Zivilstand Musiker

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Zivilstand Musiker
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Der Verlag Hier und Jetzt wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.

Dieses Buch ist nach den aktuellen Rechtschreibregeln verfasst. Quellenzitate werden jedoch in originaler Schreibweise wiedergegeben. Hinzufügungen sind in [eckigen Klammern] eingeschlossen, Auslassungen mit […] gekennzeichnet.

Umschlagbild

Alexander Schaichet, Jena 1913

Fotografie: Alfred Bischoff, Jena

Lektorat

Rachel Camina, Hier und Jetzt

Gestaltung und Satz

Simone Farner, Naima Schalcher,

Zürich

Bildbearbeitung

Benjamin Roffler, Hier und Jetzt

ISBN Druckausgabe 978-3-03919-481-0

ISBN E-Book 978-3-03919-953-2

E-Book-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

© 2020 Hier und Jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte GmbH, Baden, Schweiz

www.hierundjetzt.ch

Sehr gerne habe ich zugesagt, für dieses Buch zu Ehren von Alexander Schaichet und seinem 1920 gegründeten ersten Kammerorchester der Schweiz das Vorwort zu schreiben. Es gab nämlich einen direkten Zusammenhang zwischen dem grossen Musiker und Pädagogen und meiner Familie: Mein Grossvater väterlicherseits war vor dem Ersten Weltkrieg in Warschau als junger Kapellmeister tätig gewesen und musste nach Ausbruch des Kriegs in die Schweiz zurückkehren. Als Musikdirektor im aargauischen Wohlen veranstaltete er mit dem Orchester Wohlen und dem gemischten Chor Harmonie ganze Saisonprogramme. Zum Auftakt der Saison 1924/25 hatte er als Solisten das Ehepaar Irma und Alexander Schaichet eingeladen!

Als Alexander Schaichet 1914 bei einem Ferienaufenthalt in der Schweiz vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs überrascht wurde und deshalb eine Rückkehr nach Jena nicht mehr möglich war, existierte das Tonhalle-Orchester als erstes Berufsorchester der Schweiz bereits seit 46 Jahren. Der aufgrund seiner grossen kulturellen Erfahrung in den verschiedensten Ländern und Funktionen tätig gewesene Musiker erkannte rasch, dass es neben dem grossen Orchester ein kleineres Ensemble mit anderer Ausrichtung brauchte. Dank seinem unermüdlichen Schaffen und seiner Überzeugungskraft erreichte er dieses Ziel.

Für einen solchen Schritt benötigt es immer Persönlichkeiten, die Mut und Unternehmertum an den Tag legen. Die Person Alexander Schaichet verfügte vermutlich nicht zuletzt wegen seiner Biografie über beides. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs konnte der Immigrant weder nach Deutschland noch nach Russland zurück und blieb – glücklicherweise – in der Schweiz. Nicht nur war er ein begnadeter Pädagoge und das Tonhalle-Orchester profitierte von Musikerinnen und Musikern, die durch ihn ausgebildet wurden. Es war Alexander Schaichet auch ein grosses Anliegen, Schweizer Komponisten zu fördern und deren Werke zur Aufführung zu bringen.

Diesem Bestreben leben heute sicherlich alle Orchester auf dem Platz Zürich nach. Die Frage lautet höchstens: Ist das Publikum in den Bereichen Klassik und E-Musik noch so neugierig wie damals?

Unbestritten braucht es auch heute noch Persönlichkeiten wie Alexander Schaichet, um kulturelle Werte zu schaffen und zu vermitteln. Hoffen wir, dass Vorbilder, wie er eines war, auch in Zukunft junge Leute ermutigen, in seinem Sinne fortzufahren. Dieses Buch leistet seinen Beitrag dazu.

