Verwundbar

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Verwundbar
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Hildegund Keul,

Thomas Müller (Hg.)

VERWUNDBAR

Hildegund Keul, Thomas Müller (Hg.)

VERWUNDBAR

Theologische und humanwissenschaftliche Perspektiven zur menschlichen Vulnerabilität


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

© 2020 Echter Verlag, Würzburg

www.echter.de

Umschlag: Crossmediabureau

Coverbild: © Sybille Hermanns, „Verborgene Seelenlandschaften“, 11 × 22 cm, Öl auf Bütten, 2003, www.sybille-hermanns.de

E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de

E-Book ISBN 978-3-429-06519-5

Verschmerzen

Schön

wenn der verwundete Mensch

seine Narben

verschmerzt

sich gesellt

zum stillen Stein

zum beredeten Wasserfall

und sich erkennt

im Blick der

Nachbarpupille

Rose Ausländer

Rose Ausländer, Verschmerzen. Aus: dies., Wieder ein Tag aus Glut und Wind. Gedichte 1980-1982. © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1986. Mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

I Vulneranz, eine humane Herausforderung

Topographie des Traumas – wie entsteht Resilienz?

Maike Schult

Verwundbarkeit und Verletzungsmacht: Dynamiken des Traumas

Eva Barnewitz

Wunden der Seele – wie die Folgen von Folter, Kriegserfahrungen und sequenzieller Traumatisierung überwunden werden können

Migration und Flucht – im Spannungsfeld von Trauma, Kreativität und Resilienz

Bernhard Kohl

Migration und Flucht – philosophisch-theologische Perspektiven

Melissa Silva

Flucht als Folge menschlicher Vulnerabilität – was Hannah Arendts „Flüchtlings“-Begriff in aktuellen Migrationsdebatten zu sagen hat

Vulnerabilität in Terrorangst und Radikalisierungsprävention

Katharina Obens

Vulnerabel für Radikalisierung? Sonderpädagogische Zugänge zur Radikalisierungsprävention

Hildegund Keul

Vulnerabilität und Vulneranz in Unsicherheit und Terrorangst – eine theologische Perspektive

Sexueller Missbrauch – Gewalt überwinden, Leben eröffnen

Mary Hallay-Witte

Institutionelle Vulneranz und Vulnerabilität. Sich anvertrauen – ein ethischer Moment

Elisabeth Kirchner

Sexualisierte Gewalt in Institutionen und der Beratungsansatz von „Wildwasser Würzburg“

II Liebe und Verletzlichkeit – die Wunde als Ort der Kommunikation

Familienbande – Wunden verbinden

Thomas Müller

Familien zwischen Bindung, Verstrickung und Verrat

Hildegund Keul

Vulnerante Rosenkriege und Heilige Familien – die Wunde als Ort der Kommunikation

Zärtlichkeit – die Schwester der Verletzlichkeit

Isabella Guanzini

Zärtlichkeit – die Schwester der Verletzlichkeit. Eine theologische Perspektive

Jutta Czapski

Zärtlichkeit – die Schwester der Verletzlichkeit. Eine philosophische Perspektive mit Emmanuel Levinas

Homosexuelle Liebe – Verletzlichkeit hoch zwei

Petra Dankova

Homosexuelle Liebe. Verletzlichkeit hoch zwei – aus sozialwissenschaftlicher Sicht

Andreas Heek

Homosexuelle Liebe. Verletzlichkeit hoch zwei – theologische Perspektiven

Verwundbarkeiten – interkulturell und interreligiös

Michaela Quast-Neulinger

Perfekte Harmonie oder radikale Exklusion? Theologische Perspektiven auf Verwundbarkeit im christlich-muslimischen Dialog

Dominik Egger

Interkulturalität – Fremdheit – Vulnerabilität. Über Bildung durch Responsivität

III Widerstand aus Vulnerabilität – Blickwechsel

Gott im Knast – Machtvollen Spiralen der Verwundbarkeit befreiend begegnen

Michelle Becka

Gott im Knast – theologische Perspektiven

Pierre-Carl- Link

Gott im Knast – humanwissenschaftliche Perspektiven

Leistung, Narzissmus und Verwundbarkeit. Anfragen an eine aktuelle Tendenz

Robert Langnickel

Narzissmus als Verleugnung der Verwundbarkeit – eine psychoanalytische Perspektive

Florian Klug

Verweigerte Relationalität. Narzissmus als selbstgeschaffene Hölle – eine theologische Perspektive

Verletzt im Vertrauen?

