Zum poetischen Werk von Salvatore A. Sanna

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Caroline Lüderssen

Zum poetischen Werk von Salvatore A. Sanna

Col rosso in dominante

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

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Umschlagabbildung: Elio Mariucci, Haiku del tramonto – Haiku des Abendrots, 2018, Holz, Stoff, Acryl, Bleistift auf Papier, 35 x 24 x 6 cm

© 2020 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.narr.de • info@narr.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-8233-8406-9 (Print)

ISBN 978-3-8233-0231-5 (ePub)

Inhalt

  Versi da sorseggiare

  Verse zum Nippen

  Editorische Notiz

  Nota editoriale

 EinführungSalvatore A. Sanna – Ein deutsch-italienischer Lyriker in Frankfurt1. Salvatore A. Sanna als Lyriker der Erinnerung2. Dichten als Identitätsarbeit3. Salvatore A. Sanna als „Heimatdichter“

 AufsätzeZur Lyrik von Salvatore A. SannaIIIIIIIVVSalvatore A. Sanna: Die „Feste“ der WorteA casa nelle parole. La lirica di Salvatore A. Sanna1. I luoghi della poesia2. Lingua e memoria3. La poesia come esperienza visiva4. Per una poetica della leggerezzaLa poesia di Salvatore A. Sanna tra ironia e sublimeSalvatore A. Sanna als Dichter von Erinnerungsorten„Un calice rosso“ – „Ein roter Blütenkelch“Mythos und Erfahrung: Salvatore A. Sanna im Dialog mit Cesare Pavese„Due sfere s’incontrano“Übersetzen und Vertonen am Beispiel dreier Gedichte von Salvatore A. Sanna„Palestrina“ von Salvatore A. Sanna

 Vorworte und NachworteNachwort zu WacholderblütenDer Sturz der HorizontaleAbschied und AufbruchPrefazione a La fortezza dell’ariaEinleitung zu MnemosyneNachwort zu MnemosyneEinführung zu MareSalvatore A. Sanna

 RezensionenSublime e quotidiano nella lirica di Salvatore A. SannaBocca di Leone e profumo d’OristanoRecensione di Löwen-MaulRezension von FesteRecensione di MnemosyneIl poeta Salvatore A. Sanna e la letteratura de-centrataIl mare poetico di Salvatore A. SannaRecensione di Fra le due spondeTextnachweise

Versi da sorseggiare

Un saluto in versi per Salvatore A. Sanna

Ti conobbi nella poesia

dell’abbraccio di tre fiumi.

Negli occhi a poppa e nel cuore a prua

di Carmine, Franco e Gino.

Nell’incanto delle librerie

imparai la tua voce e i tuoi versi.

Delicati come il vento

che accarezza la zagara.

Cristallini come l’onda

che corteggia lo scoglio.

Sul Meno riempii una borraccia

dei tuoi versi de-centrati.

Per sorseggiarli oggi che viaggi ancora

incerto fra le due sponde

in sospeso sul mare

che ostenta le sue venature.

Giuseppe Giambusso

Fröndenberg, 22 marzo 2020

Verse zum Nippen

Ein Gruß in Versen für Salvatore A. Sanna

In der Poesie der Umarmung dreier Flüsse

lernte ich dich kennen.

In den Augen auf dem Heck und im Herzen auf dem Bug

von Carmine, Franco und Gino.

Im Zauber der Buchhandlungen

lernte ich deine Stimme und deine Verse.

Sanft wie der Wind

der die Orangenblüte umweht.

Kristallklar wie die Welle

die den Felsen umspielt.

Am Main habe ich eine Wasserflasche

mit deinen versi de-centrati gefüllt.

Um heute daran zu nippen während du noch unterwegs bist

in der Schwebe zwischen zwei Ufern

hoch überm Meer

das seine Äderung zeigt.

Giuseppe Giambusso

Fröndenberg, 22. März 2020

Übersetzt von Caroline Lüderssen; V. 14-16 aus einem Gedicht von Salvatore A. Sanna aus der Sammlung Feste (1999), Fra le due sponde-Zwischen zwei Ufern, Tübingen, Narr, 2004, S. 298-299, übersetzt von Gerhard Goebel.

