Verlorene Zeiten?

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Verlorene Zeiten?


Cornelia Siebeck/Alexander Schug/Alexander Thomas (Hg.)

Verlorene Zeiten?

DDR-Lebensgeschichten im Rückblick – eine Interviewsammlung

Portraitfotografien von Monique Ulrich


Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN (eBook, epub) 978-3-940621-58-0

© Copyright: Vergangenheitsverlag, Berlin/2010

www.vergangenheitsverlag.de

Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen und digitalen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten.

eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

Inhalt

Verlorene Zeiten?

Vorwort

„… obwohl ich mir im Klaren war, dass man so nicht bauen darf.“

Karl J. Beuchel, geboren 1928

INTERVIEWT VON STEFFI KÜHNEL

„Geschichte, an der ich teilhabe.“

Hans Modrow, geboren 1928

INTERVIEWT VON ALEXANDER THOMAS

„Mir kamen stets die Historiker lächerlich vor, die sich über Geschichte beschweren.“

Kurt Pätzold, geboren 1930

INTERVIEWT VON ALEXANDER THOMAS

„… ich wollte eine deutsche Kommunistin werden.“

Salomea Genin, geboren 1932

INTERVIEWT VON VERA DOST

„Geben und Nehmen ist immer ein gutes Prinzip.“

Klaus Wenzel, geboren 1937

INTERVIEWT VON JENNIFER SCHEVARDO

„Das sind zwei verschiedene Filmkulturen …“

Erika Richter, geboren 1938

INTERVIEWT VON BETTINA KAISER

„Irgendwie konnte ich meiner Herkunft nicht ausweichen.“

Hans Coppi, geboren 1942

INTERVIEWT VON CORNELIA SIEBECK

„Ich hab’ gemerkt, ich kann in diesem Staat nicht leben.“

Klaus Kordon, geboren 1943

INTERVIEWT VON STEFFI KÜHNEL

„… die Schwierigkeiten, die sich der Berg ausdenkt.“

Michael Winkler, geboren 1943

INTERVIEWT VON ALEXANDER THOMAS

„… man wollte was verbessern, aber es ließ sich einfach nichts bewegen!“

Peter Kaiser, geboren 1944

INTERVIEWT VON ALEXANDER THOMAS

„Du hattest Geld und deine Freiheit.“

Harald Wilk, geboren 1945

INTERVIEWT VON JENS-UWE FISCHER

„… die linke Opposition innerhalb und außerhalb der SED zu vereinigen.“

Bernd Gehrke, geboren 1950

INTERVIEWT VON EVA VOLPEL

„Meine Freiheit musste mir niemand geben!“

Hans Misselwitz, geboren 1950

INTERVIEWT VON ALEXANDER THOMAS

„… ein gewisses Gefühl von Schutz, als die Mauer gebaut wurde.“

Birgit Turski, geboren 1950

INTERVIEWT VON JENS-UWE FISCHER

„Nicht einfach sich so wie ein Schaf verhalten …“

André Herzberg, geboren 1955

INTERVIEWT VON CORNELIA SIEBECK

„Als Anarchist ist man sowieso auf dem längeren Weg.“

Bert Papenfuß, geboren 1956

INTERVIEWT VON MAJA KERSTING

„Die Altenpflege hatte ich eigentlich nicht im Sinn …“

Heike Zech, geboren 1958

INTERVIEWT VON MAJA KERSTING

„Der Westen ist nicht reformierbar, da sind wir uns alle einig …“

Herbert Mißlitz, geboren 1960

INTERVIEWT VON CORNELIA SIEBECK

Glossar

Bibliographie

Interviewer_innen / Herausgeber_innen

Verlorene Zeiten? - Vorwort

DDR-Lebensgeschichten im Rückblick

Kaum jemand weinte dem SED-Regime eine Träne nach, als es 1989/90 sang- und klanglos unterging. Mit der DDR verschwand jedoch auch die Alltagsund Lebenswelt von über 16 Millionen Menschen – der soziale und normative Bezugsrahmen also, in dem ihre bisherige Biografie ,Sinn gehabt‘ hatte.

