Tote wie Sand am Meer

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Tote wie Sand am Meer
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.d-nb.de abrufbar.

TOTE WIE SAND AM MEER – Mord und Totschlag im Urlaubsparadies

karo ♦ urlaubskrimis, band 1

1. Auflage 2014

© edition karo, Verlag Josefine Rosalski, Berlin

www.edition-karo.de

Alle Rechte vorbehalten

Nachdruck, Vervielfältigung und Vortrag nur nach ausdrücklicher Genehmigung des Verlages

Umschlagfoto: © dmitry_saparov – Fotolia.com

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014

ISBN 9783937881201

Angela Hüsgen, Josefine Rosalski (Hrsg.)

TOTE WIE SAND AM MEER

Mord und Totschlag im Urlaubsparadies

12 Kriminalgeschichten

edition ♦ karo

Berlin 2014

Unseren allerherzlichsten Dank an Gesine Wenzel.

Die Autorinnen, die Herausgeberin und die Verlegerin

März 2014

INHALT

Cover

Impressum

Titel

Danksagung

Vorwort

Angela Temming

DIE LETZTEN GÄSTE IN BAD SAAROW

Susanne Rüster

KURSWECHSEL

Gitta Mikati

GRÜNE JADE

Angela Hüsgen

AUSGETRÄLLERT

Petra Tessendorf

WENN DIE SONNE STILLSTEHT

Heidi Ramlow

OVER THE RAINBOW

Autorinnenduo Goest & Patsch

ARMER ONKEL LÜBBO

Barbara Ahrens

WALLRAFF IM WATTENMEER

Swenja Karsten

IM LAND DER STILLE

Regine Röder-Ensikat

DAS MEDUSENHAUPT

Kristina Herzog

GREEK FOR FREAKS

Gisela Witte

STRANDLÄUFER

Die Autorinnen stellen sich vor

VORWORT

Wir hätten es schon früher tun sollen!

Da sitzen Mörderische Schwestern zusammen, lachen, essen Flammkuchen, trinken Wein, planen Lesungen, aber niemand kommt auf die Idee, eine gemeinsame Anthologie herauszugeben.

Zum Glück gibt es auch andere kreative und tatkräftige Frauen, allen voran Gesine Wenzel von Wenzels Gartenwelt, die die Idee hatte – und natürlich Josefine Rosalski, die oft genug weiß was sie will.

Herausgekommen sind zwölf mörderisch entspannte Urlaubsstorys, und TOTE WIE SAND AM MEER!

Angela Hüsgen

März 2014

Angela Temming

DIE LETZTEN GÄSTE IN BAD SAAROW

Teil eins seines Plans hatte geklappt, sie waren mit der Bahn nach Bad Saarow gefahren. Kostspielig, die Ferienwohnung, doch würde dieser Abend günstiger bleiben als alle Alternativen. Jenny stand vor Fernseher und Receiver, presste die Daumen auf die Fernbedienungen, mal so und mal so, und sie fluchte, als wäre er nicht im Raum. Wortlos nahm er ihr die Geräte ab und schaltete mit zwei Handgriffen ein Boulevardmagazin ein.

Jenny verschmolz mit dem Sofa, und er packte die Badesachen. Typisch, den Bademantel hatte sie in Berlin vergessen. Obwohl sie den bald nicht mehr brauchte, ärgerte ihn, wie egal ihr der teure Ausflug sein musste, egal wie alles in ihrem Leben. Nie strengte sie sich an, und es gab wohl kaum eine trägere Person in ganz Berlin als Jenny Herbert. Wie oft kam er vom Büro nach Hause und nicht einmal die Betten waren gemacht.

Dabei musste sie nur zwei Zimmer in Schmargendorf bewirtschaften, und das ohne Kinder. Die Adiletten, er schob sie zwischen die Badetücher. – Kinder. Dann würde er das hier unterlassen. Andererseits, welche Nachkommen wären zu erwarten von einer Frau, die Schnaps in Strümpfen versteckte, einer Frau, deren Haare und Bindegewebe herunterhingen, einer Frau, die keine war? Welche Nachkommen? Keine, die ein Studium schafften. Jedenfalls würde Jenny ohne Erben, ohne Broterwerb und daher ohne weitere Nachfragen verscheiden, gleich da drüben, in der Therme.