Katharina Ganz

Die Würzburger Ordensgründerin Antonia Werr (1813-1868) und Vertrauens(an)fragen in pädagogischen Beziehungen

Thomas Müller

Vertrauen – zur Ambivalenz eines pädagogischen Selbstverständnisses

Literatur

Autorinnen und Autoren

Einleitung

Die menschliche Verwundbarkeit ist von großem humanem Interesse, denn sie hat vielfache Auswirkungen: in der Politik und im persönlichen Zusammenleben, in Migrationsdebatten und Religionskonflikten, in Persönlichkeitsentwicklung und Traumabearbeitung. Aus diesem Grund entwickelt sich in den letzten Jahren Vulnerabilität zu einem Forschungsthema, das auch gesellschaftliches Interesse weckt. Welche Machtwirkungen entfaltet die Vulnerabilität in aktuellen Debatten um Migration und interkulturelle Kompetenz, Homosexualität und Vielfalt der Lebensformen, sexuellen Missbrauch und systemische Gewalt, Terrorgefahr und Radikalisierungsprävention?

Solche Fragen lassen sich interdisziplinär klarer beleuchten. Im Folgenden finden sich daher zu jedem Thema zwei Perspektiven, eine humanwissenschaftliche und eine theologische. „Gemischtes Doppel“ nannten wir dies, als wir in den Sommersemestern 2018 und 2019 an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg zwei Ringvorlesungen durchführten, die diesem Buch zugrunde liegen. Im Folgenden rücken dabei zum einen die zerstörerischen Wirkungen der Vulnerabilität in den Blick. Zum anderen gehen wir der Frage nach, ob Verwundung und Verlust auch schöpferische Kräfte freisetzen können; denn Vulnerabilität macht angreifbar, aber auch berührbar. Sie ist Voraussetzung für Empathie und Solidarität, für Freundschaft, Liebe und gesellschaftlichen Zusammenhalt. Selbst das Stiften von Frieden, eine der wichtigsten humanen Kompetenzen, ohne die die Menschheit keine Überlebenschance hätte, gelingt nur in Öffnung, in Verletzlichkeit.

Das vorliegende Buch ist in drei Themenkomplexe gegliedert, die vielfältig miteinander vernetzt sind.

I Vulneranz – eine humane Herausforderung

Wenn man Vulnerabilität erforscht, stößt man unweigerlich auf das, was seit kurzem und eher noch am Rande Vulneranzgenannt wird: die menschliche Gewaltsamkeit, die auf die Vulnerabilität Anderer zielt und eine Verletzungsmacht entwickelt, die persönlich und politisch verheerend wirkt. Dies zeigen Traumatisierungen, die durch Folter und Krieg, Terror und Fluchtmigration entstehen, in besonderer Weise. Für die Theologie, aber auch für andere Wissenschaften wie die Pädagogik ist zudem das Offenbarwerden der sexuellen Gewalt gegen Kinder und Jugendliche durch Missbrauch und Vertuschung in der katholischen Kirche ein Schlüsseldatum. Wer die Vulnerabilität untersucht, dabei aber die Vulneranz außer Acht lässt, bleibt auf einem Auge blind. Vulneranz ist daher eine humane Herausforderung, die es interdisziplinär zu analysieren und zu erforschen gilt. In diesem Sinn will das vorliegende Buch dazu beitragen, den Begriff der Vulneranz als Schlüsselbegriff der Vulnerabilitätsforschung zu etablieren.