Erscheint das vergangene Leben in der DDR rückblickend manchmal als verlorene Zeit? Diese Frage haben wir einstigen DDR-Bürger_innen am Ende der biografischen Interviews gestellt, die in diesem Buch versammelt sind. Unabhängig von ihrer jeweiligen Einstellung zum SED-Regime haben fast alle diese Frage entschieden, manchmal sogar empört verneint: Die DDR habe sie geprägt und sei elementarer Bestandteil ihres Lebens gewesen. Bemerkenswerterweise erschien dennoch niemand überrascht von unserer Frage – spielte sie doch selbstverständlich‘ auf eine Erfahrung an, die viele Ostdeutsche im Zuge des Systemwechsels gemacht haben: sich völlig neu orientieren zu müssen und im Zuge dessen festzustellen, dass die eigene Sozialisation in der bundesrepublikanischen Lebenswelt defizitär erscheint.

Bereits in der alten Bundesrepublik hatte man trotz aller Sonntagsreden offenbar kein besonderes Interesse daran, etwas über den Alltag ,drüben‘ zu erfahren. Darauf jedenfalls deuten zahlreiche Reiseführer hin, in denen Westdeutsche ausdrücklich zu Offenheit und Unvoreingenommenheit gegenüber DDR-Bürger_innen angehalten wurden. So gab etwa ein „Leitfaden für Studienreisen in die DDR“ zu bedenken: „Der Alltag in der DDR sieht anders aus als bei uns. […] Es gibt zahllose Unterschiede, die von uns Reisenden am Standard der Bundesrepublik gemessen werden. Dabei läuft der Bundesbürger Gefahr, eine überhebliche Position einzunehmen und damit die Menschen, denen er begegnet, zu verletzen, sie zu kränken mit oberflächlichen Bemerkungen.“ 1 Andernorts wurden bereits „Zehn Gebote zum Umgang mit den anderen Deutschen“ aufgestellt, wobei nachdrücklich dazu aufgefordert wurde, zwischen unterschiedlichen Kontakten in der DDR zu differenzieren und im Zweifelsfall lieber einmal bei Einheimischen nachzufragen, anstatt immer schon alles zu ,wissen‘. 2 Wer sich allerdings entsprechend bescheiden und interessiert verhalte, versprach ,Anders Reisen DDR‘, werde mit ,überraschenden‘ Einsichten belohnt: „Auch hier versetzt die Vielfalt der Ansichten, der Charaktere, der Lebensstile, der Träume jeden Westler in Erstaunen.“ 3

Diese eigentlich wenig erstaunliche Vielfalt von möglichen Lebenswegen und subjektiven Positionierungen innerhalb der DDR-Gesellschaft hat im öffentlichen Diskurs der Bundesrepublik auch heute noch zu wenig Platz – in dieser Hinsicht kann vielleicht tatsächlich von ,verlorenen‘ Zeiten gesprochen werden: Zwischen generalisierenden Reizworten wie ,Unrechtsstaat‘ oder ,Ostalgie‘ geht Widersprüchliches und Uneindeutiges immer wieder verloren. So bleibt wenig Raum für Erklären und Verstehen (was nicht mit Gutheißen oder Rechtfertigen zu verwechseln ist). Das viel beschworene ,Lernen aus der Geschichte‘ hieße allerdings, sich ein komplexeres Bild davon machen zu wollen, wie sich SED-Regime und DDR-Gesellschaft über einen Zeitraum von 40 Jahren Tag für Tag reproduzierten. Dazu wiederum müsste man neben Ideologie und (Macht-)Strukturen auch die in der DDR-Gesellschaft lebenden und handelnden Menschen und ihre jeweiligen Erfahrungen in den Blick nehmen.

Zwanzig Jahre nach dem Untergang der DDR will der vorliegende Text- und Bildband solchen subjektiven Erfahrungsgeschichten 4 beispielhaft nachspüren. Er versammelt Biographien, die schon in sich selber, vor allem aber in der Kombination miteinander, sehr viel weniger eindeutig ausfallen als die verabsolutierenden Schlagwörter in der öffentlichen Debatte. Zu Wort kommen dabei Männer und Frauen aus unterschiedlichen Generationen, neben ganz normalen Bürger_innen wie der Altenpflegerin Heike Zech oder dem Modellbauer Peter Kaiser auch prominentere Stimmen wie der SED-Funktionär Hans Modrow und André Herzberg, Sänger der Rockband Pankow. Ähnlich heterogen ist das politisch-ideologische Spektrum, in dem sich unsere Protagonist_innen zu DDR-Zeiten verortet haben: Es reicht von Aktivisten und Parteifunktionären der ersten Stunde über die ,unauffällige Mehrheit‘ bis hin zu (damals) jugendlichen ,Rebellen‘, Oppositionellen und einem Republikflüchtling. Dabei greifen derartige Kategorisierungen insofern zu kurz, als sich auch innerhalb einzelner Biografien immer wieder politische Brüche oder Lernprozesse auffinden lassen. Die Interviewpartner_innen wurden von den Autor_innen gemeinsam ausgewählt. Wichtigstes Kriterium war dabei zunächst einmal unsere persönliche Neugier auf bestimmte Menschen, deren Sicht auf die DDR uns besonders interessierte: weil sie einen außergewöhnlichen Aspekt der DDR-Geschichte zu ,verkörpern schienen‘, weil uns ihre Biografie besonders ,ungewöhnlich‘ oder besonders ,typisch‘ erschien.