Rasch holte er ihre Stiefel aus der Garderobe, stellte sie vors Sofa und schaltete den Fernseher ab. Ein Murren, mehr aber auch nicht.

Draußen kauerte tiefschwarz und kalt das Brandenburger Land. Unglaublich, wie frostig der April dieses Jahr ausfiel, als wollte Gott die Menschen strafen. Jenny erzählte irgendetwas, und nach einer Ewigkeit erreichten sie die Therme. Am Empfangstresen das Übliche: Jenny konnte das Armband mit dem Chip nicht ohne Hilfe um ihr Handgelenk legen. Sie lobte das Personal für das praktische Bezahlsystem. Sie lief gegen das Drehkreuz. Sie lief auch gegen das zweite Drehkreuz.

Schließlich watete sie hinter ihm durchs lauwarme Wasser, den Hals gereckt, den Mund verzogen, denn das, was in ihr Gesicht schwappte, schmeckte salzig, wie selbst sie jetzt begriff. Du lieber Gott, warum das denn so salzig wäre und ob man das Salz nicht rausfiltern könnte und so weiter. Die Uhr an der Wand zeigte auf zehn an diesem Freitagabend, und die großen und die kleinen Becken leerten sich von Minute zu Minute. Noch eine Stunde bis zur Schließung blieb ihm, um seiner Jenny das Genick zu brechen.

Heimvorteil hatte er ja, ließ er doch seit Jahren in der Therme seine Herrenwochenenden ausklingen. „Gehen wir ins Außenbecken!”, bestimmte er jetzt, und seine Stimme klang klarer als sonst. Jenny folgte ihm durch die Gummiklappen, die den Innenbereich vom Außenbecken trennten, hinaus an die Luft. Menschenleer. Er liebte den Kontrast: Unten umspülte das Wasser sonderbar warm seine Brust und oben blies der eisige Wind alle Bedenken aus dem Kopf. Der Dampf, der in Kapriolen über der Sole tanzte, schien weit nach oben bis zu Gott aufzusteigen. Gott würde zusehen, wie Jenny zu ihm in den Himmel aufbrach, und Gott würde nicken, denn er liebte alle Dummen, oder nicht?

Lächelnd drückte sie ihren Rücken gegen eine sprudelnde Massagedüse und quiekte, drehte sich um, klammerte sich an den Beckenrand und ließ den Strahl, der aus der Düse schoss, in ihren Ausschnitt sprudeln. Gönn dir das, Jenny, gönn dir das, dachte er. Er hatte ausgeharrt, immer gehofft, sie finge sich, suchte sich einen Kurs, Typberatung vielleicht, wo sie hätte lernen können, wie man spricht, und das nicht nur über die Grimaldis. Oder Englisch, das wäre gegangen. Aber sie suchte nur das, was sie selbst inzwischen, nach einigen Jahren des Überganges, war: Nichts.

„Auf zum Springbrunnen“, sagte er, zur Mitte der Anlage deutend, wo der wuchtige Steinkoloss emporragte. Ein Ungetüm, von dem die Wassermassen nur so herunterschossen und einem auf den Nacken brachen, als würde man von allen Seiten verprügelt. Wasser, Wasser, ringsum Wasser, wie in einer Waschanlage, es würde rauschen, donnern, um sich schlagen, es würde Jenny umschließen, und er bräuchte nur ihren Hals zu packen und umzuknicken, zack, das wäre schon alles und niemand sähe die kleine Bewegung. Sie stellte sich immer dämlich an, immer, es konnte sein, dass sie sich in den Fluten ungeschickt bewegte und ihr Hals dem nicht standhielt, schließlich war ihr Unfall erst eine Woche her – man fasse das einmal, ein Unfall mit dem Rad! Wegen einer Taube! – und warum sollte der Orthopäde nicht einen angeknacksten Halswirbel übersehen haben. Wer hätte es denn beweisen wollen. Fingerabdrücke im Wasser? Zeugen an einem Freitagabend in Bad Saarow, kurz vor Schluss?

Aber nein! … Sie ließ den Beckenrand los und steuerte die Gummiklappen an, offensichtlich, um hineinzugehen.