 

II Liebe und Verletzlichkeit – die Wunde als Ort der Kommunikation

Weil Wunden schmerzlich sind, tun Menschen vieles, um sie zu vermeiden. Zu Recht sichern sie sich gegen Gefahren ab und wollen Schaden präventiv vermeiden. Aber wenn dennoch eine Verwundung geschieht, so zeigt sich Überraschendes: die Wunde wird zum Ort intensiver Kommunikation. Dies ereignet sich in Familienbanden, wo gemeinsam erlittene Wunden Menschen zusammenschweißen, im Guten wie im Bösen. Die Zärtlichkeit zeigt sich als sanfte Macht, die in Zeiten der Spaltung auf größeren gesellschaftlichen und politischen Einfluss drängt. Auch wo homosexuelle Menschen sich lieben, aber gesellschaftlich diskriminiert werden, entwickeln sie kreative Kulturen, die der Diskriminierung wehren. Religionspolitische Gewalt offenbart die dringliche Notwendigkeit zum interkulturellen und interreligiösen Diskurs, der sich in aller Verletzlichkeit dem Fremden öffnet. In Liebe und Zuneigung, Fürsorge und Zärtlichkeit wächst eine Kraft, die Menschen so zusammenführt, dass sie der erlittenen Vulneranz gemeinsam widerstehen.

III Widerstand aus Vulnerabilität – Blickwechsel

Um den kreativen Widerstand zu entdecken, der aus Vulnerabilitätserfahrungen erwachsen kann, sind Blickwechsel erforderlich. Wenn man im Gefängnis nicht nur die Vulneranz, sondern auch die hohe Vulnerabilität der inhaftierten Menschen wahrnimmt, kann vielleicht die unscheinbare, aber wirksame Präsenz Gottes offenbar werden. Die Hölle wird oft von Anderen erzeugt, aber auch im Narzissmus lauert eine Gefahr, die eigene Verwundbarkeit zu leugnen und sich selbst vom Leben abzuschneiden. Vertrauen ist ein hohes Gut, aber in der Pädagogik braucht es auch die Kompetenz, mit verletztem Vertrauen umzugehen und die Praktiken von Kindern zu verstehen, die wieder und wieder Verrat erlebt haben. Die Machtwirkungen, die der menschlichen Vulnerabilität erwachsen, sind vielfältig und immer wieder voller Überraschungen.

Unser herzlicher Dank gilt allen, die zum vorliegenden Buch beigetragen haben:

• Der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), welche die Ringvorlesungen und die Entstehung des Buchs über das Forschungsprojekt „Verwundbarkeiten“ inhaltlich und finanziell ermöglicht hat (gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 3892490411)

• Der Katholisch-Theologischen und der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Julius-Maximilians-Universität Würzburg für ihre nachhaltige Unterstützung unserer interdisziplinären Forschung

• Unserer Würzburger Forschungsgruppe „Vulnerabilität, Sicherheit und Resilienz“ für die tatkräftige Mitwirkung in allen Phasen unserer Arbeit

• Dem Würzburger Studienprogramm „Gesellschaftliche Systeme und interkulturelle Kompetenz“, der sich ein roter Faden des vorliegenden Buchs verdankt, für die hervorragende Kooperation in Ringvorlesung und Buchentstehung

• Der Domschule Würzburg mit Dr. Rainer Dvorak für ihre entgegenkommende Gastfreundschaft bei der Ringvorlesung

• Dem Echter-Verlag mit Thomas Häußner für die sorgfältige Betreuung der Publikation

• Frau Alexandra Birk für ihre große Mühe mit Formatierungs- und Zusammenführungsaufgaben

• Der Osnabrücker Künstlerin Sybille Hermanns, die uns ein zur Vulnerabilität passendes Bild ihrer Farblandschaften als Titelbild zur Verfügung gestellt hat

• Und last but not least den Autorinnen und Autoren, die sich auf das interdisziplinäre Duett eingelassen und einen Beitrag für dieses Buch verfasst haben. Engagiert kommen sie dem Anspruch nach, Forschung in gesellschaftlicher Verantwortung zu betreiben

Den Leserinnen und Lesern wünschen wir eine anregende Lektüre.

Würzburg, im Januar 2020

Hildegund Keul & Thomas Müller

I Vulneranz,

eine humane Herausforderung

Topographie des Traumas – wie entsteht Resilienz?

Das Wort Trauma ist mittlerweile in aller Munde. Unglück und Katastrophen, Kriege und menschliche Gewalt verletzen Menschen so nachhaltig, dass es sie häufig ein Leben lang zeichnet. Aber was genau ist ein Trauma, was eine Posttraumatische Belastungsstörung? Gibt es Wege, mit der erlittenen Gewalt anders umzugehen und ihr Zerstörungspotential einzudämmen? Das erläutern die Praktische Theologin Maike Schult und die Psychologin Eva Barnewitz.