Editorische Notiz

Der vorliegende Band enthält Texte zum poetischen Werk von Salvatore A. Sanna (1934-2018). Es ist eine Sammlung von literaturkritischen Analysen aus Sammelbänden und Zeitschriften, den Vorworten und Nachworten zu den Ausgaben seiner Gedichte und Rezensionen. Der Titel „Col rosso in dominante“ ist dem Gedicht «Quadratscha» von Salvatore A. Sanna entnommen (1984), in dem die Farbe rot eine besondere Rolle spielt; die Sensibilität für Farben ist charakteristisch für Sannas Schreiben. Die Gedichte von Salvatore A. Sanna werden in den Beiträgen nach folgenden Ausgaben zitiert:

Fünfzehn Jahre Augenblicke. Gedichte Italienisch-Deutsch. Übersetzt von Ragni Maria Gschwend. Mit einer Zeichnung von Piero Dorazio, Frankfurt am Main, Privatdruck 1978.

Wacholderblüten. Gedichte Italienisch-Deutsch. Übersetzt und mit einem Nachwort von Birgit Schneider. Mit zwei Zeichnungen von Fausto Melotti, Frankfurt am Main, Privatdruck 1984.

Löwen-Maul. Gedichte Italienisch-Deutsch. Übersetzt und mit einem Nachwort von Gerhard Goebel-Schilling. Mit zwei Zeichnungen von Ermanno Leinardi, Frankfurt am Main/Aarau, Verlag Sauerländer 1988.

Feste. Gedichte Italienisch-Deutsch. Übersetzt und mit einem Nachwort von Gerhard Goebel-Schilling. Mit zwei Zeichnungen von Achille Perilli, München-Mainz, von Hase & Koehler Verlag 1991.

La fortezza dell’aria [Löwen-Maul e Feste]. Presentazione di Luigi Malerba. Tre disegni di Enrico Della Torre, Torino: Franco Masoero Editore 1995. Ausgezeichnet mit dem Premio Pannunzio 1996.

Mnemosyne. Hommage an die Mutter der Musen. Übertragung und Nachwort Gerhard Goebel. Einführung Christoff Neumeister. Zeichnungen Gianfranco Pardi, Frankfurt am Main/Aarau, Verlag für deutsch-italienische Studien/Sauerländer 1999.

Mare. I guess what you mean. Gedichte Italienisch-Deutsch. Übertragen von Caroline Lüderssen. Mit einer Zeichnung von Marco Casentini, Tübingen, Narr 2009.

Fra le due sponde / Zwischen zwei Ufern. Gesammelte Gedichte Italienisch Deutsch, herausgegeben und mit einem Essay versehen von Thomas Amos, Tübingen, Narr 2004.

Fra le due sponde. Poesie. Nuoro, Il Maestrale, 2014.

Ich danke allen Autorinnen und Autoren herzlich für Ihr Einverständnis, ihre Texte in diesen Erinnerungsband aufzunehmen. Diejenigen Rechteinhaber, mit denen wir trotz intensiver Bemühungen keinen Kontakt aufnehmen konnten, bitte ich, sich mit dem Verlag in Verbindung zu setzen.

Ganz herzlich danke ich Giuseppe Giambusso, der als Weggefährte und Dichterfreund von Salvatore A. Sanna ein poetisches Grußwort für den Band geschrieben hat. Giambusso, 1956 in Riesi/Sizilien geboren, lebt seit vielen Jahren in Fröndenberg im Sauerland und gehört zu einem losen Zusammenschluss von italienischen Autorinnen und Autoren in Deutschland, die ab den 1980er Jahren mit Publikationen, Tagungen und Diskussionsveranstaltungen auf sich aufmerksam machten. Seine neue zweisprachige Gedichtsammlung ist im Erscheinen: Foto di ragazza senza gruppo/Mädchenbild ohne Gruppe, Dresden 2020.

