Welche Bildung braucht die Wirtschaft?

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Welche Bildung braucht die Wirtschaft?
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Thomas Philipp (Hrsg.)

Welche Bildung braucht die Wirtschaft?

Antworten aus Wirtschaft, Pädagogik, Wissenschaft, Spiritualität und Politik

ISBN Print: 978-3-0355-0696-9

ISBN E-Book: 978-3-0355-0738-6

1. Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

© 2017 hep verlag ag, Bern

www.hep-verlag.com

Inhalt

Inhalt

Niklaus Brantschen Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht

Thomas Philipp Wonach wir fragen

Wirtschaftliche Stimmen

Thomas Sattelberger Bildung neu denken – Kreation und Transformation statt Ökonomisierung und Anpassung

Annette Winkler Fähigkeit zum Widerspruch in großen Hierarchien?

Michael Heim Reifen, Leisten, Leben – Erfahrungen mit Bologna-Absolventinnen und -Absolventen

Ulrich Jakob Looser Welche Bildung braucht die Wirtschaft?

Eberhard von Kuenheim Wider die Ökonomisierung der Bildung

Studentische Stimmen

Tobias Fissler Bologna als Freiheit zur Unfreiheit – ein Plädoyer für mehr Nüchternheit

Sandro Christensen Bologna darf bleiben – die Debatte muss bleiben

Mara-Magdalena Häusler Haben wir vergessen, was wir wollen?

Gabriel S. Zimmerer Über die Traurigkeit der Bildung und den Trost des inneren Raumes

Adriana Hofer Stützräder

Selina Abächerli Wissen – oder meine Fragen finden?

Jonathan Gardy »Ist das prüfungsrelevant?«

Philosophische und pädagogische Stimmen

Helmut Geiselhart Offener, spontaner, kreativer: unterwegs zu einem neuen Menschenbild

Carl Bossard Bildung lebt von Beziehung

Klaus Mertes Menschenbild und Bildung

Thomas Philipp Fünf Thesen zur Bildungsethik

Bildungspolitische Stimmen

Michael Hengartner und Anna Däppen-Fellmann Bologna und/oder Bildung?

Josef Widmer Folgerungen für die (Bildungs-)Politik – ein systemischer Blick auf die Bildungslandschaft Schweiz

Hans Ambühl Bildung, Institution und Steuerung

Ausblick

Thomas Philipp Synthese

Tobias Karcher Ein Ausblick auf die Arbeit des Lassalle-Institutes

Literatur

Ohne Idee kein Ideal, ohne Ideal kein Zukunftsbild, ohne Zukunftsbild kein Leuchten in den Augen, ohne Leuchten in den Augen keine Authentizität, kein Motivieren von anderen, um sie für die gemeinsame Sache zu bewegen.

Thomas Sattelberger

Niklaus Brantschen: Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht


Niklaus Brantschen * 1937, trat 1959 in den Jesuitenorden ein und studierte in München Philosophie, in Lyon und Tübingen Theologie. Nach regelmäßigen Lehraufenthalten und Zen-Studien in Japan wurde ihm 1988 die Lehrbefugnis in Zen übertragen, 1999 wurde er als Zen-Meister autorisiert. Als langjähriger Leiter des Bildungshauses in Bad Schönbrunn ZG positionierte er es 1993 unter dem Namen Lassalle-Haus neu als Zentrum für Spiritualität und soziales Bewusstsein. 1995 gründete er mit Pia Gyger das Lassalle-Institut für Zen – Ethik – Leadership.

Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht

Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht. Aus Afrika stammt das Wort, genauer aus Sambia. Sagen die einen. Nein, die anderen: aus China, von Konfuzius, genauer von einem seiner Schüler! Von Meister Mengzi – von den Jesuiten in Menzius umgetauft. Also Afrika, oder doch Asien? Beides stimmt. Die konfuzianische Weisheit kommt als Anekdote daher. »Ein Bauer«, erzählt Mengzi, »der will, dass sein Weizen gut treibt, zieht an den Trieben. Als die Kinder am Abend herbeilaufen, das Ergebnis zu sehen, ist alles verdorrt.« Die Geschichte erinnert an eines der Gleichnisse Jesu: Mit dem Reich Gottes ist es so, wie wenn ein Mann Samen auf seinen Acker sät; dann schläft er und steht wieder auf, es wird Nacht und wird Tag, der Samen keimt und wächst und der Mann weiß nicht wie. Die Erde bringt von selbst ihre Frucht, zuerst den Halm, dann die Ähre, dann das volle Korn in der Ähre. Sobald aber die Frucht reif ist, legt er die Sichel an; denn die Zeit der Ernte ist da (Mk 4,26–29).

Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht. Was ist die afrikanische, die chinesische Botschaft an uns? Das Wort warnt uns davor, alles von unserer Macht abhängig sein zu lassen. Sofort zu intervenieren. In Aktivismus zu verfallen. Das tut weder der Wirtschaft gut noch der Schule.

Was tun? Die Hände in den Schoß legen, das Laissez-faire pflegen? Das geht auch nicht. Jeder Bauer, Lehrer, Unternehmer weiß: Man darf weder am Trieb ziehen, noch dem Treiben bloß zusehen. Man muss etwas tun. Mengzi sagt es so: Man hackt, man jätet, man lockert den Boden. Kurz: Man pflegt und hegt. Man kultiviert.

Es gibt viel zu kultivieren – auch in Bildung und Wirtschaft. Denn die Welt ist nicht so, wie sie sein sollte. Welche Welt Wollen Wir? Unter diesem Motto stehen die Symposien, die das Lassalle-Institut seit Jahren durchführt. Kurz und bündig: Wir wollen eine Welt für alle! Man darf ruhig das eine herausheben. Eine Welt – oder keine.

Leben ist isoliert nicht denkbar. Es ereignet sich in einem subtilen Netzwerk, das keine Grenzen kennt. Diese Einheit allen Lebens ist uns vorgegeben. Wir können sie nicht herstellen, indem wir gleichsam von außen ein Netz über Dinge und Menschen werfen und versuchen, sie so zusammenzuhalten. Was wir tun können: uns der grundlegenden Vernetzung der einen Welt innewerden. Diese Erfahrung der Einheit im Leben – gesellschaftlich, wirtschaftlich und politisch – Realität werden lassen. Ja: Wir können dazu beitragen, dass sich die implizite Einheit allen Lebens manifestiert. Dass inmitten der konkreten Vielfalt und Verschiedenheit eine Gemeinschaft von Rassen, Religionen, Kulturen und Nationen die Einheit aller Menschen möglich wird.

Das verlangt ein verändertes Bewusstsein. Ein weites, offeneres Denken. Offener, spontaner, kreativer: Wir sind, so Helmut Geiselhart, unterwegs zu einem neuen Menschentyp. Und Carl Bossard erinnert uns daran, dass junge Menschen – nicht nur junge – Werte wollen und nicht nur Worte. Und sie wollen – und brauchen! – Bildung, nicht nur Aus-Bildung.

Es stellt sich für Verantwortliche in der Wirtschaft, Politik, Erziehung und Bildung die Frage: Welche Werte wollen wir verwirklichen? An welchem Menschenbild uns orientieren? Am homo faber, am homo oeconomicus oder am homo sapiens sapiens? Oder an den Prinzipien des universellen Ethos, wie Hans Küng sie formuliert und das Parlament der Weltreligionen sie 1993 in Chicago verabschiedet hat? Eine Kultur der Gewaltfreiheit und die Ehrfurcht vor dem Leben; eine Kultur der Solidarität und eine gerechte Wirtschaftsordnung; eine Kultur der Toleranz und ein Leben in Wahrhaftigkeit; schließlich eine Kultur der Gleichberechtigung und die Partnerschaft von Mann und Frau.

 

Wie müssen Wirtschaft und Bildung aussehen, in denen Raum ist, Freiraum und Spiel-Raum, zur Pflege dieser Haltungen? Spätestens seit Josef Piepers Muße und Kult und Zucht und Maß wissen wir, dass nur wer Zeit hat und sich Zeit nimmt, wer auch mal müßig geht und innehält, Maß zu halten versteht. Maßhalten ist zwar nicht die erste Tugend – das ist die Klugheit – und nicht die wichtigste – das ist die Gerechtigkeit –, wohl aber die heute aktuellste.

Ich lade Sie ein: Jetzt, im Eintreten in unser gemeinsames Nachdenken über Bildung und ihre Ziele, tief Atem zu holen. Im Hier und Jetzt anzukommen mit dem Wort von Rose Ausländer: Mein Atem heißt jetzt.

Thomas Philipp: Wonach wir fragen


Thomas Philipp * 1965, studierte Katholische Theologie und Geschichte in Tübingen, Paris und Heidelberg und wurde mit einer Arbeit über das Menschenbild der Psychosomatischen Medizin promoviert. Tätigkeiten als Jugend- und Studierendenseelsorger sowie in der Bildungsarbeit. Seit 2006 leitet er das aki, die Berner Katholische Hochschulseelsorge. Veröffentlichungen zwischen Theologie, Psychotherapie, Spiritualität und Bildung.