 

In den daraufhin geführten Interviews ging es nicht darum, irgendeine ,objektive‘ Wahrheit über die betreffenden Personen und ihre Rolle in der DDR herauszufinden. Ebenso wenig stellten wir uns vor, ein längst vergangenes Alltagsleben authentisch rekonstruieren zu können. Vielmehr haben wir ganz bewusst Lebensgeschichten erfragt: Wir wollten wissen, wie unsere Interviewpartner_innen ihre DDR-Erfahrung aus heutiger Sicht darstellen und reflektieren, welche Bedeutung sie der DDR innerhalb der eigenen Biografie zuweisen. Dabei waren wir an kontroversen Sichtweisen interessiert, nicht aber an Repräsentativität. Denn die Frage nach dem jeweiligen „Eigensinn nimmt die Fährte in die Unübersichtlichkeiten der Verhaltensweisen der Einzelnen auf – jenseits aller Fixierung auf eine umfassende Logik ,der‘ Geschichte […]“ 5 . In diesem Sinne ging es uns um subjektive Perspektiven auf die DDR und auch darum, welchen Sinn unsere Gesprächspartner_innen ,ihrer‘ DDR-Geschichte über den Systemwechsel hinaus verleihen. Nicht zuletzt wollten wir von ihnen erfahren, wie sie ,Wende‘ und ,Wiedervereinigung‘ erlebt haben, wie ihr Leben im neuen Land weitergegangen ist.

„Die Menschen machen ihre Geschichte selbst, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbst gewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen“ 6 – mit diesem viel zitierten Satz verwies Karl Marx auf die Wechselwirkung zwischen den jeweils bestehenden historischen Strukturen und subjektiven bzw. kollektiven Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten. Letztlich war es dieses Spannungsfeld, das wir gemeinsam mit unseren Gesprächspartner_innen ausgelotet haben: Welches war die Situation, die unsere Interviewpartner_innen zunächst vorgefunden haben – nicht nur historisch, sondern auch familiär? Welche frühen Erfahrungen und Prägungen wurden für sie bedeutsam? Wie wurden sie sozialisiert und welche privaten, beruflichen und dezidiert politischen Entscheidungen haben sie getroffen? Welche Handlungsspielräume gab es, welche konnten sie sich (nicht) eröffnen? Haben sie sich den jeweils vorgefundenen historischen und gesellschaftlichen Konstellationen mehr oder weniger passiv ausgesetzt gefühlt, oder sind sie auch ihrerseits politisch und/ oder gesellschaftlich aktiv geworden? Wie haben sie den Systemwechsel 1989/90 erfahren und bewältigt?

Die Interviews wurden anhand eines einheitlichen Leitfadens zu Kindheit und familiärem Hintergrund, früher Sozialisation und Erwachsenenleben in der DDR und zu ,Wende‘- und ,Nachwende‘-Erfahrung geführt. Dabei blieb den Interviewer_innen jedoch Raum für thematische Schwerpunktsetzungen. Die Gespräche dauerten in der Regel zwei bis vier Stunden und wurden anschließend gekürzt und redaktionell bearbeitet. Am Ende wurden sie von den jeweiligen Gesprächspartner_innen gegengelesen und autorisiert. Als eigene Form der ,Befragung‘ sind die Porträtfotografien von Monique Ullrich zu verstehen: Die Fotografin traf sich mit den Protagonist_innen und machte vor Ort ihre künstlerischen Beobachtungen. Im vorliegenden Buch stehen 18 lebensgeschichtliche Porträts, Momentaufnahmen in Wort und Bild, unvermittelt nebeneinander – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Zusammen gelesen treten sie in einen spannungsreichen Austausch, sie scheinen sich zu ergänzen und zu widersprechen, zu konterkarieren und zu relativieren. Das Urteilen überlassen wir bewusst den Leser_innen – unsere Aufgabe sehen wir nicht darin, Lebensgeschichten zu bewerten, sondern Lebensgeschichten zunächst einmal zu generieren und nachvollziehbar zu machen.