 

Besonderen Dank möchte ich auch dem Künstler und Lyriker Elio Mariucci aussprechen dafür, dass er sein Haiku del tramonto (Haiku des Abendrots) von 2018 für den Umschlag zur Verfügung gestellt hat. Mariucci, 1946 in Città di Castello in Umbrien geboren, ist seit 1995 durch die Frankfurter Westend Galerie (dem Kunstforum der Deutsch-Italienischen Vereinigung in Frankfurt, gegründet von Salvatore A. Sanna 1966) in Deutschland vertreten. Città di Castello ist auch die Geburtsstadt von Alberto Burri, dem großen Materialkünstler. Für Mariuccis Arbeit ist neben der Farbe das Material von großer Bedeutung. Seine letzte Ausstellung in Frankfurt trug den Titel „Sedimenti“, denn seine Malerei und seine Lyrik beruhen auf Sedimenten des persönlich Erlebten, „Bruchstücke aus Erinnerungen, Erfahrungen, Wünschen, Verlusten, Freude und Leid“ (Simonetta Riccardini). Die Auseinandersetzung mit dem Material führte zu seiner Serie von „Haikus“, bei denen ein selbstgefertigter Holzkasten zum Aufklappen Sinn- und Bildträger wird. Der Haiku – eine japanische Gedichtform aus 17 Silben mit drei Versen von 5 – 7 – 5 Silben bzw. Lauteinheiten (Moren) ist immer auf eine Jahreszeit bezogen. Das ist auch bei Mariucci der Fall. Die dreiteiligen Werke bestehen in einem von Mariucci auf Italienisch geschriebenen Haiku, der sich auf der „Türinnenseite“ befindet, die Schrankseite rechts zeigt eine bildliche Übertragung und auf der Außenseite des Schränkchens ist die japanische Fassung des Haiku aufgetragen. In diesen Werken sind Ratio und Emotio, Bewusstes und Unbewusstes in den einzelnen Werkteilen aufeinander bezogen.


Haiku del tramonto Haiku des Abendrots
Mi piace stare Ich bin gerne
sul filo del tramonto am Rand des Sonnenuntergangs
in visibilio völlig verzaubert

(Elio Mariucci, Haiku del tramonto – Haiku des Abendrots, 2018, Holz, Stoff, Acryl, Bleistift auf Papier, 35 x 24 x 6 cm)

Ein sehr herzlicher Dank geht, last but not least, an Ann Bromkamp-Sanna, die diesen Band zur Erinnerung an ihren Mann angeregt und möglich gemacht hat. Er sei ihm, dem Kulturvermittler, Italianisten und Lyriker in Erinnerung an viele Jahre fruchtbarer Zusammenarbeit gewidmet.

Caroline Lüderssen

Nota editoriale

Il presente volume contiene testi sull’opera poetica di Salvatore A. Sanna (1934-2018). È una raccolta di analisi di critica letteraria da antologie e riviste, dalle prefazioni ed epiloghi alle edizioni delle sue poesie, alle recensioni. Il titolo è tratto dalla poesia «Quadratscha» (1984) di Salvatore A. Sanna, in cui il colore rosso gioca un ruolo speciale; la sensibilità per i colori è caratteristica della scrittura di Sanna. Le poesie di Salvatore A. Sanna sono citate nelle seguenti edizioni:

Fünfzehn Jahre Augenblicke. Gedichte Italienisch-Deutsch. Übersetzt von Ragni Maria Gschwend. Mit einer Zeichnung von Piero Dorazio, Frankfurt am Main, Privatdruck 1978.

Wacholderblüten. Gedichte Italienisch-Deutsch. Übersetzt und mit einem Nachwort von Birgit Schneider. Mit zwei Zeichnungen von Fausto Melotti, Frankfurt am Main, Privatdruck 1984.

Löwen-Maul. Gedichte Italienisch-Deutsch. Übersetzt und mit einem Nachwort von Gerhard Goebel-Schilling. Mit zwei Zeichnungen von Ermanno Leinardi, Frankfurt am Main/Aarau, Verlag Sauerländer 1988.