Maike Schult

Verwundbarkeit und Verletzungsmacht: Dynamiken des Traumas

1. Loch, Lücke, wunder Punkt: Zur Topographie des Traumas

Trauma ist ein kurzes Wort für ein komplexes Phänomen. Ein sprachliches Gefäß für Erfahrungen, die unfasslich scheinen und sich kaum auf den Begriff bringen lassen. Das hängt mit der Vielzahl der Ereignisse zusammen, die traumatisierend wirken und heftige Affekte auslösen können. Es hängt aber auch an der Verstörung sprachlicher Zusammenhänge durch das, was die Sprache verschlägt, was fassungslos macht und sich nicht begreifen lässt. Traumatische Ereignisse fahren direkt in die Glieder. Sie wollen nicht in den Kopf. Sie brechen in den Alltag ein, plötzlich und unerwartet. Sie lösen Angst und Schrecken aus, übersteigen die Verarbeitungskapazität eines Individuums, entmächtigen es seiner Souveränität und Handlungsmöglichkeit und ziehen tiefes Leid nach sich. Sie verletzen das menschliche Bedürfnis nach Verlässlichkeit und erschüttern die Vorstellung von dem, was sein sollte und was nicht. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, und alles anders wird, wenn es dennoch geschieht. Doch während die Betroffenen zurückbleiben mit dem Gefühl: nichts ist mehr, wie es war, tun andere oft so, als ob nichts geschehen wäre. So fallen Traumatisierte aus der Gemeinschaft heraus, deren Zeiterleben weiterläuft und deren Grundannahmen unberührt bleiben von dem, was ihnen widerfahren ist. Traumatische Ereignisse haben damit immer eine soziale Dimension. Sie konfrontieren mit den gewaltvollen Aspekten unseres Zusammenlebens, mit den dunklen Seiten unserer Ordnung und mit einer Wahrheit, die niemand wissen will: dass unser Leben zerbrechlich ist und die Welt ein riskanter Ort, an dem Menschen einander schaden, und dass „im Extrem ein einziges Gewaltwiderfahrnis“ ausreicht, um einen Menschen seelisch zu zerstören (Seidler 2013, 17).

Trauma ist daher eng mit dem Tabu assoziiert (Gottfried/Riedesser 2009, 39 &183) und mit einer spezifischen Doppelbewegung verbunden aus Aussprechen und Verschweigen, Verweisen und Verhüllen. Denn der Traumabegriff signalisiert die Verwundungen, die in einer Gesellschaft vorkommen, ohne sie konkretisieren zu müssen. Er verweist auf eine Tabuzone, die um die Verletzungen herum entsteht, ohne sie damit schon zu berühren, und markiert den Tabubezirk, den eine traumatische Erfahrung im Leben der Betroffenen hinterlässt und der ihnen selbst und anderen lange verborgen bleiben kann.

Auch das Trauma ereignet sich oft im Verborgenen: in abgesperrten Bereichen wie Haftanstalten, Lagern und Folterzellen, bei Geheimdiensten und beim Militär, viel öfter aber in öffentlichen Einrichtungen, in staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen wie Firmen, Vereinen und Betrieben, in Familien, Schulen und Kirchen. Dort geschieht es als scheinbare Ausnahme von der Regel, die in den Alltag einbricht und die Tagesordnung durcheinanderwirft, doch wird es von den täglichen Strukturen auch getragen, ja vielfach durch sie erst ermöglicht, wenn es sich innerhalb der verabredeten Gesellschaftsordnung vertuschen und verschleiern, bagatellisieren und legitimieren lässt, statt sanktioniert und geahndet zu werden.