Wir möchten allen danken, die zum Gelingen dieses Buches beigetragen haben: Zunächst natürlich unseren Interviewpartner_innen für ihre Zeit und das Vertrauen, das sie uns entgegen gebracht haben; außerdem unseren Mitautor_innen für ihr Engagement und ihre Geduld im Redaktionspro- zess. Besonderen Dank schulden wir Claudia Beier, Stefanie Borgmann, Steffi Kühnel, Martha Krüger und James McSpadden für die Transkription der Interviews. Uwe Sonnenberg half mit Rat, Tat und weiterführenden Kontakten. Schließlich gilt unser Dank der Hans-Böckler-Stiftung, die eine der Her- ausgeber_innen mit einem dreimonatigen Stipendium unterstützte.

Cornelia Siebeck, Alexander Thomas,

Alexander Schug

1 Hans Rau: Vorbereitung von Studienreisen in die DDR, in: Materialien zur Politischen Bildung. Analysen, Berichte, Dokumente 1 (1985), S. 85.

2 Zehn Gebote zum Umgang mit den anderen Deutschen, in: Werner Filmer/Heribert Schwan: Alltag im anderen Deutschland, Düsseldorf 1985, S. 325-330.

3 Per Ketmann/Andreas Wissmach: Anders Reisen DDR. Ein Reisebuch in den Alltag, Reinbek bei Hamburg 1986, S. 15 ff.

4 Zur ,Erfahrungsgeschichte‘ und deren Verhältnis zur Sozial- und Ereignisgeschichte vgl. klassischerweise Lutz Niethammer: Fragen – Antworten – Fragen, in: „Wir kriegen jetzt andere Zeiten“. Auf der Suche nach der Erfahrung des Volkes in nachfaschistischen Ländern. Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet 1930-1960, Bd. 3, Berlin/Bonn 1985, S. 392-445.

5 Alf Lüdtke: Geschichte und Eigensinn, in: Berliner Geschichtswerkstatt (Hg.): Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte. Zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte, Münster 1994, S. 139-153, hier S. 146.

6 Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte (1852), in: Ders./Friedrich Engels: Gesammelte Werke, Bd. 8, Berlin (Ost) 1960), S-111-207, hier S. 115.

Karl J. Beuchel
„… obwohl ich mir im Klaren war, dass man so nicht bauen darf.“ - Karl J. Beuchel, geboren 1928


Karl Joachim Beuchel wurde 1928 in Chemnitz geboren, und dieser Stadt hat er sich später als Architekt ein ganzes Berufsleben lang gewidmet. Mitten in der Ausbildung zum technischen Zeichner musste der 16jährige 1944 zunächst an die Front. Als er von dort zurückkehrte, lag das Sächsische Manchester‘ nach Flächenbombardements auf Wohn- und Industriegebiete in Trümmern. Beuchel entschied sich, Architektur zu studieren. Zwischen 1964 und 1984 war er maßgeblich am Wiederaufbau seiner Geburtsstadt beteiligt, davon zehn Jahre lang als Stadtarchitekt – eine durch und durch politische Position. Architektur und Städtebau waren in der DDR zutiefst ideologisierte Themen: Sinnbildlich stand Architektur für die ästhetische Übersetzung gesellschaftlicher Visionen. Die Städte sollten von Zukunft und Sozialismus künden, die Arbeiter vom viel geschmähten ,Mietskasernenelend‘ der Vorkriegszeit befreit werden.

In einem Karl-Marx-Städter Reiseführer von 1974 werden die immense Aufbauleistung und die ökonomische Bauweise in den Vordergrund gerückt. Pathetisch ist die Rede von einem „Suchen der Architekten nach neuen Ausdrucksformen“, von der Aufgabe, „das Zukunftsbild einer sozialistischen Großstadt zu entwerfen“. 1 Heute nennt sich Chemnitz zwar stolz ,Stadt der Moderne‘ – die das moderne Stadtbild prägende Fülle an sozialistischer Repräsentationsarchitektur wird im Stadtmarketing jedoch ebenso wenig hervorgehoben wie die umfangreichen DDR-Neubaugebiete. Stattdessen wirbt man mit Bauhaus und Jugendstil, mit Gründerzeitarchitektur und dem Schloss. 2 Die kulturelle Wahrnehmung des Stadtbildes hat sich offenbar radikal geändert. Wie aber blickt der ehemalige Stadtarchitekt auf diese neuen Realitäten und seine früheren Ambitionen zurück?