Wonach wir fragen

Die Atmosphäre, die Sprache, das Menschenbild einer Universität, einer Schule, eines Bildungswesens sind nicht in Stein gehauen. Sie entwickeln sich. In den letzten zwanzig Jahren haben betriebswirtschaftliche Begriffe – Effizienz, Steuerung, Output, Kompetenz – pädagogische und philosophische Leitbegriffe – Reife, Verantwortung, Eigenständigkeit, Selbstfindung – weitgehend verdrängt. Die Konzentration auf das Messen, Kontrollieren und Nachsteuern prägt gleichermaßen die Bologna-Reform, die sogenannten Bildungsstandards, ihre Erhebung durch Multiple-Choice-Tests und die Verkürzung der Schulzeit bis zur Matur in den meisten Schweizer Kantonen und deutschen Bundesländern. Auch zeitlich fällt das Auftreten dieser Maßnahmen – im Folgenden kurz Reformen – weitgehend zusammen.

Ungläubig verfolgte ich das erst rhetorische, dann politische Zerschellen der humanistischen Ideale an, wie es hieß, ökonomischen Notwendigkeiten. Die Versuche, die verantwortliche, neugierige, reifende Freiheit im Mittelpunkt des Bildungswesens zu halten, wirkten hilflos. Auch die europaweiten Proteste von Studierenden im Jahr 2009 erreichten nur Achtungserfolge: das Umschwenken der großen deutschsprachigen Zeitungen und, in Deutschland, die Abschaffung der Studiengebühren.

Welche Sprache?

Im Zentrum der Kritik an den Reformen steht die Herrschaft wirtschaftlichen Denkens. Indes hat das Phänomen noch nicht zu einem klaren Begriff gefunden. Viele Kritiker, wie der Kunstprofessor und Latinist Jochen Krautz (2007, 105 ff.), nennen das Phänomen Neoliberalismus[1]. Sie interpretieren es politisch, von Interessen und Drahtziehern her. In Sprache und Haltung ist diese Deutung im linken Milieu beheimatet. Sie ist von der Bewegung gegen die Globalisierung mitgeprägt, was zu unscharfen Rändern führt und ein Ressentiment einschließt.

In neueren Arbeiten konzentriert Krautz seine Kritik darauf, dass hier die Sprache der Maschine und ihrer Steuerung auf Menschen und ihre Bildung übertragen werde. Das unterlaufe deren Freiheit und Würde. Was man heute Qualitätsmanagement nenne, basiere auf einem technischen, genauer kybernetischen Steuerungsmodell. Bei einer Heizung stelle der Techniker eine gewünschte Temperatur ein (Output-Standard), woraufhin der Kessel (der Unterricht) zu arbeiten beginne. Ein Messfühler (zentrale Prüfungen, PISA) messe die faktische Temperatur und melde das Ergebnis an die Steuerung (Zentralbehörde) zurück, die den Kessel nachsteuere. »Schule erscheint somit als Maschine, die programmiert und von außen gesteuert werden könne. Lehrer sind in diesem System nur noch Techniker, die die Schüler nach Soll-Vorgaben steuern. Das widerspricht dem personalen Menschenbild des Grundgesetzes und unterläuft die Mündigkeit und Selbstverantwortung von Lehrern und Schülern.« Beide handelten nicht mehr selbstverantwortlich, sondern nur noch selbstgesteuert: »Sie richten ihr Handeln an den unhinterfragten Maßgaben des Steuerungssystems aus.« Das Qualitätsmanagement wirke verdeckt, aber massiv normativ. Es unterdrücke die Individualität von Schülerinnen und Schülern wie von Lehrerinnen und Lehrern. Krautz widerspricht: »Weil pädagogisches Handeln keine Technik, sondern eine menschliche Praxis ist, kann sie nicht aus Theorie eindeutig abgeleitet und nicht durch Techniken angeleitet werden.«[2] Darum sei pädagogisch nicht auf Selbststeuerung, sondern auf Gespräch und personale Beziehung zu setzen. Diese Kritik der Reduktion des Menschen zu einem Ding, einem bloßen Objekt, setzt sprachlich an und zielt auf eine ethische Bewertung von den Menschenrechten her. Der Bezug auf das Grundgesetz deutet eine juristische Argumentation an.