Das Trauma hat dabei eine ambivalente Funktion. Einerseits bricht es als explosive Kraft brutal in den Alltag ein und kann hier mit großer Wucht alle erfassen, die in seinen Sog geraten: nicht nur die Betroffenen selbst, sondern auch Beobachter und Zeuginnen, Helfer und Therapeutinnen können emotional von ihm erfasst werden, ja allein die sprachliche Konfrontation kann traumaspezifische Ängste auslösen und auch diejenigen berühren, die nur auf der wissenschaftlichen Ebene mit ihm in Kontakt kommen. Andererseits stellt Trauma auch jedes Ordnungsgefüge, in dem wir leben, subversiv in Frage. Es deckt dessen Grausamkeit auf und kann dazu führen, dass Menschen den Mut aufbringen, das Tabuisierte beim Namen zu nennen, sich politisch und sozial zu engagieren und durch Prävention und Sanktionen dafür zu sorgen, dass die Gewalt begrenzt wird. Das Trauma selbst aber ist ein unberührbarer Bereich. Es ist als historische Tatsache der Vergangenheit präsent und potentiell immer da, für jeden in jedem Augenblick. Doch das Trauma „an sich“, jetzt und hier, gibt es nicht (Bokanowski 2005, 11). Was es gibt, sind traumatogene Ereignisse, die Traumafolgen in Gang bringen können, und das spezifische, individuell recht unterschiedliche Erleben dieser Ereignisse sowie Theorien, Konzepte und Denkmodelle, die das Zusammenspiel von Ereignis und Erleben zu klären suchen, und viele persönliche Leidensgeschichten, die das, was die Sprache verschlägt, nachträglich in Worte fassen. Im besten Fall kann sich dies zu einer Traumaerzählung formen und so das Loch füllen, das durch das Trauma entstanden ist.1 Das Trauma selbst hingegen bleibt eine Wunde ohne Kontur, nicht zu fassen und nicht zu berühren.2

Sprachhistorisch stammt das Wort τραũµα aus dem Griechischen und wird meist mit „Wunde“ oder „Verletzung“ ins Deutsche übersetzt.3 Ursprünglich stammt es aus der griechischen Seefahrersprache und bezeichnete dort Lecks und andere Schäden, die Stürme, Strömungen und Klippen in die Schiffe schlugen und die Mannschaften an Leib und Leben gefährdeten, so dass es auch „Verlust“ und „Niederlage“ bezeichnen konnte.4 Die Medizin übernahm den Begriff für körperliche Wunden und benannte damit die Verletzung eines Gewebes, ehe der Terminus im 19. Jahrhundert von der Chirurgie aus auf psychische Vorgänge übertragen und nun für seelische Verletzungen verwendet wurde, die durch Einwirkung von außen, durch Unfälle und Kriege etwa, entstehen und mit einem Erlebnisgehalt verbunden sind, der die Betroffenen auffallend lange begleitet. In diesem Zusammenhang avancierte Trauma zum zentralen Fachbegriff der Psychoanalyse, später auch der Psychotraumatologie, die teils sich überlappende, teils unterschiedliche Konzepte mit ihm verbinden.

Mit der Anerkennung der Posttraumatischen Belastungsstörung im Jahr 1980 als einer möglichen Traumafolge von vielen und der Gründung der Psychotraumatologie als eigenständiger Wissenschaftsdisziplin im Jahr 1991 lassen sich zwar inzwischen zwei markante Vermessungspunkte zur Topographie der Traumaforschungbenennen, und auch die Präsenz und Popularisierung des Traumabegriffs lässt sich ab den 1990er Jahren gut nachweisen. Das Trauma selbst aber bleibt unsichtbar und undarstellbar.5

Die Frage nach der Darstellbarkeit dieses Undarstellbaren findet sich nun vor allem in der Kunst,6 wofür ein Beispiel genügen soll: 2018 hatte das Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe im Rahmen der „Tage des Exils“7 Werke des syrischen Künstlers Khaled Barakeh präsentiert. Barakeh, der 1976 in Damaskus geboren wurde und inzwischen in Berlin lebt, beschäftigt sich in seinen Arbeiten mit politischen Machtstrukturen, mit Folter, Flucht und Exil und mit den Langzeitfolgen kriegerischer Auseinandersetzungen. Die von ihm entworfenen und in der Hamburger Ausstellung dargebotenen Fotografien hatten Momente des Verlustes gezeigt. Auf ihnen sind Menschen zu sehen, die, nur einen Augenblick entfernt, einen anderen Menschen verloren haben, ein Kind, einen Freund, die eigene Frau vielleicht, und die die Toten noch in den Armen halten. Dabei hatte der Künstler die Körper der Verstorbenen so aus dem Bild ausgeschnitten, dass nur ihre Silhouette als weißer Fleck sichtbar ist und die Identität der Opfer verhüllt bleibt. „The Untitled Images“ heißt die Reihe, die auf diese Weise den Blick auf die Überlebenden lenkt und zugleich die brutale Realität des syrischen Krieges anzeigt – die Grausamkeit des Regimes, aber auch die „Gewalt, die vom Akt des Zeigens durch die Medien ausgeht.“8 Die weiße Leerstelle lässt sich dabei als Traumadarstellung interpretieren. Sie markiert die Lücke, das Loch, den wunden Punkt, den die Überlebenden fassungslos in Händen halten und der ihr Leben von nun an begleiten wird.9