Feste. Gedichte Italienisch-Deutsch. Übersetzt und mit einem Nachwort von Gerhard Goebel-Schilling. Mit zwei Zeichnungen von Achille Perilli, München-Mainz, von Hase & Koehler Verlag 1991.

La fortezza dell’aria [Löwen-Maul e Feste]. Presentazione di Luigi Malerba. Tre disegni di Enrico Della Torre, Torino: Franco Masoero Editore 1995. Insignito del premio Pannunzio 1996.

Mnemosyne. Hommage an die Mutter der Musen. Übertragung und Nachwort Gerhard Goebel. Einführung Christoff Neumeister. Zeichnungen Gianfranco Pardi, Frankfurt am Main/Aarau, Verlag für deutsch-italienische Studien/Sauerländer 1999.

Mare. I guess what you mean. Gedichte Italienisch-Deutsch. Übertragen von Caroline Lüderssen. Mit einer Zeichnung von Marco Casentini, Tübingen, Narr 2009.

Fra le due sponde / Zwischen zwei Ufern. Gesammelte Gedichte Italienisch Deutsch, herausgegeben und mit einem Essay versehen von Thomas Amos, Tübingen, Narr 2004.

Fra le due sponde. Poesie. Nuoro, Il Maestrale, 2014.

Ringrazio tutti gli autori per aver concesso la ripubblicazione dei loro testi in questo volume commemorativo. Ai detentori dei diritti con i quali purtroppo non siamo stati in grado di prendere contatto, nonostante gli intensi sforzi, chiedo di contattare direttamente l’editore.

Ringrazio molto sinceramente Giuseppe Giambusso, che come compagno e amico poeta di Salvatore A. Sanna ha scritto un saluto poetico per il volume. Giambusso, nato nel 1956 a Riesi/Sicilia, vive da molti anni a Fröndenberg nel Sauerland e fa parte di una libera associazione di autori italiani in Germania che dagli anni ’80 in poi ha attirato l’attenzione con pubblicazioni, conferenze ed eventi di discussione. La sua nuova raccolta bilingue di poesie è in corso di pubblicazione: Foto di ragazza senza gruppo/Mädchenbild ohne Gruppe, Dresden 2020.

Un ringraziamento speciale va all’artista e poeta Elio Mariucci per aver messo a disposizione il suo Haiku del tramonto [2018] per la copertina di questo volumetto. Nato nel 1946 a Città di Castello in Umbria, Mariucci è rappresentato in Germania dalla Frankfurter Westend Galerie (il forum d’arte dell’Associazione italo-tedesca, fondata da Salvatore A. Sanna nel 1966) dal 1995. Città di Castello è anche la città natale di Alberto Burri, il grande artista che sperimentava col materiale. Per il lavoro di Mariucci non solo il colore, ma anche il materiale è di grande importanza. La sua ultima mostra a Francoforte si intitola „Sedimenti“ (2018), perché la sua pittura e la sua poesia si basano su sedimenti di esperienze personali, „frammenti di ricordi, esperienze, desideri, perdite, gioie e sofferenze“ (Simonetta Riccardini). L’esame del materiale ha portato Mariucci alla serie di „Haiku“: una scatola di legno da lui costruita che aprendola mostra con l’immagine il suo significato. L’haiku – una forma di poesia giapponese composta da 17 sillabe con tre versi di 5 – 7 – 5 sillabe o unità sonore (More) è sempre legata ad una stagione, così anche per Mariucci. Le opere (in tre parti) consistono in un haiku scritto da Mariucci in italiano che si trova all’„interno della porta“, il lato del mobile a destra mostra una interpretazione pittorica e all’esterno l’haiku è dipinto in Giapponese. In queste opere, la razionalità e l’emozione, coscienza e incoscienza, sono interconnesse nelle singole parti dell’opera.