Selbst in einem Neubaugebiet der DDR aufgewachsen, frage ich mich, ob man die ewig gleiche Architektur der Platte jemals als schön empfinden konnte. Beuchel hat 2006 einen kritischen Rückblick auf die Karl-Marx-Städter Baugeschichte veröffentlicht. 3 Mich interessierten nach der Lektüre seine persönlichen Erinnerungen und Reflexionen über seine Tätigkeit als Architekt in der DDR. Ich treffe Karl J. Beuchel in einem Café in der Chemnitzer Innenstadt. Ich merke schnell: Privates werde ich von ihm kaum erfahren. Dafür spüre ich umso mehr von der Leidenschaft, mit der er über seinen Beruf spricht. Auch wenn er diesen nicht immer in vollen Zügen genießen konnte …

„Steht unser Haus noch?“

Als Erstes möchte ich Sie fragen, aus welchem Elternhaus Sie kommen?

Mein Vater war von Beruf Tischler. Meine Mutter hatte keinen gelernten Beruf, hat aber als Näherin gearbeitet. Beide waren lange Zeit arbeitslos, in der Zeit von 1933 bis 1940. Sie haben mir aber trotz der finanziellen Lage jede Gelegenheit geboten, mich weiterzubilden, umzuschauen und interessante Menschen kennen zu lernen. Ich selbst konnte nur acht Jahre die Volksschule besuchen. Für das Gymnasium hatten meine Eltern kein Geld.

Welche Ausbildung haben Sie anschließend gemacht?

Ich begann 1942 eine Lehre als Schlosser. Das war mir eigentlich gar nicht so sympathisch. Schon von klein an hatte ich mich lieber mit Zeichnen und Malen beschäftigt; ich hätte gerne eine Ausbildung zum Zeichner oder eine andere künstlerische Ausbildung gemacht. Aber dafür wurde der Abschluss eines Gymnasiums verlangt. So blieb nur eine Ausbildung übrig. Ich hab’ zwar als Lehrling wenig verdient, aber immerhin hat das meiner Familie geholfen, über die Strecke der Arbeitslosigkeit hinwegzukommen. Das war schon wichtig. Außerdem hatte ich bald Glück: Im Betrieb gab es einen Konstrukteur, der feststellte, dass ich gerne zeichnete. Und da hat er zu dem Chef des Betriebes gesagt: „Können wir nicht den kleinen Beuchel mit in mein Büro hochnehmen, der zeichnet gern. Vielleicht könnte er mich unterstützen als technischer Zeichner.“ Das hat mich natürlich mächtig begeistert!

Sie sind Jahrgang 1928. Mussten Sie noch in den Krieg?

Ja, natürlich. 1944 wurde ich nach Ostpommern verfrachtet, um dort meinen Reichsarbeitsdienst 4 abzuleisten. Anschließend kam ich nach Torgau zu einer militärischen Spezialisierung als Funker. Ich war 16 Jahre alt, ein junger Mensch. Ich hatte keine Ahnung, was mich nach dieser Ausbildung erwartet … Im Januar 1945 wurde ich schließlich als Grenadier an die Oder-Neiße-Front verfrachtet. Als Funker kam ich in die vordersten Stellungen, musste dort die Geschosse der Artillerie leiten. Da war ich natürlich auch allen Problemen ausgesetzt, die damals so im Krieg üblich waren. Mit 16 Jahren! Das waren schlimme Erfahrungen, die ich dort gemacht habe. Mehr oder weniger neben mir starben meine Soldatenkollegen. Dazu kam, dass unsere Kompanie in eine SS-Kompanie integriert wurde, eine Panzerdivision namens ,Großdeutschland‘. Das war eine ganz schlimme Zeit. Wir wurden dort mehr oder weniger verheizt. Und das war auch der Grund, weshalb ein Soldat und ich uns überlegten, diesem Schlamassel zu entrinnen. Wir sind dann desertiert.

Wie gelang es Ihnen zu desertieren?