 

2. Verwundbarkeit und Verletzungsmacht: Zur Wirkung des Traumas

Trauma ist von seiner Wortbedeutung („Wunde“), aber auch von seinen Auswirkungen her der Inbegriff menschlicher Verwundbarkeit, doch taucht das Wort in einschlägigen Handbüchern der Psychotraumatologie eher selten auf. Ähnliches gilt für den latinisierten Fachbegriff ‚Vulnerabilität‘ im Sinne einer bestimmten Anfälligkeit, an etwas zu erkranken.10 Es gilt aber auch für den Vulnerabilitätsdiskurs11 und seinen Gegenspieler, den Resilienzdiskurs, der in der Psychotraumatologie eher zurückhaltend verhandelt wird und hier als „Posttraumatische Reifung“ (posttraumatical growth!) eine eigene Interpretation erfährt.12 Das mag damit zusammenhängen, dass das Trauma auf ein Ereignis der Vergangenheit zurückverweist und zugleich seine anhaltende Gegenwartwirkmächtig markiert:13 Für die Betroffenen ist die Einordnung des Traumas in einen zeitlichen, räumlichen und kausalen Zusammenhang oft nicht möglich. Erinnerungen an das auslösende Ereignis erscheinen fragmentiert wie Bruchstücke, die sich nicht zu einem Gesamtbild fügen. Wird das Ereignis durch bestimmte Trigger neu angesprochen und in Form von Intrusionen wie Flashbacks und Alpträumen wiedererlebt, so geschieht dies in einem „Hier-und-Jetzt-Gefühl“ (Neuner, Schauer & Elbert 2013, 333), das das vergangene Geschehen wie gegenwärtig erleben lässt und die innere Distanzierung verhindert. Vulnerabilität hingegen, so Hildegund Keul (2017, 589ff.), ist eine „Zukunftskategorie“. Er verweise auf die Furcht, in Zukunft verwundet zu werden, und diese Furcht bestimme das Verhalten in der Gegenwart. Daraus könnten sich zwei destruktive Wirkungsweisen entwickeln: Zum einen verkörpere sich die eigene Verwundbarkeit in Form der Narbe, die zurückbleibt – ursprünglich um die Wunde zu schützen, dann aber vielleicht auch mit der Folge, auch lebensfördernde Bindungen zu meiden. Zum anderen könne man dazu übergehen, andere zu verwunden, um nicht selbst verwundet zu werden, und mit dieser „Herodes-Strategie“, dieser Gewaltanwendung aus Selbstschutz, etwas ausprägen, was sie als „Vulneranz aus Vulnerabilität“ bezeichnet.14

Auch in der Traumaforschung lässt sich eine solche Bewegung ablesen und damit noch einmal der Blick lenken auf die komplexe Wirkmacht des Traumas – nicht nur in Bezug auf die Opfer,15 sondern auch in Bezug auf die Täter. Denn auch Täter und Täterinnen können gelegentlich vor ihrer Tat traumatisiert gewesen sein und aus dieser Vorerfahrung überhaupt erst den Antrieb entwickelt haben, einen anderen Menschen zu verletzen – sei es aus Selbstschutz, sei es aus Rache oder um das tiefe Ohnmachtserleben, das für eine traumatogene Situation charakteristisch ist, durch eigenes Machterleben zu kompensieren. Sie können aber auch durch ihre eigene (Straf-) Tat traumatisiert werden (sogenanntes ‚Tätertrauma‘) oder durch die Haft, die sich der Tat anschließt.16 Einen Automatismus zwischen verletzenden Vorerfahrungen und eigenem verletzenden Verhalten gibt es aber nicht: „Nachdrücklich muss davor gewarnt werden, davon auszugehen, dass jeder Mensch mit eigenen Gewalterfahrungen zwangsläufig zum Täter wird“, so der Psychotraumatologe Günter H. Seidler (2013, 163). Und die allermeisten Täter, auch das ist festzustellen, bleiben eigenartig unberührt von dem, was sie getan und zu verantworten haben.17