Haiku del tramonto
Mi piace stare
sul filo del tramonto
in visibilio

(Elio Mariucci, Haiku del tramonto, 2018, legno, stoffa, acrilico, matita su carta, 35 x 24 x 6 cm)

Infine, un caloroso ringraziamento va ad Ann Bromkamp-Sanna, che ha ispirato e reso possibile questo volume in memoria del marito. È dedicato a lui, il mediatore culturale, italianista e poeta, in memoria di molti anni di proficua collaborazione.

Caroline Lüderssen

Einführung
Salvatore A. Sanna – Ein deutsch-italienischer Lyriker in Frankfurt1

Immacolata Amodeo

Salvatore A. Sanna, der die Deutsch-Italienische Vereinigung in Frankfurt am Main ins Leben gerufen und ein halbes Jahrhundert lang geleitet hat, war als Kultur- und Kunstvermittler zwischen Deutschland und Italien nicht nur in Frankfurt sehr geschätzt. Weniger bekannt ist vielleicht, dass er auch ein hochangesehener Lyriker ist, der ein beachtliches Werk vorweisen kann.

Er hat insgesamt sechs zweisprachige – italienisch-deutsche – Gedichtbände veröffentlicht. Der erste – Fünfzehn Jahre Augenblicke2 – ist 1978 datiert, 1984 erschienen die Wacholderblüten3. Es folgten 1988 die Sammlung Löwen-Maul,4 1991 Feste,5 1999 Mnemosyne.6 Der letzte Gedichtband – Mare7 – ist von 2009. Alle sechs Bände wurden zunächst als zweisprachige Ausgaben in Deutschland veröffentlicht. Einige sind später auch in Italien als rein italienische Ausgaben erschienen, z. B. La fortezza dell’aria, mit einer Einführung von Luigi Malerba8. Es liegt auch eine zweisprachige Gesamtausgabe – mit dem Titel Fra le due sponde/Zwischen zwei Ufern9 – vor, die 2004 erschienen ist, sowie eine rein italienische Gesamtausgabe mit dem Titel Fra le due sponde10 aus dem Jahr 2014.

Salvatore A. Sanna wurde 1934 in Oristano/Sardinien geboren. Nach dem Studium der Germanistik und der Anglistik an der Universität Cagliari und einem Aufenthalt in England kam er 1958 mit einem Stipendium der sardischen Regierung nach Deutschland. Er lehrte zunächst als Austauschassistent Italienisch am Lessing-Gymnasium und an der Musterschule in Frankfurt und war schließlich von 1962 bis 1998 als Dozent für italienische Sprache und Literatur an der Johann Wolfgang Goethe-Universität tätig. 1966 gründete er die Deutsch-Italienische Vereinigung e.V., die er bis 2016 ehrenamtlich geleitet hat. Zudem hat er – bis 1996 gemeinsam mit Trude Müller – in der Frankfurter Westend Galerie seit 1967 zahlreiche Ausstellungen zeitgenössischer italienischer Künstler organisiert. Darunter waren international bekannte Künstler wie Piero Dorazio, Giulio Turcato, Carla Accardi, Giuseppe Santomaso, Fausto Melotti, um nur einige zu nennen.

Salvatore A. Sanna gehörte auch zu den Gründern des Fachverbandes Italienisch in Wissenschaft und Unterricht (1976)11 und rief 1979 zusammen mit Arno Euler die Zeitschrift „Italienisch“ ins Leben, die er bis zu seinem Tod 2018 als Mitherausgeber betreut hat. 1992 entstand auf seine Initiative hin die Frankfurter Stiftung für deutsch-italienische Studien.

Schließlich wurde er 1977 als „Cavaliere“, 2004 als „Commendatore dell’Ordine al Merito della Repubblica Italiana“ und 1996 mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande geehrt.

Aus Salvatore A. Sannas umfangreichem lyrischen Werk seien im Folgenden einige Aspekte herausgegriffen, die mir – als Ergänzung, Kontrast oder Kontrapunkt zu seiner Tätigkeit als Kulturvermittler und Kulturmanager – besonders interessant und relevant erscheinen.