„Jenny, ich möchte noch bleiben!“

Über die Schulter hinweg rief sie herüber: „Lass uns etwas ausprobieren, man lebt nur einmal.“

Grundgütiger, sie musste alles ruinieren, selbst seine letzten großen Pläne mit ihr. Er konnte sie schlecht zum Brunnen zerren, ohne aufzufallen, und schon schlüpfte sie durch die Klappen und er musste ihr folgen. Wie sie die Stufen für die alten Leute hinaufwatschelte, statt die Leiter zu nehmen, wie sie sich bückte, das Gesäß entblößt, um ihre Füße in die Adiletten zu quetschen, wie sie ungelenk über den nassen Boden schlurfte und an der Liege nach seinem Bademantel griff. Jenny, dachte er, ich kann nicht anders.

 

Fünf Minuten später lagen sie in der Wohlfühl-Oase, einem winzigen fensterlosen Raum voller Sand, in der Mitte einige Scheinwerfer, die die Sonne simulierten. Sonnenaufgang, Tag, Sonnenuntergang. Absurd, aber Jenny freute sich auf den Untergang. Sie schwadronierte über die romantischen echten Hieroglyphen an der Rigipswand. Er zwang sich, an Politik zu denken. An die Partei, die ihn übergangen hatte. An die Liste, auf der er nicht stand. Da war Sophie. Sie schloss die Tür seines Büros. Sie drehte den Schlüssel herum. Sophie. Niemals hätte er sich auf dieses Mädchen eingelassen, wenn Jenny eine Frau gewesen wäre. Was er hier vorhatte, hatte nichts mit Sophie zu tun. Mit Sophie läge er in keiner stickigen Innenraum-Oase. Sophie, das war Strand, das war Ägypten, Sophie, das war ein Anwesen, ein Ambiente, Anlässe, Buffets und ihr Paps, der Senator.

Klack! Das Wüstenlicht wich sehr europäischen sechzig Watt. Jenny rubbelte den Sand von ihren behaarten Beinen, nahm seinen Bademantel und sagte: „Folgen Sie mir unauffällig. Haha.“

Sie schlenderten durch die Gänge zurück zum Saal wie friedliche Touristen und passierten problemlos das Drehkreuz. Die Oase hatte ihn zwanzig Euro extra gekostet, aber es war seine letzte Ausgabe für sie, wenn sie nicht noch auf die Idee kam, einen Cappuccino zu bestellen. Jetzt bitte nicht hoch ins Restaurant, es blieb nur eine Viertelstunde.

„Also zum Springbrunnen”, sagte Jenny von ganz allein, breit lachend mit ihren gelben Zähnen.

Sie nahmen wieder die Stufen und glitten ins Wasser. Jenny hängte ihren Leib huckepack an seine Schultern und er wusste, ohne sich umzudrehen, wie sie grinste. Er stapfte los, teilte das Wasser mit groben Händen und steuerte sein Ziel an, das Ziel seines Lebens. Schnell, solange der Springbrunnen eingeschaltet war.

Er schob die Gummiklappen zur Seite. Kalter Wind.

Er zog Jenny tiefer ins Außenbecken. Ganz leicht kitzelten winzige Tröpfchen Schneeregen seine Nase.

Er bog um die Ecke.

Er bog um die nächste Ecke. Nein!

Hardy Schneider. Ausgerechnet ihr Nachbar. Hardwig Enno Schneider, der ständig die Nase hochzog, der, der es irgendwie bis zur Mordkommission geschafft hatte. Auf seinen Schultern wuchsen dichte Haarbüschel. „Hallöchen“, sagte Schneider.

„Guten Abend. Meine Frau und ich haben es eilig, Sie verstehen, die letzten Minuten im Bad ausnutzen.“

Schneider schwamm mit einem „Tschüssi“ Richtung Ausgang.

Jenny in seinem Rücken sagte nichts. Er zog sie weiter zum Brunnen. Nur ein kleiner Ruck. Krrrk, Spätfolge des Radunfalles.

Niemand sonst war im Becken zu sehen, Schneider verschwunden. Sie waren allein. Er bog um die letzte Ecke und machte einen letzten fordernden Schritt in die Nische. Die Fluten, die gewaltigen Mächte, riefen nach Jenny, wummerten, forderten, stampften wütend auf, und für einen Moment klopfte Gott ihm auf die Schulter, schubste ihn fast und grölte in das Getöse hinein: „Erlösung!“ Ja, ein Missgeschick, ein Unfall, so wie das Leben mit Jenny ein Unfall war, dachte er und packte ihr Handgelenk, zerrte an ihrem elenden Arm, wuchtete ihren schweren Körper … den schweren Körper?