Der Philosoph Julian Nida-Rümelin (2013, 62) kritisiert das Phänomen als bloß instrumentelle Vernunft. Es wolle von »Rationalität nur in Hinblick gegebener Ziele des jeweiligen Akteurs sprechen. Diese Ziele selbst entziehen sich jeder rationalen Beurteilung«. Doch Humanität und Demokratie stünden und fielen damit, dass auch die Ziele der Debatte der vernünftigen Kritik unterlägen. Diese Kritik fasst das Phänomen von seinen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen her. In der Tat: Das Ausgreifen der ökonomischen Interpretation auf alle Lebensbereiche setzt die These Gary S. Beckers (1978, 15) voraus, alles menschliche Verhalten könne »betrachtet werden, als habe man es mit Akteuren zu tun, die ihren Nutzen, bezogen auf ihr Präferenzsystem, maximieren«. So gewinne man einen einheitlichen Bezugsrahmen für die Analyse menschlichen Handelns, wie ihn Marx und andere vergeblich gesucht hätten: eine geschlossene Ideologie!

Der Wirtschaftsethiker Peter Ulrich (2013, 34) spricht von Ökonomismus als einer Weltanschauung, »die sich hinter dem Jargon wertfreier Sachrationalität versteckt, dabei aber die ökonomische Rationalität (Effizienz) zum obersten Wertgesichtspunkt verabsolutiert und einer nahezu grenzenlosen Ökonomisierung unserer Lebensformen, der Gesellschaft und der Politik das Wort redet«. Deutlicher als in der politischen und erkenntniskritischen Bewertung erscheint hier ein Denkstil, eine Lebenshaltung, ein Zeitgeist, der seine Macht dem zeitgenössischen Umgang mit dem Bedürfnis nach Orientierung und Hingabe verdankt.

Diese Versuche, das Phänomen zu begreifen, treffen wichtige Aspekte. Das Phänomen ist vielschichtig, es tritt in der Tat als politische Strategie von Institutionen wie der OECD auf. Die Verwechslung von etwas und jemand ist offenkundig, die instrumentalisierende Denkform leicht nachweisbar. Und ja, es gibt den Ökonomismus als haltgebende, orientierende Ideologie. Indes lassen sich die drei Beschreibungen nicht auf eine unter ihnen zurückführen, sodass offen ist, was denn der Kern des Phänomens sei, von dem her sich die Vielzahl der Erscheinungsformen als Ganzes begreifen ließe. Das heißt, dass wir die Reformen noch gar nicht verstanden haben und also nicht wissen, was hier eigentlich geschieht. Wir können nicht sagen, ob die Reformen gut sind oder nicht. Wir finden keinen gemeinsamen Horizont, von dem her wir uns über die Bewertung der Reformen verständigen könnten. Darum können wir auch unsere ethische und demokratische Verantwortung nicht übernehmen.

Offenbar geht es in der Debatte um Methoden und Ziele unserer Bildungsanstrengungen auch um weltanschauliche Fragen. Nicht nur um pragmatische Ziele, sondern auch um den Ansatz, von dem her das Menschsein und Menschwerden im Westen des 21. Jahrhunderts zu interpretieren sei und an welchen Idealen es sich orientieren solle. Offenbar konkurrieren hier nicht nur sachliche Positionen, sondern auch Blickrichtungen, Weisen, den Menschen und seine Reifung anzuschauen. Es geht – es gibt heute eine Scheu, darüber zu sprechen – auch um die Antwort dieser Zeit auf die Frage, welchen Sinn sie dem Dasein und Sichentwickeln des Menschen geben will. Es ist zu einfach, hier auf den allgegenwärtigen Pluralismus zu verweisen: Auf die Frage nach dem Menschen und dem Sinn seines Daseins gebe es heute keine einheitliche Antwort mehr! Denn auch in der puralistischen Gesellschaft impliziert jede Bildungsanstrengung eine normative Vorstellung vom Menschen und damit auch vom Sinn des menschlichen Daseins. Auch dann, wenn man nicht über sie spricht oder nicht über sie sprechen möchte. Es muss zwingend ein Ideal geben, das zur Anstrengung motiviert – sonst würde sich niemand für Bildung anstrengen. Der Einzelne nicht, und auch der Staat nicht.