1. Salvatore A. Sanna als Lyriker der Erinnerung

Die Erinnerung, das „non dimenticare“, das Nicht-Vergessen, nimmt einen zentralen Platz in der gesamten Lyrik Salvatore A. Sannas ein. Bei der Lektüre seiner Gedichte hat man fast das Gefühl, als sei das Vergessen eine ständig präsente Gefahr, welcher der Mensch ausgesetzt ist, vor der er auf der Hut sein muss, insbesondere, wenn er sich von einem Ort zum anderen, von einem Land in ein anderes, verpflanzt hat. Das Dichten selbst wird zu einem wirkungsvollen Mittel, um diese Gefahr einzudämmen.

Als Beispiel sei auf ein Gedicht aus dem Band Fünfzehn Jahre Augenblicke verwiesen, das mit den Zeilen „Dalla cima del monte/Vom Gipfel des Berges“ beginnt. In diesem Gedicht ist es eine sich schlängelnde Bergstraße, die in der Erinnerung als sinnlicher Eindruck so stark ist, dass sie das lyrische Ich sogar „den Zugriff des Meeres/vergessen“ lässt:

Dalla cima del monte

vedo una strada serpente

che si slunga a metà costa

Il colore bianco argento

mi fa scordare la morsa

del mare

Al regno di Poseidon

è il Gennargentu

una porta chiara di schisti

 

Vom Gipfel des Berges

sehe ich eine Straße

auf halber Höhe

sich schlängeln

Die weiß-silberne Luft

läßt mich den Zugriff des Meeres

vergessen

Zum Reiche Poseidons

ist der Gennargentu

eine leuchtende Pforte aus Schiefer1.

Der Eindruck, der in der Erinnerung von dem höchsten sardischen Bergmassiv in diesem Gedicht wiederaufgerufen wird, ist so stark, dass sogar das Meer in den Hintergrund tritt. Der Gennargentu gewinnt in dem Erinnerungsgedicht eine mythische Bedeutung, die über die Bedeutung des Meeres hinausgeht: „mi fa scordare la morsa/del mare“ („läßt mich den Zugriff des Meeres/vergessen“). Das ist, historisch gesehen, nicht erstaunlich, denn traditionellerweise sind die Sarden ein Volk, das eher auf das Land bezogen und stark mit dem Land verbunden ist; die Sarden werden traditionellerweise als Hirten gesehen und dargestellt, nicht als Seeleute.

Sannas Gedicht, das zunächst als ein sehr persönliches daherkommt, transfiguriert die persönliche Erfahrung eines lyrischen Ichs, indem es sich in ein kulturgeschichtliches Gedächtnis einschreibt. Der in Frankfurt lebende Lyriker partizipiert somit mit seinem Gedicht an einem kollektiven Gedächtnis, welches sich auf eine geographisch gesehen entfernte Lokalität bezieht – das Bergmassiv Gennargentu –, die aber in der Erinnerungsarbeit des Dichters zeitlich und örtlich gewissermaßen ‚herangezoomt‘ wird.

Deutlich wird durch dieses Beispiel auch, dass gerade aus der zeitlichen und örtlichen Ferne das Dichten Teil jener Vorsichtsmaßnahmen ist, die das Individuum vor dem Vergessen bewahren und zugleich dabei helfen, die Erinnerung aufzufrischen. Das, was an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit erlebt wurde, wird durch das Dichten wieder ins Gedächtnis gerufen, wiederbelebt, in das Leben im Hier und Jetzt integriert. Was zunächst als ein individuelles Bedürfnis, eine individuelle Verfahrensweise und als individueller Gewinn aussehen mag, gewinnt, aus der Vogelperspektive betrachtet, auch kollektiven Wert.