Martin Vollenwyder, Präsident der

Tonhalle-Gesellschaft, Zürich

Ein Verzeichnis der aufgeführten Konzerte des Kammerorchesters Zürich von 1920 bis 1943 findet sich unter www.schaichet.ch/konzertverzeichnis

Inhalt

Krisen und Dynamik der jungen Grossstadt

Zürich in den frühen 1920er-Jahren Von Christoph Wehrli

Eine Pioniertat mit weitreichenden Folgen

Die wechselhafte Geschichte des Kammerorchesters Zürich 1920–1943 Von Verena Naegele

Vom Schriftenlosen zur prägenden Figur des Zürcher Kulturlebens

Ein Porträt Von Michael Eidenbenz

«Er war auch Psychologe»

Ehemalige Schülerinnen und Schüler erinnern sich Von Esther Girsberger

Klavierstunde

Ein Essay Von Dieter Ulrich

Das Kammerorchester vorgestern, gestern und heute

Stationen in der Entwicklungsgeschichte einer Institution Von Peter Hagmann

Anhang


Das Zürich, in dem sich Alexander Schaichet seit 1914 aufhielt und wo er 1920 ein Kammerorchester gründete, war als Grossstadt (nach schweizerischen Begriffen) erst wenige Jahrzehnte alt, heterogen und lebendig. Die Zuzüger aus dem In- und Ausland waren weit zahlreicher als die Stadtbürger, gegensätzliche geistige und politische Strömungen trafen zusammen, es war ein Ort der technischen und gesellschaftlichen Modernisierung. Die Jahre, auf die sich der folgende Beitrag konzentriert, waren zudem geprägt durch Wechsel von Zwängen der Kriegszeit zu Friedenseuphorie und von einer Krise zu einem längeren Aufschwung.

1921 zog der 16-jährige Elias Canetti von Zürich, wo er fünf Jahre verbracht hatte, mit seiner Mutter nach Deutschland – sehr widerwillig. Später aber schrieb er: «Es ist wahr, dass ich, wie der früheste Mensch, durch die Vertreibung aus dem Paradies erst entstand.»1 Zehntausende von Menschen aus europäischen Ländern hatten in der Schweiz Zuflucht vor dem Krieg gefunden, darunter auch einfach vom Kriegsausbruch überraschte Reisende wie Alexander Schaichet. Viele nahmen die Arbeitsstellen militärisch einberufener Ausländer ein. Besonders in Zürich wurde die Kulturszene international belebt. 1919/20 kehrte ein grosser Teil freiwillig oder unfreiwillig in die jeweilige Heimat zurück.

War die Schweiz nicht nur in Canettis Bildungswelt ein (ereignisloses) Paradies? Das Land hatte den Krieg militärisch unversehrt überlebt, sah sich als Insel im stürmischen Meer, während es auch die Abhängigkeit vom internationalen Umfeld empfindlich gespürt hatte. Der Handel wurde durch die Kriegsparteien kontrolliert, zunehmende Versorgungsschwierigkeiten verschärften zusammen mit den Lasten des Militärdienstes die Not breiter unterer Schichten. Im Landesstreik im November 1918 kulminierten die sozialen und politischen Spannungen; nach dessen Abbruch unter dem Druck der eingesetzten Armee blieben Verbitterung auf der einen und Umsturzangst auf der anderen Seite (die Russische Revolution wirkte noch lange als Schock und als politisch eingesetztes Schreckgespenst). Die Spanische Grippe forderte 1918/19 rund 24 500 Todesopfer – in Zürich diente die Tonhalle als eines der Lazarette. Nicht zu übersehen ist aber auch eine Kontinuität, sei es im bürgerlichen Leben, in der Stadtentwicklung oder in anderen Bereichen.

Aufbrüche und Reaktionen in der Nachkriegszeit – Schweiz und Kanton Zürich

Die Wirtschaft2 befand sich insgesamt in keiner schlechten Ausgangslage. Etliche Unternehmen hatten von der Nachfrage aus kriegführenden Staaten profitiert, zum Beispiel konnte die Winterthurer Metall- und Maschinenbaufirma Sulzer Umsatz, Beschäftigung und Gewinn steigern. Die Entwicklung des Finanzplatzes hatte starke Impulse erhalten. Nachdem man erlebt hatte, was eine Verknappung ausländischer Kohle bedeutete, wurde die Elektrifizierung der Schweizerischen Bundesbahnen beschleunigt, zum Vorteil der Maschinen- und Elektroindustrie – in Winterthur und Oerlikon wurde ab 1919 die Güterzugslokomotive «Krokodil» produziert. Es bildete sich eine eigentliche Nachkriegskonjunktur aus, doch in der zweiten Hälfte 1920 setzte eine rund zweijährige Krise ein. Einer ihrer Gründe war der Zerfall der deutschen Währung, der die schweizerischen Exportunternehmen einer starken Preiskonkurrenz aussetzte. Es kam zu erheblicher Arbeitslosigkeit. Die sozialen Notmassnahmen waren indes ausgelaufen, während der Milchpreis in Zürich auf 50 Rappen stieg (bei einem Medianeinkommen der Männer von rund 400 Franken).3