Hardy Schneider.

Nicht Jenny. Nicht Jenny. Hardy Schneider.

Verdammt.

Schneider lachte. „Sollte Jenny jemals, verstehst du, jemals was passieren, finde ich dich. Und ich verspreche dir, bis zum Knast wirst du es nicht schaffen. Du Idiot hast leider nur eine einzige Fahrkarte für die Rückfahrt bestellt und Jenny ist ja nicht dumm. Geiz ist dumm“, sagte Hardy Schneider und schniefte.

Am selben Abend zog Jenny zu ihrer Schwester.

Drei Wochen später schloss er die Haustür auf in Schmargendorf, einer anständigen Gegend in diesem rohen Berlin. Das Licht schaltete sich automatisch ein. Und da lag sie, neben einem großen Koffer und ihrer Lieblingslampe. Jenny glotzte durch ihn hindurch, den Hals quer, die Zunge draußen. Vielleicht lebte sie noch.

Er stellte seine Tasche ab, ging zwei Schritte, im Haus roch es nach Kohl. Das ungeschickte Ding. Sie lag auf den letzten Treppenstufen unten, ihr Rock war hochgerutscht und die Strumpfhosen hatten Löcher, genau drei Löcher. Sie musste an einem Nagel hängengeblieben sein, auf den Stufen. Doch wo war er, der Nagel? Das Licht erlosch ebenso automatisch mit einem Knacken. Er selbst konnte nichts mehr tun, weder automatisch noch gewollt. Er wollte kandidieren für den Senat, und er wollte Sophie, doch Sophie hatte jemanden kennengelernt, der Porsches verkaufte.

Was wollte er jetzt?

Im Schloss der Haustür klackte es, das Licht ging an. Ein Nachbar, glaubte er, bis er den Mann erkannte. „Nein, Herr Schneider, ich war das nicht, wirklich nicht.“

Susanne Rüster

KURSWECHSEL

Der Wind wehte ungewöhnlich sanft über die Kieler Bucht. Marion Kaempf, Kriminalkommissarin außer Dienst, stand vor ihrer reetgedeckten Kate und bewunderte das Wachstum der Sonnenblumen und ihre Fähigkeit, die goldgelben Köpfe zum Sonnenlicht zu wenden, von Ost nach West und wieder nach Ost. Ihr selbst ging diese Wendefähigkeit ab. Vielleicht hatte gerade deshalb jemand sie um Hilfe gebeten. Als Marion heute ihre Post öffnete, ahnte sie, dass ein unter Seglern als Q-Wende bezeichnetes Manöver bevorstand. Man fährt so lange einen Kurswechsel durch mehrere Wenden, bis man auf dem Kurs fährt, den man von vornherein mit der scharfen Heckdrehung hätte erreichen können. Nicht umsonst war Marion in ihrer Kieler Kripozeit viel gesegelt.

Der Brief in der heutigen Post war adressiert an die ‚Ehemalige Frau Kommissarin‘. Kein Absender. Marion Kaempf wusste aus vielen Polizei-Jahren, dass Briefe ohne Absender entweder von verlassenen Frauen mit kriminalistischem Insiderwissen stammten, oder von Spaßvögeln, die die Polizei auf eine falsche Fährte locken wollten. Und dann gab es die dritte Sorte, wo man als ordentliche Polizistin handeln musste. Sie war zwar nicht mehr in der Kieler Mordkommission, sie war im Ruhestand. Aber Neugier endet nicht mit einer Entlassungsurkunde.

Im Brief lag ein Foto, auf dessen Rückseite geschrieben war: Verenas Mörder lebt! Vom Foto sah ihr eine junge Frau entgegen. Schwarze Augen, roter Mund, das Haar unter einem schräg aufgesetzten Hut verborgen. Nicht die Frau selbst, sondern ein Porträtbild ihres Gesichtes war fotografiert worden.

„Verena von Heyden“, sagte Marion überrascht. Die Akte Ungelöst.

Der Fall Verena von Heyden hatte sich mit dem Eintreffen des jungen Kommissariatsleiters ereignet. Tür-auf-Schulz nannte Marion ihn. Sie selbst hatte sich einige Türen nach oben zugeschlagen. Zu hartnäckige Recherchen in den falschen Fällen.