Im Hinblick auf die Verfahrensweisen der Erinnerungsdichtung Sannas ist zunächst einmal festzuhalten: Erinnerung ist in Sannas Gedichten kein abstraktes oder rein kognitives Gebilde, sondern hat in erster Linie mit sinnlicher Wahrnehmung zu tun. Erinnerung wird an Sinneseindrücken festgemacht, an Bildern, Gerüchen, Geschmäckern, Tönen. Aus der Erinnerung geschildert, wird die Kindheit in Sardinien als eine sinnliche Erfahrung heraufbeschworen: Erwähnt werden die Karrenfahrten zum Weinberg und der Transport der Trauben zur Sammelstelle; die Gerüche, die bei der Traubenernte und bei der Weinproduktion entstehen; typische Speisen; und zwar auf eine Weise, die sie auch für den Leser des Gedichtes gegenwärtig, erfahrbar, lebendig machen:

[…]

Rivedo i fichi bianchi

sugli alberi, le corniole

le vernacce, sento l’odore

del mosto e delle vinacce

il gusto dei minestroni

di cavoli e di verdura

[…]

[…]

Ich sehe die weißen Feigen wieder

auf den Bäumen, die Hörnchen- und

die Vernaccia-Trauben, rieche den Dunst

von Most und Trester,

spüre den Geschmack der Karfiol-

und der Gemüsesuppen

[…]2.

Der Mechanismus der Erinnerung funktioniert hier über sinnliche Eindrücke: sehen, schmecken, riechen. Diese konkreten Erfahrungen können – auch aus der zeitlichen und örtlichen Entfernung – abgerufen, wiederbelebt und dem Leser mitgeteilt, ja, sogar – sofern sich dieser darauf einlässt – mit dem Leser geteilt werden. In diesem großen Sardinien-Gedicht, aus dem ich hier nur einen Teil zitiere, wird – über die Beschreibung bzw. Rekapitulation von Sinneseindrücken – eine vergangene, aber nicht verlorene Zeit erinnert, besungen und damit vergegenwärtigt.

In anderen Gedichten macht der Dichter Erinnerung an Orten, Landschaften fest. Ich nenne einige: Karbach3, Torre del Pozzo4, Cornovaglia bzw. Cornouaille5, Bagno Vignoni6, Vignoni Alto7, Val d’Orcia8, Lausanne9, Juan les Pins10, Praga bzw. Prag11. Alle diese Orte erweisen sich als Stationen einer Erinnerungsarbeit, bei der sich die zeitliche Dimension an einer örtlichen festmacht.

Dabei nimmt Sardinien einen Sonderstatus ein. Sardinien steht für jenen Teil des Lebens des lyrischen Ichs, der sich in einem Anderswo abgespielt hat und dem das lyrische Ich während seiner Sardinienbesuche nachspürt. Sardinien steht für die Kindheit und Jugend:

In questa terra

ci vengo per ricercare

una matrice spenta

Ogni incontro d’uomini

rimprovera il tratto straniero

il diverso pensare

C’è un mare ovale

per la sua cornice

che ti rimette l’infanzia

e ti fa sognare

un viaggio

di là da essa.

In dieses Land

komme ich auf der Suche

nach einer versiegten Quelle

Jede Begegnung mit Menschen

ist wie ein Vorwurf

fremden Gebarens

anderen Denkens

Es gibt ein Meer

oval in seinem Rahmen

das mich in die Kindheit versetzt

und träumen läßt

von einer Reise

aus ihr heraus.12

Erinnerung macht der Dichter nicht zuletzt an menschlichen Begegnungen und Beziehungen fest. Gerade auch in dieser Hinsicht spielt Sardinien eine wichtige Rolle. Erinnerungen an Personen aus dem engeren familiären Umfeld beziehen sich häufig auf eine Zeit, die Kindheit und Jugend, die in Sardinien verbracht wurde. Manchmal sind Erinnerungen an geliebte Menschen miteinander verwoben oder verschachtelt, wie in einem Liebesgedicht, in dem, wie es heißt, „unsichtbare Erinnerungen“ in der menschlichen Begegnung und in der Erfahrung mit den Dingen ans Licht kommen. Die Begegnung mit dem Vater des lyrischen Ichs in Sardinien und die Vertrautheit mit ihm ermöglichen der Fremden, der Geliebten des lyrischen Ichs, die Erinnerung an ihren eigenen, verstorbenen Vater wieder sehr gegenwärtig werden zu lassen:

Erano i frutti ancora

verdastri dell’orto

presso lo stagno

che mio padre tagliava

a fette per te. Forse

vedevi in lui il tuo

scomparso nelle falde

d’un tempo barbarico

Discreta ne seguivi il rito

nell’attesa infantile

del gusto inconsueto

Si creava un accordo

per memorie invisibili

e con fierezza ostentavi

a noi del nucleo

la tua appartenenza.