In der Frage nach der impliziten Vorstellung, wie der Mensch sein solle, geht es um nicht weniger als um die Frage, wie wir unter den Bedingungen unserer Epoche die Menschlichkeit bewahren können. Das ist nicht wenig. Die Frage nach den Zielen unsere Bildungsanstrengungen ist ein sorgfältiges Zuhören, Nachdenken und Sichengagieren wert. Der vorliegende Band lädt zur Auseinandersetzung ein; er möchte sie provozieren und inspirieren.

Die Tagung

Wider die Ökonomisierung der Bildung: 2011 stieß ich auf den brillanten Aufsatz Eberhard von Kuenheims. Er formuliert einen klassischen Schluss: (1) Bologna sei der Versuch, die Freiheit zu bürokratisieren. (2) Die Freiheit lasse sich aber nicht bürokratisieren. Woraus folge (3): Bologna sei auch ökonomisch ein unsinniges Unterfangen. Ich stutzte: Fanden denn die Reformen nicht namens der Wirtschaft, der volkswirtschaftlichen Nützlichkeit der Ausbildung statt? War es nicht überhaupt eine wirtschaftliche Sprache, die sich hier vor die Sprache der bildenden Beziehung schob?

Der jungen Elite wird widerspruchsloser Gehorsam eingetrichtert! Bald darauf fand ich zwei Interviews mit Thomas Sattelberger. Hochschulabsolventen seien heute zwar jung, aber nur auf Anpassung getrimmt, in keiner Weise darauf vorbereitet, kritisch und eigenständig Verantwortung zu übernehmen, politisch naiv und ethisch ungebildet, also zum Treffen weitreichender Entscheidungen ungeeignet. »An den meisten Business-Schools wird wenig Sinnvolles gelehrt. Die gefönten Kens und Barbies im Business-Outfit werden nur auf ökonomische Effizienz getrimmt, nicht zu Innovationen animiert. Die Manager in spe denken einzig in der Kategorie Höher, schneller, weiter. Business-Schools und Wirtschaftsfakultäten sind signifikant verantwortlich für missratene Führung im Management.« Die globalen Unternehmensberatungen seien »militärische Drillanstalten. Dort gelten ähnlich rigide Prinzipien wie bei den Marines: Up or out! Das sind Bootcamps. Wer nicht performt, fliegt raus. Da wird nichts kritisch hinterfragt« (2013). Die Deutschen seien so staatsgläubig wie selten zuvor. Die junge Generation suche nach Kontinuität und Sicherheit und sehe nicht, dass dieser Weg der gefährlichste sei. Dahinter stehe die Stabilität Deutschlands in den letzten zehn Jahren – und das Ausbildungssystem, das kaum mehr Raum lasse, Dinge auszuprobieren. Es sei absolut nicht klug gewesen, dass die Wirtschaft jahrelang die Verkürzung der Schul- und Studienzeiten gefordert habe. Der Spaß am Risiko, am Ausprobieren und an Neuem sei dem ganzen Land abhandengekommen (2014). Offenbar waren bereits die Zielvorstellungen von rein wirtschaftlich sinnvoller Bildung nicht nur umstritten, sondern auch durchaus unklar.

Größer, höher, schneller: Dann kam Dieselgate. Es fehlte an keiner Kompetenz. Das betrügerische System funktionierte, millionenfach. Es sollte Jahre dauern, bis jemand dahinterkam. Diese Fachleute hatten alles richtig gemacht. Die treibende Kraft war der blinde Ehrgeiz des VW-Vorstands unter Martin Winterkorn, bis 2017 Toyota zu überrunden und der größte Autobauer der Welt zu werden. Dafür wurde massiv Druck aufgesetzt. Motorenentwickler traten an Elektronikspezialisten von Bosch heran. Diese wollten erst nicht, wiesen auf das ethische Problem hin. Die Leute von VW übernahmen die Verantwortung. Das Gewissen hat sich also durchaus gemeldet, im Kleinen wurde eine ethische Debatte geführt – und brach unter dem Druck von oben zusammen. Das hat unmittelbar mit dem Fehlen einer tragfähigen ethischen Bildung zu tun, die in solchen Fällen das Gewissen so unterstützt, dass der Mensch Mut und Kraft findet, zu ihm zu stehen. Der großflächige Betrug wird VW allein in den USA 20 Milliarden $ an Bußen kosten; hinzu kommt der gewaltige Ansehens- und Vertrauensverlust. Winterkorn stürzte. Auch Bosch sieht sich in den USA mit kaum kalkulierbaren Klagen konfrontiert. Hätte man ein oder zwei zierliche Promillchen dieser Summen in eine ernsthafte ethische Bildung der künftigen Kader investiert: Die Rendite wäre, schon nur ökonomisch betrachtet, brillant gewesen. Dass unsere Universitäten die seriöse ethische Bildung der künftigen Ökonomen und Ingenieurinnen zugunsten unmittelbar verwertbarer Kompetenzen vernachlässigen, systematisch vernachlässigen, beschädigt unsere Wirtschaft. Wer derart die Bildung spaltet, spaltet den werdenden Menschen. Wer den Menschen spaltet, beschädigt das Ganze, das heißt auch sich selbst.