Ereignisse, die wir mit dem Traumabegriff sprachlich zu fassen suchen und die das Leben von Einzelnen, aber auch ganzer Gesellschaften über die Generationen hinweg prägen können, setzen in der Regel eine Zäsur, die sich trotz guter Therapiemöglichkeiten nicht wieder aus der Welt bringen lässt. Das Leben vor dem Trauma gibt es nicht mehr, und dies zu akzeptieren ist die schmerzhafte, manchmal lebenslange Aufgabe der Betroffenen. Das macht nicht nur den Begriff der Heilung schwierig. Es wirft auch grundsätzlich die Frage auf, wie man mit Unabänderlichem im Leben zurechtkommt und die Spiralen der Gewalt unterbricht. Getanes lässt sich nicht rückgängig machen. Weiße Flecken wie auf den Verlustbildern von Khaled Barakeh lassen sich nicht wieder füllen. Und doch gibt es Möglichkeiten, sich auf die Realität der Verletzlichkeit einzustellen, ohne dem Erlittenen oder Selbstverursachten nur schicksalhaft ausgeliefert zu bleiben, wie ich abschließend an zwei Ansätzen skizzieren will:

1. Mit der jüdischen Philosophin Hannah Arendt (1906– 1975) können wir die menschliche Fähigkeit des Verzeihens als ein „Heilmittel gegen die Unwiderruflichkeit“ (Arendt 2010, 301) verstehen. Das Verzeihen ist für sie der natürliche Gegensatz zur Rache und eine Möglichkeit, die einmal entfesselte Gewalt zu regulieren, die in Gang gebrachte Kettenreaktion zu unterbrechen und sich aus dem Automatismus eines einmal losgelassenen Handlungsprozesses auszulösen: „Verzeihen ist die einzige Reaktion, auf die man nicht gefaßt sein kann, die unerwartet ist, und die daher, wiewohl ein Reagieren, selber ein dem ursprünglichen Handeln ebenbürtiges Tun ist. Weil das Verzeihen ein Handeln eigener und eigenständiger Art ist, das zwar von einem Vergangenen provoziert, aber von ihm nicht bedingt ist, kann es von den Folgen dieser Vergangenheit sowohl denjenigen befreien, der verzeiht, wie den, dem verziehen wird“ (ebd. 307). Das Vergeben ist also eine dem Handeln innewohnende Fähigkeit zur „Korrektur des Mißratenen“ (ebd. 308). Es beziehe sich aber nur auf die Person, nicht auf die Sache selbst – Unrecht bleibt unrecht. Und auch das Verzeihen brauche die Freiheit, es nicht zu tun und stattdessen zu bestrafen. Gerade die Vergehen, die sich als unbestrafbar herausstellen, sind nach Hannah Arendt auch die, die wir außerstande sind zu vergeben: das mit Kant gesprochen „radikal Böse“ (ebd. 309). Wir erkennen es eben daran, dass wir es weder bestrafen noch vergeben können. Es übersteigt den Bereich menschlicher Angelegenheiten und entzieht sich menschlicher Macht. Solche Taten, so Arendt, sind ‚Un-Taten‘, die alles weitere Tun unmöglich machen. Was aber das Verzeihen innerhalb des Bereichs menschlicher Angelegenheiten betrifft, so habe wohl Jesus von Nazareth dies zuerst gesehen und entdeckt (ebd. 304).18