Damals, als der Funkspruch hereinkam, hatte sie Bereitschaftsdienst. Yacht aus Kieler Segelclub mit zwei Insassen vermisst. Aber als Marion eilig ins Auto gesprungen, die Kieler Förde entlang gefahren und im Yachthafen eingetroffen war, stand nur noch der blau-silberne Wagen der Kieler Schutzpolizei da. Die Ermittlungen vor Ort waren bereits beendet. Ihr neuer Chef war vor ihr da gewesen. Und hatte ihr schon einen anderen Fall zugeteilt.

Die Eile, mit der Schulz die Ermittlungen im Yachtclub führte, wunderte Marion nicht. Er war halt ein kleiner Wichtigtuer. Dafür war die Schlagzeile groß genug für einen Sehtest aus der Ferne: Nasses Grab für Industriellen-Ehefrau und Begleiter! Der Begleiter war, wie sich später herausstellte, nicht der Ehemann und Besitzer der Yacht.

Verenas Mörder lebt! Sollte sie den anonymen Brief einfach als kleinen perfiden Gruß weiterleiten? Lieber Herr Kommissariatsleiter, vielleicht möchten Sie die Akte Verena von Heyden noch mal öffnen? Ich bin damit beschäftigt, meine 3 000 Euro Pension auszugeben.

„Der Kunstmaler Michael Kandzior war von mir beauftragt, ein Porträt meiner Frau zu erstellen“, hatte der Witwer Egbert von Heyden, ein älterer Unternehmer mit Anwesen in Holtenau an der Förde, damals zu Protokoll gegeben. „Nach Fertigstellung des Porträts belohnte meine gutmütige Verena den Maler mit einem Törn. Sie kehrten nie zurück.“ Die Aussage hatte sich eingebrannt.

Aber jetzt schrieb jemand etwas anderes: Verenas Mörder lebt! Es war klar, warum derjenige gerade an sie schrieb. Marion war in einer Fernseh-Doku des NDR über Polizei-Frauen auftreten. 40 Jahre Kripo hatte sie hinter sich, 20 mehr als der neue Chef.

„Werden Sie sich auch nach Ihrer Pensionierung noch ungelösten Morden widmen?“ Es war als Scherz zum Abschied gemeint und die Reporterin schien überrascht über Marions Antwort.

„Warum denn nicht?“ Marion machte ein ernsthaftes Gesicht. Tür-auf-Schulz saß bestimmt vorm Fernseher: „Es gibt Fälle, in denen noch zu tun ist.“

Am Abend rief sie Bernie an, der als Polizeitechniker arbeitete. Was Marion mit Bernie verband, war ihr gleiches Alter, ihre gemeinsame Abneigung gegenüber Forderungen der Polizeispitze nach immer mehr Effizienz in der Arbeit und eine, nach einem Betriebsausflug mit Fährenfahrt nach Göteborg, gemeinsam verbrachte Nacht, die Marion, mehr als Bernie, im Nachhinein als Versehen abtat.

„Jetzt wird mir klar, dass Schulz dich sedieren wollte, aber nicht das richtige Beruhigungsmittel gefunden hat“, sagte Bernie. „Der Fall ist abgeschlossen. Die Leichen haben eine Seebestattung erhalten. Die Yacht ist verschollen. Wo sollen da noch Spuren herkommen?“

„Trotzdem.“ Marion ärgerte sich, weil Bernie genau ihren Gedanken aussprach.

„Willst du beim Gericht einen Durchsucher für die Ostsee erwirken?“

„Trotzdem.“ Marion legte auf.

Es war ja richtig, was Bernie sagte. Es gab Seeunglücke. Marion als ordentliche Tochter der Ostsee wusste, dass bei Wendemanövern das Segel schnell und schlagartig von einer Bootsseite zur anderen wechseln und einen unerfahrenen Segler über Bord schleudern konnte. Trotzdem.

Am nächsten Tag nahm Marion ihr Fahrrad. Warum machst du das?, dachte sie, als sie an Wiesen mit grasenden Schafen entlang zur Kieler Bucht fuhr. Warum machst du nicht einfach einen Ausflug? Wäre bestimmt gesünder. Aber sie nahm zielgerichtet Kurs auf den Segelclub. Das große Vereinshaus war aus rotem Klinker gebaut und hatte ein prächtiges Reetdach. Marion ging an dem Schild Eintritt nur für Mitglieder oder Gäste in Begleitung eines Mitglieds vorbei ins Casino.