Teilweise parallel scheint sich die politische Konjunktur entwickelt zu haben. Vorerst galt es, Konsequenzen aus der Konfrontation im Landesstreik vom November 1918 zu ziehen, und dies geschah auf unterschiedliche Weise. Der Eindruck der europäischen Katastrophe, dann die Erwartung des Friedens und das Gefühl, vor einer offenen Zukunft zu stehen, begünstigten darüber hinaus offenbar grundsätzliche Reflexionen.

Sehnsucht nach Harmonie

Auffällig ist – in einer Zeit verbreiteter Bedürftigkeit – die Kritik am «Materialismus», an der Rolle des Geldes, am Kampf der partikularen Interessen. «Der rücksichtslose, seichte Materialismus muss einer höheren Weltanschauung weichen», lautet einer von elf Gedanken, die der Schweizerische Bund für Reformen der Übergangszeit4 1919 publizierte. Leitbegriff ist der auf Ehrlichkeit, Gerechtigkeit und Freiheit beruhende «Sozialstaat», in dem der Klassenkampf gegenstandslos wird. Das Manifest der – kurzlebigen – Vereinigung, der Personen aus Wirtschaft und Gewerkschaften, Politik, Militär und Kultur angehörten, war gewiss beeinflusst von Leonhard Ragaz.5 In seinem Buch «Die neue Schweiz» (1917), einem «Programm für Schweizer und solche, die es werden wollen», nannte der Begründer der religiös-sozialen Bewegung die Vorkriegszeit eine «Zeit der Veräusserlichung und der Entseelung». Dem Kapitalismus und dem Egoismus wollte er eine sittlich verbundene Volksgemeinschaft entgegensetzen. Im inneren Konflikt mit der Kirche und der vorherrschenden Wissenschaft trat Ragaz 1921 von seiner Theologie-Professur zurück und widmete sich fortan besonders der Friedensbewegung.

 

Auf literarischer Ebene gehört in diesen Zusammenhang Jakob Bossharts 1921 erschienener Roman «Ein Rufer in der Wüste».6 Der tragische Held gerät in der Vorkriegsgesellschaft als konsequenter Idealist sowohl mit dem Unternehmer- als auch mit dem kämpferischen Arbeitermilieu in Konflikt. Eine Art Zivilisationskritik findet sich ebenfalls in Parteidokumenten. «Im Protzentum und in elender Moral geht ein guter Teil unserer schweizerischen Einfachheit und Ehrenhaftigkeit zugrunde», hielten die Junioren der Zürcher Freisinnigen 1920 fest.7 Konkretisiert hat sich das Bestreben, «dem verderblichen Materialismus einen Damm zu bauen», in der Gründung der Evangelischen Volkspartei (EVP, 1917 im Kanton Zürich, 1919 auf schweizerischer Ebene), die sich ausserhalb des Gegensatzes von Bürgertum und Arbeiterschaft stellen wollte.8 Im Übrigen scheint sich diese Welle verlaufen zu haben. Man mag sie als Ausdruck eines Unbehagens angesichts der internationalen industriellen Zivilisation, der sozialen Zerklüftung und von Tendenzen zur Individualisierung interpretieren.

