen durfte vor der Eucharistie, hätte er noch nicht aufstehen brauchen. Da hätten sie aber noch irgendwann zur Beichte gehen gemusst. Früher. Obwohl, seine Schwiegermutter ging bestimmt noch zur Beichte. Charly kannte persönlich sonst niemanden, der noch zur Beichte ging. Außer seiner eigenen Mutter natürlich. Aber Athen war weit weg.

Charly schloss noch einmal kurz die Augen: Da waren der Junge mit seinem Vater und den Brüdern und der Mutter und der Pope, der sie am Kirchentor an den Händen gefasst hatte. Sein langer grauer Bart. Wie lange war das her? Eine andere Zeit, eine andere Welt. Ein anderer Mensch. Charly schlüpfte in die Hauslatschen seines verstorbenen Schwiegervaters, Herrn Schmidt, und stieg die Treppe hinunter.

„Guten Morgen.“ Die Stimme seiner Frau klang wieder gereizt. „Da bist du ja.“ Charlie antwortete nicht. Draußen pickten ein paar Vögel auf dem Holzzaun herum.

Das Bad war besetzt. Er klopfte mir der Faust. Sein lieber Herr Sohn blockierte wieder mal das Badezimmer. Das dauerte natürlich. Mindestens fünf Minuten musste er klopfen, bis er hinein konnte. Sein Sohn hatte beim Hinausgehen etwas in sich hinein genuschelt und mit den Augen gerollt. Wie immer. Charly tat, als ob er nichts bemerkt hätte.

Er sah in den Spiegel, einen Spiegelschrank mit LED-Oberbeleuchtung. Er musste sich noch rasieren. Nass natürlich. Unrasiert würde er auf keinen Fall zur Messe gehen. Er sah grau aus und er hatte dunkle Augenringe. Aus der Wohnküche klang leise Musik. „Oh, du Fröhliche, oh du seligeeee …“ Charly lockerte sich. Fertig. „Wann wollen wir los?“

„Ist noch Zeit“, sagte die Schwiegermutter.

„15 Minuten“, rief Ute.

Sie goss ihrem Mann noch etwas kochendes Wasser in seinen Kaffee dazu und schmierte ihm sein Brötchen. Charly wollte aber nur einen Joghurt, und er sagte, er hätte irgendwie noch keinen Hunger. Und er hatte wieder Druck auf dem Magen. Das Essen von der Schwiegermutter war immer so fettig gewesen. Und zu viel Salz.

„Es war so schön gestern auf der Mitternachtsmesse. Du hättest mitkommen sollen“, sagte er zu seiner Frau. Und wie er sich freute, dass aber er selbst in der Kirche gewesen war. „Ohne Heiliger Nacht, ohne in der Kirche gewesen zu sein, hätte ich alles! vermisst. Das wären doch keine richtigen Weihnachten“, sagte er.

Der Kaffee tat Charly gut.

„Gibt es denn keine Brötchen?“ Er hatte nicht gesehen, dass Ute ihm schon seine Butter-Semmel gereicht hatte. Charly sah in ihr verkrampftes Gesicht. „Sie könnte sich etwas mehr zurechtmachen“, dachte er, aber er hielt jetzt lieber den Mund. Sein Teenager-Sohn spielte auf dem neuen Smartphone und rollte mit den Augen. Er sah aus wie Charly früher auch ausgesehen hatte. Aber Charly verzog keine Miene.

„Wir müssen los“, rief seine Schwiegermutter.

Auf einmal. Erst Zeit und dann los. Charly sah zur Wanduhr. „Na gut“, sagte er: „Kommt noch jemand mit?“

Nein. Nicht einmal zu Weihnachten tat sie ihm den Gefallen, in die Kirche mitzukommen: Seinen Sohn brauchte er dann auch nicht zu fragen. Wenn der nicht gerade einen Pokémon nachjagte, fingerte der lieber auf seinem Smartphone als mal mit seinem Vater einmal mitzukommen. Und wie verschwörerisch die beiden sich wieder angesehen hatten. Charly war wie Luft für sie. Er war der Chauffeur. Er war der Vater. Er war der Schwiegersohn.

Wahrscheinlich mochte ihn nicht einmal seine einfältige Schwiegermutter. Diese assimilierte Helena. Nicht ein einziges Wort sprach sie mit ihm griechisch. Immer nur in Deutsch. Sie sah alt aus. Hässlich irgendwie. Charly sah auf den Beifahrersitz und half ihr beim Anschnallen. Ihre Handtasche hatte er auf den Rücksitz geworfen. Er sprach kein Wort mit ihr und sie sprach kein Wort mit ihm. Sie waren ja allein.