Wir haben im April 1945 mehr oder weniger über Nacht die Front verlassen und sind mit vielen Umwegen durch die Tschechei gegangen. Dort verschafften wir uns Zivilkleidung. Die Menschen, die da wohnten und bei denen wir auch übernachteten, haben uns sehr freundschaftlich aufgenommen und verpflegt. Und eines Tages, als wir gerade auf dem Weg zur Elbe waren, überholte uns die Rote Armee. Als festgestellt wurde, dass wir Deutsche sind, sperrten sie uns in einem nahe liegenden Gehöft in den Keller. Wir wurden beide verhört von einem Offizier, der eigenartigerweise sehr gut Deutsch sprach. Der hat uns informiert, was doch Hitler für ein schlechter Mensch sei und hat versucht, uns für die friedliche Sache zu gewinnen. Schließlich schickte er uns nach Hause. Wir hatten mit dem Schlimmsten gerechnet, dachten: Jetzt kommen wir in Gefangenschaft, nach Sibirien, was weiß ich. Aber dem war nicht so. Man ließ uns ziehen.

Das war ja wirklich Glück! Mit welcher Begründung ließ man Sie gehen?

 

Wir wären zu jung. Das war offensichtlich dem Offizier geschuldet, der hatte irgendwie Mitleid mit uns. Wir sahen ja auch erbärmlich aus! So kam ich eines Tages Anfang Mai nach zwei Wochen Marsch zu Hause an, voller Befürchtungen: Steht unser Haus noch? Ich wusste, dass Chemnitz bombardiert worden war, aber nicht, was mit meinen Eltern und unserem Wohnhaus passiert war. Glücklicherweise stand das Haus. Zwar beschädigt durch Bombensplitter, aber noch so weit heil, dass man drin wohnen konnte. Und meine Eltern waren natürlich heilfroh, dass ich gesund wieder zu Hause ankam. Allerdings musste ich mich sofort verstecken, denn zu dieser Zeit war die Stadt noch von den Nazis besetzt, ich durfte mich als Deserteur dort nicht blicken lassen. So wurde ich im Keller und teilweise auch in unserer Wohnung versteckt. Am 8. Mai kamen die Russen, da war die Sache dann erledigt. Damals habe ich mir geschworen, es dürfe nie wieder einen Krieg geben.

Konnten Sie Ihre Ausbildung nach dem Krieg fortsetzen?

Ja, ich bin wieder zu dieser Firma gegangen, die stand auch noch. Dort konnte ich die Ausbildung dann abschließen. Aber ich fragte mich: Was kommt danach? Ich hatte zwar meine Ausbildung als technischer Zeichner, aber keine Arbeitsstelle. Außerdem war die Arbeit nicht so künstlerisch, wie ich mir das gedacht hatte. Nebenbei hab’ ich ja noch Zeichnungen gemacht. Ich bin in die Chemnitzer Altstadt gegangen, vor allem in das Gebiet am Brühl, und hab’ die alten Häuser gemalt, auch mit Aquarell und Ölfarben. Das war schon interessanter als nur diese Konstruktionen. Im Sommer 1946 wurde dann die Technische Hochschule in Dresden wiedereröffnet. Und da habe ich mir gedacht: „Das ist die Gelegenheit, da schreibst du dich in das Fachgebiet Architektur ein!“

„Architektur muss für den Menschen gemacht werden.“

Wie konnten Sie sich an der Hochschule einschreiben? Sie hatten doch gar kein Abitur?

Ja, ich hatte auch so meine Bedenken, ob man mich nimmt. Aber im Fachbereich Architektur gab es damals wenige Einschreibungen, insgesamt waren das nur 25 Studenten, und deswegen hat man mich dann auch genommen. Da war ich natürlich riesig froh. Das war auch eine schwere Zeit. Das Studium war mit Mathematik und Statik verbunden, und in Mathematik hatte ich natürlich sehr wenig Kenntnisse und Voraussetzungen. Ich musste alles nachholen, was man eigentlich fürs Abitur gelernt hätte, um überhaupt ein Verständnis für Mathematik und Statik zu bekommen. Vieles habe ich mir autodidaktisch beibringen müssen, um den Vorlesungen überhaupt folgen zu können. Ich bin nach wie vor kein Statiker, ich bin mehr auf dem künstlerischen Gebiet als Architekt tätig.

Was haben Sie auf künstlerischem Gebiet im Studium gelernt?