Es waren die noch grünen

Früchte aus dem Garten

unten am Teich

die mein Vater in Scheiben

zerlegte für dich. Vielleicht

sahst du in ihm den deinen

der im Schlund barbarischer Zeit

entschwand

Diskret verfolgtest du den Ritus

in kindlicher Erwartung

ungewohnten Geschmacks

Ein Einklang stellte sich her

über unsichtbare Spuren

und voller Stolz zeigtest du

uns vom Kern

daß du dazu gehörtest.13

In einem anderen Gedicht wird im Dialog mit einem „Du“ die eigene Kindheit erinnert:

È difficile spiegarti il senso

delle pietre

che rafforzano il muro

del convento

Su quel muretto

ci camminavo

da ragazzo

cercando l’equilibrio

Le mie uscite notturne

mi riconducono

in quella strada

a pochi metri da casa

E mi vien di tentare.

Es ist schwer

dir den Sinn der Steine

zu erklären

die die Klostermauer stützen

Auf dieser kleinen Mauer

lief ich als Kind

mühsam das Gleichgewicht haltend

Meine nächtlichen Spaziergänge

führen mich von neuem

in diese Straße

nur wenige Meter von zu Hause

Und wieder muß ich es versuchen.14

Das Erinnern ist das zentrale Thema besonders in dem Band Mnemosyne. Dort heißt es:

I ricordi balzano fuori

dal fondo della terra

come le talpe in primavera

[…].

Die Erinnerungen schnellen empor

aus dem Erdgrund

wie die Maulwürfe im Frühling

[…].15

Die Gestalt der Mnemosyne, die dem Band den Namen gibt, gilt in der griechischen Mythologie als die Personifikation der Erinnerung und als die Mutter der neun Musen.

Vor diesem Hintergrund mag die Metapher des Maulwurfs ungewöhnlich erscheinen. Der Maulwurf ist ein Tier, das in der Erde gräbt, im Untergrund bleibt. Die beim Graben anfallende Erde schiebt er mit dem Kopf beziehungsweise dem Rüssel an die Erdoberfläche, wodurch die typischen, circa 25 cm hohen Erdhaufen entstehen. Der Maulwurf sieht schlecht. Seine kleinen Knopfaugen nehmen nur Unterschiede zwischen Hell und Dunkel wahr. Auch der Gehörsinn ist beim Maulwurf wenig ausgeprägt. Stattdessen kann er mit den Haaren „hören“. Sie nehmen kleinste Erschütterungen, Schwingungen, Bewegungen, ja sogar Luftdruckveränderungen auf. Der Maulwurf gräbt komplexe Tunnelsysteme, die bis 200 m lang werden und bis 70 cm tief unter der Erde liegen. Auch viele Erinnerungen bleiben zunächst einmal im Verborgenen, im Unbewussten. Der Maulwurf „schnellt“, wie es in dem Gedicht heißt, „im Frühling herauf“, vielleicht angelockt durch das Sonnenlicht, vielleicht aus Neugierde. Auf ähnliche Weise kommen manchmal auch Erinnerungen unversehens ans Licht. Gedichte können solche Lichtblicke im Dunkeln sein. Sie fangen Erinnerungen ein.

Kunst ist – so gibt uns der Mythos zu verstehen – geformte, inkarnierte Erinnerung. Kunst und Literatur führen uns durch das Labyrinthsystem der Erinnerung. Die Erinnerungsarbeit wird in Salvatore A. Sannas Lyrik kombiniert mit einer Identitätsarbeit.