Zu dem, was man Modernisierungskritik nennen kann, fügten sich eine Idealisierung des ländlichen Lebens und ein Bild der Stadt als eines in jeder Beziehung ungesunden Orts. Die Bauernschaft halte den Städter «für einen halben oder ganzen Müssiggänger, für einen Weichling und Genüssling», formulierte Leonhard Ragaz gewiss übertreibend; besonders hasse sie die sozialistischen Arbeiter.9 Im Landesstreik waren bewusst ländliche Truppen eingesetzt worden, und für die Grippeopfer unter den Soldaten machten manche wiederum die Sozialisten verantwortlich. Schon gegen die Eingemeindung, die Zürich 1891/93 aufgrund einer kantonalen Abstimmung schlagartig zur grössten Stadt der Schweiz machte, waren bäuerliche Organisationen angetreten, indem sie ein «neues Babylon» oder ein «kleines London» als Schreckgespenster an die Wand malten (wobei sie die Tonhalle als «Heulkasten» bezeichneten). Ähnlich befürchteten manche mit der Einführung des Proporzwahlrechts 1916 eine Stärkung des «Stadtmolochs».10

Eine andere Kritik richtete sich gerade gegen ländlich-nationale Mythen. Der Schriftsteller Jakob Bührer nahm sich «Das Volk der Hirten» satirisch vor, machte in «Marignano» einen Dienstverweigerer zur zentralen Figur und formte in seinem Stück «Ein neues Tellenspiel» (1923) den Helden zu einem Weltbürger um, der auf Distanz zum Rütlischwur der Besitzenden geht und von einem universalen Aufstand aller Leibeigenen und Hörigen träumt.11 Die Bühnenwerke wurden erstmals in Zürich aufgeführt.

Als Bewegung des individuellen, inneren Aufbruchs – nach dem Bruch mit Bestehendem – nahm in dieser Zeit die Psychoanalyse einen Aufschwung. Um Carl Gustav Jung bildete sich 1916 der Psychologische Club Zürich als fachlicher wie auch persönlicher Kreis, von dem verschiedene weitere Aktivitäten, von der Vortragsveranstaltung bis zum Tanzkurs, ausgingen.12

Irma Löwinger und Alexander Schaichet auf dem Zürichsee, 1918.

Einseitiger Patriotismus

Überwand ein im Krieg belebter Patriotismus gesellschaftliche Trennungen? Mit Blick auf die deutsch-welsche Divergenz hatte Carl Spitteler mit seiner berühmten Rede im Dezember 1914 bewusst gemacht, «dass der politische Bruder uns nähersteht als der beste Nachbar und Rassenverwandte». Auch ein soziales Werk konnte als Beitrag zur Erneuerung der Schweiz verstanden werden. So wollte Maurice Champod, Propagandachef der Firma Maggi und dann Initiant der im Kern 1917 in Winterthur gegründeten Pro Senectute, mit seinem «Appell an den vaterländischen Sinn […] das Gefühl der Zusammengehörigkeit stärken».13

Besonders trat allerdings der militärische Aspekt des Patriotismus hervor. Der Aktivdienst konnte eine verbindende Erfahrung sein. In Robert Faesis «Füsilier Wipf» wird zudem bilanziert: «feldtüchtig – welttüchtig» –, eine Kurzformel für die Erziehungsfunktion der Armee.14 Für die vom Krieg «zu des Vaterlandes Schutz» geforderten Opfer wurde auf Initiative der kantonalzürcherischen Unteroffiziersgesellschaft das flammenförmige Denkmal auf der Forch errichtet. An dessen Einweihung durch den Bundespräsidenten und weitere Behördenvertreter (ohne die Zürcher SP-Stadträte) nahmen 1922 Zehntausende von Personen teil. Die meisten der 371 in der Kriegszeit ums Leben gekommenen Wehrmänner waren Opfer der Grippeepidemie während des Ordnungsdienstes gegen den Landesstreik. Daher wird das Monument überspitzt auch als «Siegerdenkmal des Zürcher Bürgertums gegenüber der Arbeiterbewegung» interpretiert.15