Ich hatte sehr erfahrene Professoren, zum Beispiel Karl W. Ochs und Walter Henn 5 , die später beide in den Westen gegangen sind und somit für uns verloren waren. Deren Ausbildung zielte daraufhin, Architektur für die Menschen zu machen. Es ging also nicht so sehr darum, ökonomische Bauten zu entwerfen, sondern Architektur muss für die Menschen gemacht werden. Das war das Credo dieser Ausbilder, die mich auch dahingehend geformt haben. Und dadurch, dass Ochs und Henn Ende der 1940er Jahre den Wettbewerb für den Wiederaufbau des Chemnitzer Opernhauses gewonnen hatten, bekam ich schon als Student die Möglichkeit, an konkreten Planungen mitzuarbeiten.

Wie ging es nach Ihrem Abschluss an der Hochschule für Sie weiter?

Das Studium habe ich 1950 abgeschlossen, nach acht Semestern. Inzwischen hatte ich auch meine Frau kennen gelernt, die in Dresden an der TU studierte und dort zum Bauingenieur ausgebildet wurde. Ich blieb daher in Dresden und arbeitete im VEB Industrie-Entwurf Dresden. Dann kam der damalige Stadtbaudirektor von Chemnitz, Georg Funk, 6 an die TU Dresden und übernahm dort den Bereich des Städtebaus, den es zu meiner Studienzeit noch nicht gegeben hatte. Das war für mich die Sache! Also hab’ ich bei ihm zwei Jahre lang ein Zusatzstudium für Stadtplanung gemacht. 1954 bin ich dann mit meiner Frau zurück nach Chemnitz gegangen – in der Zwischenzeit war es schon Karl-Marx-Stadt geworden. Ich bekam dort eine Stelle in der Stadtplanung, als Leiter des Entwurfsbüros für Gebiets-, Stadt- und Dorfplanung. Da ging es um den ganzen Bezirk Karl-Marx-Stadt, und so habe ich in vielen Gemeinden und Städten im Bezirk städtebauliche Planungen machen können.

Welche städtebaulichen Planungen standen Mitte der 1950er Jahre an?

Zum Beispiel die Neustadt in Johanngeorgenstadt im Erzgebirge. Die dortige Altstadt war ja durch Bergschäden, die die Wismut 7 verursacht hatte, völlig in sich zusammengebrochen. Wir mussten also ein neues Stadtgebiet planen, um die Bevölkerung wieder unterzubringen. Allerdings wurde ich bald hellhörig. Ich hatte gelernt, dass meine Arbeit den Menschen und den Bewohnern von Gebäuden zugute kommen sollte. Der Städtebau im Bezirk Karl-Marx-Stadt war aber ausschließlich ökonomisch orientiert. Es wurde wenig Wert darauf gelegt, Wohngebiete für die Menschen zu planen, es ging eher darum, auf möglichst rationelle Weise viele Wohnungen zu errichten.

Hatte dieses städtebauliche Konzept damals schon die Plattenbauarchitektur im Blick?

Plattenarchitektur gab es noch nicht, die kam erst etwas später, Anfang der 1960er Jahre. Aber man hatte schon die Richtung eingeschlagen. Die Forderungen waren damals: Man muss schnell und ökonomisch möglichst viele Wohnungen bauen – und zwar mit Großblöcken aus Abbruchziegeln. Das war die erste Stufe des industriellen Bauwesens … (Holt tief Luft) Und das störte mich schon damals sehr, diese Tendenz: industrielles Bauen, Rationalisieren, weniger Achtgeben auf die Wünsche der Bewohner. Deshalb kam ich auf die Idee, mich auf dem Gebiet der Städtebausoziologie weiterzubilden. Man riet mir, nach Leningrad zu gehen, dort gäbe es ein Institut, an dem man das lernen könne. Das habe ich dann gemacht. Zuerst wurde natürlich geprüft, ob ich überhaupt der Richtige wäre, in die Sowjetunion zu gehen. Ich wurde gefragt, ob ich denn die russische Sprache beherrsche. Ich konnte kein Wort Russisch sprechen (lacht). Aber schließlich gab man mir doch grünes Licht.

„… dass ich in vielen Gegenden der Sowjetunion herumkam.“

Was waren Ihre ersten Eindrücke von der Sowjetunion?