„Einen Kaffee, und, finde ich hier Herrn Egbert von Heyden?“

Die Bedienung, eine Frau um die fünfzig mit weinrotem Haar, starrte Marion aus blau geschminkten Augen an, als sei sie ohne Poloshirt und wasserdichte Segelhose hier völlig deplatziert. „Die Mitglieder sind draußen in der Bucht“, sagte sie endlich. „Gutes Segelwetter, NW 5, zunehmend.“

Das war keine Antwort auf ihre Frage. „Ist vielleicht Verena von Heyden hier?“, fragte Marion, gespannt auf die Reaktion.

Die Frau biss sich auf die Unterlippe. „Frau von Heyden ist ums Leben gekommen. Und ihr Mann ist weggezogen.“ Sie drehte ab und ging in die Küche.

„Die Vergangenheit sollte man ruhen lassen.” Ein älterer Herr kam auf Marion zu. Er war in Weiß gekleidet. Jackett, weiße Krawatte mit roten Punkten, eine Bügelfaltenhose, die kurz unterm Knie endete. „Schönbeck. Ich bin im Vorstand dieses Clubs.“

Marion entschloss sich, ihre Identität nicht aufzudecken. „Mein Name ist Leibniz.“

„Eine Nachfahrin des großen Philosophen?“

„Schön, dass Sie nicht an Kekse denken.“ Marion lächelte. „Beim Erwachen hatte ich schon so viele Einfälle, dass der Tag nicht ausreichte, sie niederzuschreiben. Ich mache es kleiner als Leibniz. Ich arbeite an einer Chronik über die Kieler Bucht.“

Der Herr in Weiß rief der Bedienung, die hinterm Tresen stand und Marion musterte, zu: „Machen Sie Frau Leibniz einen Sekt-Cocktail, Leni.“

„Der Segelclub feiert demnächst sein 100-jähriges Bestehen“, sagte Schönbeck. „Wie wäre es, wenn Sie in Ihrer Chronik darüber berichten?“

Sie setzten sich auf die Terrasse. Blauer Himmel, Wasser mit Schaumkronen, sich blähende weiße Segel.

„Bei so schönem Wetter vergisst man, wie gefährlich die See sein kann“, sagte Marion.

Die Kellnerin brachte einen Sektkelch, dekoriert mit Erdbeeren und Papierschirmchen. Nicht zu der filigranen Aufmachung passte, dass sie ihn klirrend auf den Tisch stellte.

„Dass Frau von Heyden beim Segeln ums Leben gekommen ist, hängen wir nicht an die große Glocke“, sagte Schönbeck. Die Angelegenheit schien für ihn erledigt.

 

Marion versuchte, wie eine naive Ostsee-Chronistin an den Todesfall heranzugehen. „Ein Unglücksfall?“ Sie schüttelte sich.

„Ja.“ Schönbeck warf ihr einen Blick aus hellblauen Augen zu. „Es begann damit, dass Herr von Heyden ein Porträt seiner Gattin erstellen lassen wollte. Sie war wesentlich jünger, die zweite Ehe. Man empfahl ihm einen Kunstmaler. Michael Kandzior. Russischstämmig.“

„Kandzior malte Verena von Heyden?“

„Ja. Dann nahm die Tragödie ihren Lauf.“ Der Herr in Weiß musterte Marion mit leisem Lächeln. Ihre Vorstellung als unbedarfte Chronistin schien gelungen. „Sie verbrachten viel Zeit miteinander. Ein Maler will das Typische erfassen, zerlegt das Gesicht in Rundungen, Linien, Schwünge, spielt mit Farben.“ Schönbecks Tonfall glitt in die Laudatio für die 100-Jahr-Feier hinein. „Frau Verena genoss sein Interesse. Sie war nicht nur Modell, sondern Persönlichkeit.“ Er zwinkerte. „Als das Porträt fertig war, bot Verena dem Maler einen Törn an, als Belohnung für die interessante Zeit. Niemand im Club wusste, dass sie hinausfahren wollte. Sie hatte ja gerade erst den Segelschein.“ Marion wandte den Kopf. Ihr war, als werde sie vom Kastenfenster des Casinos aus beobachtet. „Hätte Frau Verena nur unseren Segellehrer mitgenommen“, fuhr der Herr in Weiß fort. „Aber den hatte ich an dem Tag in Beschlag zur Auffrischung meines Seglerlateins.“ Er zwinkerte wieder, diesmal stärker. Marion warf einen spöttischen Blick auf seine kniekurze Hose.