Als tatsächlich eingesetztes Instrument zur Verteidigung der bürgerlichstaatlichen Ordnung wirkte die Armee jedenfalls auch polarisierend. «Es kann nur von Gutem sein, wenn der Stadt Zürich das internationale Bild durch einen vaterländischen Einschlag, den Anblick des Militärs, etwas verdorben wird», meinte Divisionär Emil Sonderegger im Mai 1919, als sich die Regierung für den Rückzug der Ordnungstruppen aus Zürich aussprach.16 Anlässlich des Landesstreiks formierten sich zudem Bürgerwehren, Organisationen von Freiwilligen zur Unterstützung der Ordnungstruppen. Die Zürcher Stadtwehr trat namentlich beim lokalen Generalstreik im August 1919 in Funktion, musste aber grösstenteils untätig bleiben. Der als Dachorganisation der Bürgerwehren gegründete Schweizerische Vaterländische Verband stellte einen «Werkdienst» (als Streikbrecher) auf, spielte im Hintergrund eine gewisse politische Rolle und betätigte sich später insbesondere als Zuträger des Staatsschutzes.17

Der Anfang des Jahrhunderts aufgekommene Diskurs der «Überfremdung» erhielt eine gewisse Eigendynamik. Der Anteil der Ausländer in der Schweiz betrug 1914 rund 15 Prozent, in Zürich das Doppelte, ging dann jedoch zurück. Leonhard Ragaz sah «unser Volkstum […] mit Auflösung bedroht».18 Das Thema kam auch an einem kantonalen Parteitag des Freisinns Ende 1919 zur Sprache.19 Ein Ausweg wurde nicht nur in Restriktionen gesehen, wofür die Schaffung der Eidgenössischen Fremdenpolizei 1917 steht, sondern ebenso in vermehrten Einbürgerungen. Virulenz gewann ein negatives Ausländerbild durch die spezifische Verbindung mit Antikommunismus (dem Verdacht sowjetischer Agitation) und allenfalls auch Antisemitismus.20 Revolutionären Umtrieben sollte ein verstärkter Staatsschutz entgegenwirken. Die betreffende Strafrechtsrevision, die «Lex Häberlin», scheiterte aber 1922 in einer eidgenössischen Abstimmung. Gleichzeitig wurden zwei ausländerfeindliche Initiativen aus Kreisen des Vaterländischen Verbands massiv verworfen. Die kantonalzüricherischen Stimmberechtigten sagten 1923 knapp Ja zur Forderung einer Initiative, den Ausländern (in fragwürdiger Analogie zum Militärpflichtersatz) eine Sondersteuer aufzuerlegen. Die zur Umsetzung des Beschlusses nötige Verfassungsänderung wurde aber 1927 verworfen.21

Vom «sozialen Galopp»zum Bürgerblock

Der Bundesrat ging nach dem Landesstreik auf einige Reformanliegen ein. Schon auf Anfang 1920 wurde im Industriesektor die 48-Stunden-Woche gesetzlich eingeführt. Mitte 1919 legte die Landesregierung dem Parlament einen Verfassungsartikel über die Alters- und die Invalidenversicherung vor. Nach dem «sozialen Galopp» kam dieses Projekt aber nur sehr mühsam voran. Hatte der Bundesrat in der Krisensitzung des Parlaments 1918 eine Beteiligung der Sozialdemokratischen Partei (SP) an der Regierung und allenfalls deren Vergrösserung auf neun Mitglieder befürwortet, war von solchen Schritten bald nicht mehr die Rede. Im Gegenteil: 1919/20 erhielten die Konservativen einen zweiten Sitz, und gewählt wurde, als Nachfolger des Liberalen Gustave Ador aus Genf, der Freiburger Jean-Marie Musy, der sich nach dem Landesstreik besonders unversöhnlich exponiert hatte.

Schwankungen wie in der Bundespolitik sind auch bei den Zürcher Freisinnigen festzustellen.22 Im Mai 1919 stellte die kantonale Partei ein neues Programm auf und forderte – gegen den Widerstand von Gewerbe- und Industrievertretern – unter anderem eine staatliche Altersversicherung, die Förderung des Wohnungsbaus, eine Steuerreform und das Frauenstimmrecht. Schon nach den Nationalratswahlen des gleichen Jahres begann sie, wieder von anderen Kräften dominiert, von diesen Positionen abzurücken. Sie setzte auf die Wirkung einer starken Wirtschaft und wollte die staatliche Sozialpolitik auf Notsituationen beschränken. Insgesamt ergab sich eine eher defensive Politik.