 

So entstand die Idee, führende Verantwortliche aus Wirtschaft, Pädagogik, Wissenschaft, Spiritualität und Politik zu einer Tagung einzuladen, um die Ziele unserer Bildungsanstrengungen näher zu beleuchten. Sie fand am 15. und 16. April 2016 an der Universität Bern statt.

Die Verantwortlichen aus der Wirtschaft waren sich einig: Eine am kurzfristigen Output, an wirtschaftlichen Erfolgsrechnungen orientierte Bildung dient der Wirtschaft durchaus nicht, sondern schadet ihr massiv. Niemand vertrat die Mainstream-Begründung, die Reformen seien zur Förderung des Wirtschaftswachstums zwingend notwendig. So konnte man erwarten, dass am nächsten Tagungstag auch die politisch Verantwortlichen die Reformen grundsätzlich hinterfragen würden.

Weit gefehlt! Die Reformen seien europaweit etabliert, die Schweiz könne nicht ausscheren, die Probleme ließen sich, soweit sie überhaupt von Bedeutung seien, durch Anpassungen innerhalb des Systems lösen, etwa durch größere Module. Erstaunlich! Wieder und wieder hatte man uns gesagt, die Reformen seien ökonomisch unumgänglich. Aber als die Wirtschaftsvertreter diese These zurückwiesen, gab es auf einmal andere, jetzt politisch und administrativ zwingende Argumente. Offenbar sind die Reformen doch nicht in dem Sinn ökonomistisch motiviert, dass eine zusammenhängende Ideologie die Interessen der Wirtschaft verträte.

Aber was ist dann das wirkliche Motiv? Was geht hier eigentlich vor? Welche Kräfte wirken hier? Welche Motivationen? Wie lassen sie sich so verstehen, dass ein schlüssiger Zusammenhang entsteht? Und wie sollen wir uns zu ihnen stellen? Diese Frage gebe ich den Leserinnen und Lesern mit. Am Ende des Buches schlage ich eine Antwort vor.

Dabei ist eine Grenze anzuzeigen. Bildung und Wirtschaft sind in der Schweiz, in Deutschland und Österreich überaus eng verzahnt durch die berufliche Bildung. Die Pflege und das Ansehen von Lehre und Meisterbrief, zahlreiche kluge Weiterbildungsmöglichkeiten, Fachabitur und Fachhochschulen führen zu einer großen Zahl praxisnah ausgebildeter, hervorragender und motivierter Fachkräfte und damit zu tiefen Arbeitslosenquoten. Die berufliche Bildung bietet heute vergleichbare Aufstiegschancen wie Matur und Studium. Diese Zweifarbigkeit des Bildungswesens ist eine Erfolgsgeschichte, um welche die ganze Welt die deutschsprachigen Länder beneidet. Um berufliche Bildung geht es diesem Buch nur indirekt. Es fragt, welcher Art gebildete Menschen die Wirtschaft braucht – auf der Schiene von Matur und Studium. Hier haben die Reformen weitaus energischer angesetzt als in der beruflichen Bildung, und nur von dieser Schiene versteht der Herausgeber etwas.

Dieser Band versammelt die von den Autorinnen und Autoren überarbeiteten Referate der Tagung. Patrik Schellenbauer (Avenir Suisse), die Nationalrätinnen Regula Rytz (Grüne) und Kathy Riklin (CVP) konnten ihre Beiträge aus zeitlichen Gründen nicht in schriftliche Form bringen. Dasselbe gilt für Thomas Sattelberger, Annette Winkler und Hans Ambühl; mit ihnen konnten wir stattdessen ein Interview führen. Die Beiträge der studentischen Autorinnen und Autoren sind unter dem Eindruck der Tagung im Nachhinein entstanden. – An der Tagung fiel den beiden bildungspolitisch Verantwortlichen, Hans Ambühl und Josef Widmer, eine zusammenführende Wertung zu. Damit sie diese auch für das Buch wahrnehmen konnten, stand ihnen bei der Abfassung ein Teil der Beiträge bereits zur Verfügung. Letzteres gilt auch für die studentischen Autorinnen und Autoren und für Carl Bossard.