Am Kirchenportal wurden sie von dem katholischen Priester persönlich begrüßt. Charly erkannte ihn wieder, „ein netter Mann.“

Charly streckte seinen Hals und nahm seine Mütze ab. Er war der einzige hier in dieser Dorfkirche, der schwarze Augen hatte. Der einzige Fremde. Die Leute sahen ihn an und lächelten ihm freundlich zu. Ein christlicher Orientale. Als er vor vielen Jahren das erste Mal hier war, lächelten sie auch schon. „Der Schwiegersohn von den Schmidts. Gut gekleidet. Gut aussehend.“

Halb leer war die Kirche heute. Alle alt.

Beim Hinausgehen wurden alle von dem netten Priester verabschiedet. „Kein Bart, aber ein herzlicher Mann“, dachte Charly. Fast hätte er ihm die Hand geküsst.

„Kommen Sie gut ins neue Jahr. Glück und Gesundheit. Und Gottes Segen“, sagte der Pope.

Später als Charly beim Essen saß und sich einen Rotwein gönnte, erzählte er noch einmal, wie wichtig ihm diese Kirchgänge waren. Jetzt lächelte seine Frau. Charly trank hastig sein Glas leer und schenkte sich und diesmal auch ihr nochmal nach. Jetzt wurde es ihm leichter ums Herz. Endlich.

Er lockerte seine neue Krawatte und sah über den gedeckten Tisch.

„Schön, eine Familie zu haben. Zum Wohl“, rief er Ute zu. „Auf uns!“

26. Dezember: Sabine

Sie hatten sich einen Schuss Whiskey in den heißen Glühwein gekippt. Den Tipp hatten sie von Birgits Mutter: Kirschwein erhitzen und dann Whiskey hinein.

Birgit hatte den Wein natürlich mitgebracht, woher sollte denn Sabine so etwas sonst hernehmen. Den Whiskey hatte Sabine noch vorrätig. Ebenso: Apfellikör, Birne Helene, Kakaolikör, Eierlikör, Pflaumenschnaps und Doppelkorn.

Sabine besaß noch so etwas wie eine Hausbar, auch wenn kaum noch jemand etwas trank. Zumindest nicht zu offiziellen Anlässen. Zu Hause wurde weiterhin gesoffen. Schließlich kannte sie als Krankengeld-Fallmanagerin die direkten und indirekten Diagnosen. Bekannt war ja das sogenannte Weihnachts-Saufen.

Sie selbst trank am liebsten Hefeweizen, auch mal einen Klaren. Likörchen zwar gern, sehr gern sogar, aber selten. Diabetes. „Erstmal nur Tabletten“, wie es beim Arzt hieß.

„Sie müssen sich mehr bewegen, dann geht der Zucker auch runter.“ Das sagte nicht etwa ihre Ärztin, sondern ihr Kollege. Ein über allem stehender Familienvater. Evangelisch, seine Frau auch und die drei Töchter. Alle gelungen. Spielten Musik-Instrumente und alle waren sie schon fast heilig. Ihr Leben war geregelt und gut.

Sabine und Birgit hatten beschlossen, sich auch dieses Jahr bei Sabine zu treffen. Damit sie Weihnachten doch noch gut ausklingen lassen konnten. Und am zweiten Feiertag erst, weil sie beide ja am Heiligabend mit Familienmitgliedern rechneten und am ersten Weihnachtsfeiertag gingen beide stets, in ein Altersheim, jeweils die eigene alte Mutter besuchen.

Dieses Jahr war Sabines Bruder mit Kindern nicht gekommen. Nicht einmal kurz, wie sonst, um wenigstens die Geschenke abzuholen und die Aufmerksamkeiten abzugeben. Von Sabines Bruder gab es meistens nur Aufmerksamkeiten: irgendwelche Werbegeschenke, kleine Flacons mit Duft-Ölen und verschiedenen Parfüms oder Cremeproben, die seine Madam auf ihren Shoppingtouren von den Verkäuferinnen zugesteckt bekam. Sabine hatte dieses Zeugs immer gleich am 26. Dezember ihrer Freundin Birgit weitergereicht, ohne Brimborium.

Birgit mochte das Zeugs. Sabine war mehr für das einfache Duschbad und Deo und ihre eigene Creme-Sorte. Mit sechzig Jahren sollte jede normale Frau ihre eigene Kosmetik haben. Schließlich.

Birgit hatte diesmal auch noch eine Flasche Rotkäppchen-Sekt, natürlich trocken und ein kleines Büchlein, als Geschenk eingewickelt, mitgebracht. „Irgendwas über die Bedeutung von Weihnachten.“ Sabine nahm das Zeugs und legte es auf ihren vollen Computertisch, ins kleine Zimmer. Oben auf einen aussortierten Zeitungsstapel drauf.