Die Konstellation hatte sich in verschiedener Hinsicht geändert. Der Wechsel vom Majorz- zum Proporzwahlsystem (1916/17 im Kanton Zürich, 1918/19 auf Bundesebene) schwächte den bis anhin dominierenden Freisinn im Parlament ganz erheblich. Hinzu kam als neuer Faktor auf der rechten Seite die Bauernpartei.23 Die 1917 innerhalb des Landwirtschaftlichen Kantonalvereins gegründete Organisation diente als Interessenvertretung eines Teils der Wirtschaft und der Bevölkerung, der sich im Krieg seiner Bedeutung für die Landesversorgung bewusst geworden war, sich aber Sorgen um seine Zukunft in der Industriegesellschaft machte. Politisch sahen sich die Bauern speziell innerhalb der Freisinnigen Partei (FP) zurückgesetzt. Die Bauernpartei (1951 BGB, seit 1971 SVP) hatte auch einen allgemein konservativen Zug, indem sie gegen Bolschewismus, Überindustrialisierung, Überfremdung und grossstädtische Lebensweise ankämpfen wollte. 1919 errang sie auf Anhieb eine starke Position im Kantonsrat24 und einen Sitz in der Regierung, im folgenden Jahr kam ein zweiter Vertreter in der Exekutive hinzu.

Der doppelte Machtverlust des Freisinns wurde durch die bürgerliche Blockbildung mehr oder weniger kompensiert, zumal da auf Bundesebene auch die Konservativen, die einstigen Gegner, in der Allianz waren. Im Kanton Zürich spielte die damalige Christlichsoziale Partei25 eine weit geringere Rolle, obschon der Anteil der Katholiken an der Bevölkerung 1920 fast 21 Prozent (wovon gut ein Drittel Ausländer war) erreichte.

Gleichzeitig liess der unmittelbare Druck der Linken etwas nach. Die Entwicklungen in Deutschland und das Ende der Räterepublik in Ungarn dürften Revolutionserwartungen gedämpft haben. Ein allgemeiner Streik, zu dem die Arbeiterunionen Basel und Zürich im August 1919 aufriefen, scheiterte rasch unter dem Druck eines erneuten Truppeneinsatzes, bei dem vier Personen getötet wurden.26 Die SP konnte zwar dank Proporzverfahren ihre parlamentarische Position verbessern, blieb aber klar in der Minderheit und weitgehend isoliert. Hinzu kam die interne Auseinandersetzung um den Beitritt zur Dritten oder Kommunistischen Internationale. Die Mitglieder beschlossen 1919 und 1921 in Urabstimmungen, der Parteienorganisation nicht, beziehungsweise nicht zu Lenins Bedingungen, beizutreten, worauf sich die Minderheit als Kommunistische Partei (KP) abspaltete. In ihrem Programm von 1920 hielt die SP allerdings am Weg der «Diktatur des Proletariats» fest und bestärkte damit eine bürgerliche Abwehrhaltung.

Die Blockbildung machte die Lage der Parteien im Bereich zwischen den Polen schwieriger. Die einst mächtigen Demokraten hatten nach dem Verlust des bäuerlichen Flügels vor allem noch in der wachsenden Angestelltenschaft eine Basis. Der reformerisch-linke Grütliverein verlor rascher an Bedeutung und löste sich 1925 auf, mit der Empfehlung an die Sektionen, sich der SP anzuschliessen.

Das «Reformfenster» nach dem Krieg war auch für die politische Gleichberechtigung der Frau kurze Zeit offen. Der Zürcher Kantonsrat unterstützte eine Initiative von 75 seiner Mitglieder für das Frauenstimmrecht, doch erreichte diese 1920 nur einen Stimmenanteil von zwanzig Prozent (27% im heutigen Bezirk Zürich, 4% im Bezirk Dielsdorf).27 Schon 1911 war im Kanton die Verfassungsgrundlage für die gesetzliche Einführung des Frauenwahlrechts für bestimmte Behörden geschaffen worden. Sogar einzelne Schritte wurden aber vom Volk blockiert.