Wirtschaftliche Blicke

Wie die Tagung setzt der Band mit wirtschaftlichen Beiträgen ein. In wünschenswerter Klarheit spricht Thomas Sattelberger das Unbehagen aus: »In der Wirtschaft wissen heute viele, dass Kreation angesagt ist, wir aber noch in Strukturen leben, die Effizienz optimieren. Das Zeitalter der industriellen Massenproduktion und der industrialisierten Bildung neigt sich dem Ende entgegen. Heute muss das Bildungswesen deutlich weniger Wissen reproduzieren und schnell viel mehr Räume für Kreation öffnen. Wir können es uns nicht leisten, für die teilweise Rückabwicklung der Bologna-Reform so lang zu brauchen wie für ihre Einführung … Wir brauchen keine apolitischen Absolventen, die nur auf Job und Sicherheit schauen, ohne den Kontext, in dem sie arbeiten, reflektieren zu können. Wir haben eine Generation von Anpassern produziert.« Wenn Sattelberger Recht hat, geht eine Bildungspolitik im Ansatz fehl, die PISA, Bologna und die verkürzte Matur bloß modifizieren, nicht im Grundsatz korrigieren will.

Annette Winkler, die charismatische und erfolgreiche Chefin von smart, spricht über die (Un-)Fähigkeit zum Widerspruch in großen Hierarchien. Für eine Führungskraft sei es gar nicht so einfach zu erfahren, was ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wirklich dächten. Auf deren Seite setze konstruktiver Widerspruch ein ganzes Bündel von Fähigkeiten voraus: mitzudenken, das große Ziel vor Augen zu haben und nicht nur den eigenen Silo. Überhaupt einen eigenen Standpunkt zu haben; und ihn so zu artikulieren, dass er nicht als Angriff erlebt werde.

Nüchtern berichtet Michael Heim von Erfahrungen mit Bologna-Absolventinnen und -Absolventen in der unternehmerischen Praxis. Er kommt zu klaren Wertungen. Der Bachelor führe auch bei blendenden Noten nicht zu ausreichendem Methodenwissen, sodass kein selbstständiges ingenieurmäßiges Arbeiten möglich, der Betreuungsaufwand hoch sei. Die persönliche Reife – kritische Selbststeuerung, Umgang mit Hindernissen, reflektierte Wertebasis – scheine oft nicht ausreichend gegeben. Die Bewerber seien zu stark auf ihren persönlichen Aufstieg fokussiert. Neben dem Erwerb von Kompetenzen müsse darum die Entwicklung der Persönlichkeit treten. Sie erfordere Zeit, Vorbilder, soziale Interaktion und Konfrontation mit Diversität.

Ulrich Looser nimmt aus Sicht von economiesuisse Stellung. Das Bildungssystem dürfe nicht auf kurzfristige Nachfrage des Arbeitsmarkts reagieren, sondern habe grundlegende Fähigkeiten mit auf den Weg zu geben, sodass die jungen Leute ihr Leben in die eigene Hand nehmen können. Unternehmen benötigten nicht genormte Arbeitskräfte, sondern vielseitige, kritisch denkende und kreative Persönlichkeiten. Um diese hervorzubringen, müsse das Bildungssystem vor allem die Neugier fördern.

Studentische Blicke

Um auch die Jugend zu Wort kommen zu lassen, versammelt der zweite Teil die Beiträge von sieben Studierenden, die unter dem Eindruck der Tagung auf ihr Studium schauen und seine Struktur bewerten. Sie kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Tobias Fissler (Mathematik) hat mit dem reformierten Studium ganz überwiegend positive Erfahrungen gemacht. Die regelmäßigen Prüfungen unterstützten ihn in der Aneignung des Stoffs und milderten die Angst vor großen Prüfungsblöcken. Die Struktur habe das Wachsen seiner Freiheit unterstützt: Eine Grundsatzdebatte über Bologna sei nicht zielführend. Für Sandro Christensen (Medizin) erlaubt die Reform eine Spezialisierung des Studiums; diese bereite angemessen auf differenziertere gesellschaftliche Anforderungen vor. Das Medizinstudium sei seit jeher verschult: zu Recht, weil jeder Arzt ein großes objektives Wissen beherrschen müsse. Bildung sei wesentlich Selbstreflexion; das Studieren könne zu ihr führen, müsse es aber nicht. Selbstreflexion brauche Zeit und Distanz zum Alltag; ob Bologna diese in angemessener Weise zulasse, sei eine offene Frage. Mara Häusler (VWL) betont die persönliche Entwicklung, die Raum für Um- und Irrwege brauche. Eigenständige Köpfe, die gute Entscheidungen träfen, reiften in der Begegnung mit Vorbildern. Vor allem bräuchten sie Hilfen, das eigene Denken und Arbeiten als sinnvoll wahrzunehmen. Mit diesen Fragen habe Bologna wenig zu tun, da die Reform sich auf äußere Ziele des Studierens – Wettbewerbsfähigkeit, Effizienz und Mobilität – beziehe.