„Nur weil ich nichts mit der Kirche am Hut habe, heißt das nicht, dass ich nicht weiß, was Weihnachten ist“, murmelte sie vor sich hin. Sie atmete einige Male tief durch:

„Weißt du überhaupt, dass heute eigentlich gar kein richtiges Weihnachten mehr ist, Birgit!“

„Brauchst nicht so laut zu schreien, ich höre dich auch so, ich höre alles!“, rief Birgit etwas gedämpfter zurück. „Was ist es denn, was wir alte Atheistinnen heute so feierlich begehen?“

„Stephanus-Tag. Der heilige Stephanus war der erste Märtyrer. Der erste christliche Märtyrer, der gesteinigt wurde.“

„Meine Frage war natürlich rein rhetorisch, ich kenne die Geschichte“, sagte Birgit. „Was bin ich doch gleich von Beruf?“

„Okay, hast ja deine DDR-Philosophie studiert. Aber, keine Theologie …“

Sabine merkte wieder zu spät, dass sie lieber hätte die Klappe halten sollen. Birgit war auch gleich wieder sofort stinksauer.

„Ich gehe.“ Birgit schwankte los.

„Du kannst doch so nicht mehr Auto fahren, du hast zwei Glühweine getrunken.“

Sabine blockierte die Wohnungstür. Schnell entschuldigte sie sich. Sie. Wie immer hatte sie sich entschuldigt.

„Wollen wir nachher wieder die CD über den Briefwechsel zwischen Marx und Engels anhören?“ Birgit zog erleichtert ihren Anorak wieder aus.

„Hast ja fast recht“, sagte sie. „Zu mehr als ML hatte es mit meinem Abiturzeugnis auch nicht gelangt, zufrieden?“

„Lass doch, es tut mir leid“, sagte Sabine.

„Weißt du, wir geben jetzt deine Sektflasche kurz ins Tiefkühlteil, dass wir sie zum Essen schön kalt haben.“

Sabine hatte, wie jeden zweiten Feiertag, den eigentlichen Stephanustag, eine große Lachsforelle im Bratschlauch zubereitet. Birgit holte die Teller, die Servietten und die Gläser aus dem Küchenschrank. „Nimm bitte die neuen Teller, die quadratischen weißen, die kann ich leichter in den Geschirrspüler geben“, rief ihr Sabine zu.

Auf dem Wohnzimmertisch standen schon die Knabbereien und die sorgfältig abgeschälten Apfelsinnenstücke lagen zu einer Blume geformt in einem Kristallschälchen. Früher, als Sabine noch geraucht hatte: war das ihr Aschenbecher. Sabine setzte sich in ihren abgewetzten Fernsehsessel und rollte ihn mit ihren Beinen Schwung holend zum Tisch. Birgit lümmelte sich auf das erst wieder aufgepolsterte Sofa und schmiss eine der herumliegenden Microfaserdecken auf ihre kalten Füße auf den Fußboden.

 

„Warum hast du eigentlich immer noch einen Weihnachtsbaum? Ich habe auch dieses Jahr wieder keinen Baum“, sagte Birgit.

„Aber Tannengrün hast du doch bestimmt, oder?“ Gewusst hatte es Sabine aber nicht: sie wusste nicht, ob Birgit Tannengrün hatte. Sie wusste auch nicht, ob eine Büste von Karl Marx oder ob vielleicht eine Skulptur der Jungfrau Maria oder ob überhaupt etwas auf Birgits Schrank oder sonst was stand.

Das war eben so. Immer war Birgit bei ihr gelandet. Schon lange ging das so, immer hatte Sabine die Einladungen zuerst ausgesprochen und diese wurden dann auch prompt angenommen. Keine sogenannten Gegeneinladungen. Und in der letzten Zeit hatte Birgit noch tiefere Augenränder und diesen missmutigen konkaven Zug um ihren Mund bekommen. „Ich bin froh, dass das sogenannte Weihnachten endlich vorbei ist“, Birgit fing schon an zu lallen.

„Weihnachten war schon gestern vorbei“, sagte Sabine. „Übrigens, ich habe noch eine gute Flasche Cherry, wollen wir?“

Birgit kicherte: „Dann eben Stephanus-Day, Juhe! Dann trinken wir eben noch einen zur Erinnerung an den gesteinigten Erz-Märtyrer.“

„Ob mein Kollege das auch weiß?“, fragte Sabine lachend.

„Auf Stephanus, den heiligen Kollegen“, rief Birgit. „Auf, dass Weihnachten endlich vorbei ist“, rief Sabine.

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