2. Ein Trauma kann auch theologisch nicht geheilt und nicht aus der Welt gebracht werden. Auch wenn wir mit dem biblischen Erzählbestand beides haben: Traumanarrative19 und Hoffnungsbilder, die die „Pathologie der Realität“ (Hillebrandt 2004, 108-109) anzeigen und die Vision eines anderen Zusammenlebens entwerfen, jenseits von Hass und Gewalt. Doch selbst am auferstandenen Christus sind die Wundmale nicht verschwunden, wie insbesondere der ungläubige Thomas verifizieren muss, indem er mit der Hand die Wunden berührt (Johannes 20, 24–29). Mit dem Marburger Theologen Henning Luther (1947–1991) werden wir darum vielleicht insgesamt vorsichtiger, uns über die Bedingungen unseres Zusammenlebens zu täuschen und uns zu schnell mit den „Lügen der Tröster“ (Luther 1998, 376f.) über Verletzungen hinwegzutrösten. Denn selbst wenn wir uns durch Theologie oder Therapie für uns privat beruhigt und wieder in Ordnung fühlen könnten – die strukturellen Bedingungen unseres Zusammenlebens sind damit nicht aus der Welt; das Leid der anderen bleibt.20

Für den theologischen Traumadiskurs wird es daher in Zukunft darum gehen, auch religiös eine Haltung zu finden, die „Schmerz und Sehnsucht“ (Luther 1992, 231ff.) einschließt und Religion nicht als ein Heilmittel (miss-) zu verstehen, das das Leben angenehm macht, sondern sie, in Anlehnung an einen Gedanken von Joachim Gauck, stärker noch als die Kraft zu profilieren, die Menschen dazu ermächtigt, sich dem Unangenehmen im Leben zu stellen,21 um auch angesichts tiefster Verwundungen beunruhigt und berührbar zu bleiben.22

1 Dieses Ziel verfolgt die Narrative Expositionstherapie (NET), vgl. den Beitrag von Eva Barnewitz im vorliegenden Band.

2 Zum Wortfeld Wunde, Haut und Narbe vgl. Fischer-Homberger, E. (2005). Zur Geschichte der Verletzung: Seidler, G. H. & Eckart, W. (2005).

3 Zu dem Verbum τιτρώσκω: eigentlich „durchbohren“, „verwunden“, „verletzen“, aber auch „beschädigen“ (in Bezug auf Schiffe) und „betören“; vgl. Gemoll, W. (1991) und Kluge, F. (2002, 927).

4 Vgl. dazu auch die Sturm-Beispiele im Beitrag von Eva Barnewitz im vorliegenden Band sowie: Schult, M. (2018).

5 Auch die PTBS tritt ja erst „post“, also nach dem Ereignis selber ein.

6 Zur grundlegenden Unterscheidung von Trauma als einem klinischen Fachbegriff und Trauma als einem kulturellen Deutungsmuster vgl.: Schult, M. (2019). Vgl. auch Lançon, Ph (2019), in dem der Autor als Überlebender des Anschlags auf die Redaktion von Charlie Hebdo 2015 Leere und Schmerz der Katastrophe beschreibt.

7 Die „Tage des Exils“ werden von der Körber-Stiftung veranstaltet. Die dritte Reihe fand vom 15. Oktober bis 16. November 2018 statt.

8 Vgl. dazu den Kurztext und die Abbildung von The Untitled Images 2/2014 in: Forschung & Lehre 12 (2018), 1091. Sowie das Interview mit K. Barakeh von M. M. Müller: „Ich will die Strategie von Zeigen und Nichtzeigen begreifen“, Orbanism (17.03.2016). Abrufbar unter: https://orbanism.com/frohmann/tabletalk-europe/2016/ich-will-die-strategie-von-zeigen-und-nichtzeigen-begreifen/.

9 Ähnliche Sprachbilder finden wir in Forschungsberichten zum transgenerationalen Zusammenhang von Traumatisierungen. Dort erscheint das Trauma als dissoziative Lücke, psychische Leere und schwarzes Loch, als Phantom und leerer Kreis, als Fremdkörper im eigenen Selbst, als Schatten oder Introjekt. Vgl. Danieli, Y. (1998).

10 Als „Vulnerabilitäts-Hypothese“ wird hier z.B. die höhere Wahrscheinlichkeit verstanden, aufgrund einer anderen Prädisposition wie Suchtverhalten nach einer Traumaexposition eine Störung wie die PTBS zu entwickeln. Vgl. Schäfer, I (2015, 267).

11 Zur Genese des Vulnerabilitätsdiskurses vgl. Keul, H. (2017).