Mathematische, medizinische und ökonomische Fragen pflegen weniger existenziell zu sein. In diesen Fächern dominieren seit jeher umfangreiche Wissensprüfungen. Es ist nicht schlimm, wenn das Interessanteste erst in ein paar Semestern kommt. In der Geisteswissenschaft ist das anders. Der Raum ihres Fragens ist breiter und vor allem subjektiver bestimmt. Sie lebt von der Auseinandersetzung mit Werten, auch den eigenen, mit Fakten und ihrer Interpretation. Darum braucht es den ausdrücklichen Einbezug des Subjekts, um das Studium sinnvoll zu strukturieren. Kein Wunder also, dass sich, wie schon bei den Protesten 2009/10, überwiegend die Studierenden der Geistes- und Sozialwissenschaften kritisch zu den Reformen stellen.

Überforderung, Einsamkeit und Traurigkeit seien die wesentlichsten Erfahrungen seines Studiums gewesen. Sie hätten ihn, so Gabriel Zimmerer (Sozialanthropologie, Klassische Philologie), tiefer mit der Welt verbunden, Begegnung und tiefe Freude entstehen lassen. Der Wert dieses dreifachen Kontrollverlusts sei unter Bologna in Vergessenheit geraten. Die Bildung junger Menschen bedürfe des Loslassens, nicht der Bändigung oder Formung nach äußeren Vorgaben. Aus dem Beitrag Adriana Hofers (Germanistik, Anglistik) spricht eine leise Traurigkeit: weil die Anpassung an die Vorgaben des Systems das Lernen von den Nöten und Kraftquellen einer existenziellen Auseinandersetzung trenne. So, dass Bologna, trotz zahlreicher Wahlmöglichkeiten, entfremdend wirke. Studieren unter Bologna sei wie Radfahren mit Stützrädern. Es erfordere kaum Mut, Selbstvertrauen und Eigenverantwortung. Es sei nicht riskant, aber man komme auch nicht weit. In Adriana Hofer begegnet der Leser resp. die Leserin einer jungen Frau, die mehr möchte als nur Germanistik studieren – sie möchte Germanistin und Pädagogin werden. Sie ist bereit, sich in Begegnungen verwandeln zu lassen. Wir spüren ihre Enttäuschung, dass die Universität an diesem wertvollen Potenzial und seiner Bildung kühles Desinteresse zeigt. Selina Abächerli (Sozialanthropologie, Klassische Philologie) versteht Wissenschaft als Kunst, kluge Fragen zu stellen. Sie erlaubt einen Blick in die Zweifel und Krisen, die mit ihrer studierenden Auseinandersetzung einhergehen. Sie bedauert, dass die Wissenschaft solche anspruchsvollen inneren Prozesse lieber beschweige als thematisiere. Wie könne die Universität diesen Lebensnerv kultivieren, wenn sie nicht von ihm spreche? Bologna setze die Studierenden zwar unter dauernden Druck, ohne jedoch bedingungslose Hingabe zu verlangen, oft nicht einmal eine klare Entscheidung. Hier nimmt eine wache Studentin wahr, dass das Studiensystem sie zwar beständig beschäftigt, ihr aber viel weniger zutraut, als in ihr steckt. Jonathan Gardy (Katholische Theologie) berichtet aus einem vollständig modularisierten Studium. Seine These: Solche Studienpläne entmündigten junge Erwachsene, denen das durchaus gelegen kommen könne. Aber Studienordnungen müssten Mut zur Lücke beweisen. Nur so merkten Studierende, dass ihnen zugetraut werde, ihre Bildung in die eigene Hand zu nehmen. Für Bildungspolitik und Professorenschaft bedeute das Kontrollverzicht, für die Studierenden Kontrollverlust. Billiger sei ein von Freiheit und Verantwortung geprägtes Leben und Arbeiten nicht zu haben.