Ich bin mit einem Physiker aus der DDR dorthin gereist. Wir kamen erstmal nach Moskau und konnten uns dort mehrere Tage umsehen. Das war schon interessant, wir hatten ja schon viel von Moskau gehört. Manches war für uns völlig neu: Es wurde ja damals die Untergrundbahn gebaut. Oder auch die Hochhäuser, die da entstanden waren. Jedoch neben grandiosen Neubauten war auch viel Elend zu sehen … Es waren ganz unterschiedliche Eindrücke, die ich da gewonnen habe. Dann ging es weiter nach Leningrad. Wir kamen frühmorgens dort an und keiner war da, der uns abholte. Ich hab’ mich dann in ein Taxi gesetzt, und als ich am Institut ankam, sagten die: „Wer sind Sie denn, wo kommen Sie denn her?“ Das war mein erster Eindruck von Leningrad. Eigentlich war alles gut geplant gewesen, und die wussten dennoch von nichts. Man reagierte aber sehr freundlich und höflich. Ich wurde in einem Wohnheim für Aspiranten untergebracht. Und dann hieß es erstmal Tag und Nacht Russisch lernen. Nach drei Monaten konnte ich schon ganz gut Russisch sprechen, nach sechs Monaten hatte ich die erste Dolmetscherprüfung hinter mir.

Wie sind Sie damals in Russland als Deutscher aufgenommen worden?

Ich würde sagen, recht freundschaftlich. Zuerst hatte ich Bedenken, wie man mich als Deutschen in dieser leidgeprüften Stadt aufnehmen würde. Ich knüpfte Kontakte zu einigen Bewohnern von Leningrad, die die Blockade miterlebt und dort natürlich Fürchterliches durchlebt hatten. Sie haben zwar oft davon erzählt, aber sie sind nicht nachtragend gewesen, das muss ich ehrenhalber sagen. Davor habe ich großen Respekt.

Wie verlief Ihr Studium in Leningrad?

Die Ausbildung auf dem Gebiet der Städtebausoziologie erfolgte in vielen Gegenden der damaligen Sowjetunion. Soziologische Probleme wurden nicht nur im eigentlichen Russland behandelt, sondern auch in ehemaligen Teilrepubliken wie Kasachstan, Usbekistan oder Kirgistan. Ich bekam eine Kommandirovka: Man wurde also in bestimmte Gebiete der Sowjetunion ,kommandiert‘. Dort konnte ich soziologische Studien anstellen und mit unterschiedlichsten Menschen umgehen. Hab’ auch den Islam kennen gelernt im vorderen Orient. Ich habe in der Sowjetunion an Lebenserfahrung enorm dazu gewonnen. Leider war es so, dass ich diese Ausbildung nicht abschließen konnte. 1958 starb meine Frau, die in Karl-Marx-Stadt geblieben war. Also musste ich sofort zurück, um meine drei Söhne zu betreuen. Ich hatte keinen Arbeitsplatz, das war ja alles so plötzlich verlaufen. Da alles so schnell über mich kam, habe ich auf der Großbaustelle des Heizkraftwerkes Karl-Marx-Stadt-Nord angefangen. 1960 kam ich schließlich zum Bezirksbauamt als stellvertretender Bezirksarchitekt. Dort war ich unter anderem verantwortlich für die Gebietsplanung im Bezirk Karl-Marx-Stadt.

„… ein Wohngebiet so bauen, dass die Menschen sich dort wohl fühlen.“

Wie sah es Anfang der 1960er Jahre baulich in Karl-Marx-Stadt aus?

Seit dem Krieg waren einige Häuser am Rande des Zentrums wieder aufgebaut worden, aber im eigentlichen Stadtzentrum war noch nichts passiert. Erst 1959 war ein Politbürobeschluss des ZK der SED für den Wiederaufbau des Stadtzentrums gefasst worden. Bis 1960 hatte sich da wenig getan. Es gab kaum finanzielle und materielle Baukapazitäten, und außerdem fehlte es an den Planungsvoraussetzungen. 1964 kam eines Tages der Bezirksbaudirektor und meinte, es werde einer gesucht, der die Planung und Baudurchführung für den Wiederaufbau des Stadtzentrums macht. Das interessierte mich, und so kam ich in die Stadtverwaltung von Karl-Marx-Stadt – als Stellvertreter des Oberbürgermeisters, Stadtbaudirektor und Stadtarchitekt. Damals hatte ich bald 120 Mitarbeiter, was schon eine ziemliche Verantwortung war.