Am Abend tauchte Bernie auf und gab Marion die Akte ungelöst. „Die kannst du für eine Nacht haben. Oder hast du einen besseren Vorschlag?“ Er lachte.

Marion gab ihm einen Kuss auf die graustoppelige Wange. Der Auftrag, den sie dann erteilte, löste aber selbst bei ihrem alten Freund ein Stöhnen aus. Dass er ihn überhaupt ausführte, lag in ihrer gemeinsamen Abneigung gegen unsorgfältig aufgeklärte Todesfälle. Bernie sollte sich, getarnt als segelinteressierter Studienrat, im Yachtclub unauffällig umsehen.

In der Akte war nichts, was die anonyme Anzeige stützen konnte. Verenas Mörder lebt! Die damalige Hausangestellte Magdalene Schramm gab an, dass Verena von Heyden mit einem Begleiter nachmittags hinausgesegelt sei. Gesehen habe es niemand. Aber an das Unwetter erinnerte sich Frau Schramm genau. Ein tragischer Unglücksfall.

„Egbert von Heyden war in seiner Hütte in Florida, als es passiert ist“, berichtete Bernie am nächsten Abend. „Ein wasserdichteres Alibi gibt’s nicht.“

„Machst du dich lustig?“

„Vielleicht war Verena mit ihrem Maler so überirdisch glücklich, dass sie beschlossen, gemeinsam zu sterben“, sagte Bernie. „Denk an Heinrich von Kleist und seine Henriette.“

„Das war Lebensüberdruss und Krankheit.“

„Zugegeben. Aber denk dran, dass ältere schrullige Damen nur in der Literatur Verbrechen aufklären.“

Marion bemerkte schmunzelnd, dass sie ab sechs öfter auf die Uhr schaute, wo denn Bernie blieb. Tatsächlich brachte er diesmal eine erfreuliche Nachricht. „Ähnlichkeiten in der Handschrift von Anonymus und der Unterschrift von Magdalene Schramm auf dem Zeugenprotokoll.“ Bernie erhielt wieder einen Kuss. „Die zweite Nachricht ist leider unerfreulich. Herr Egbert in FL soll schwer herzkrank sein.“

„Mist. Das ärztliche Attest ist bestimmt schnell da. Wir können ihn nicht herholen.“

Nachts schreckte Marion hoch. Ein Arzt, in Weiß mit kniekurzer Hose, wollte ihr die Finger abschneiden, damit sie nicht in einer roten Sauce herumrührte. Eine ältere Frau schrie: ‚Blut, überall Blut!’. ‚Still, Leni’, sagte der Arzt, ‚sonst schneide ich dir auch die Finger ab!’

Marion saß im Bett und schüttelte über den wirren Traum den Kopf. Da machte ihr Gehirn einen der kühnen Sprünge, die sie schon manchmal auf die Spur gebracht hatten. Magdalene Schramm, ehemalige Angestellte der von Heydens, hatte als Zeugin ausgesagt. Der Herr in Weiß hatte die verängstigte Bedienung Leni genannt. Magdalene – Leni?

Ein Gedanke hielt Marion vom Schlafen ab: Es war kein Seeunfall. Es gibt einen Mörder. Magdalene hat mir anonym geschrieben. Leni weiß es. Marions nächster Gedanke war: Leni wird schweigen. Sie wird ihre gute Stelle nicht aufs Spiel setzen. Gegen vier Uhr früh kam Marion ein dritter Gedanke.

Magdalene Schramm war nicht zu sehen, als Marion am nächsten Tag eine Ansichtskarte von der Pinnwand neben der Theke nahm. Ein Pelikan, der in einem orange-rosa Abendhimmel über dem Meer schwebte. Florida. Egbert von Heyden schrieb, er freue sich auf die 100-Jahr-Feier in seinem Segelclub. Wohnen würde er bei seinem alten Freund Schönbeck.

Bernie rief spät an und war bester Laune. „Unser Magdalenchen hat eine Dienstwohnung im Club. Blick auf den Hafen.“

Marion pfiff anerkennend durch die Zähne. „Die weiß, wer raussegelt.“

„Ich hab eine englische Lady kennengelernt, die hier einen Yachtplatz sucht. Angela.“ Diesmal pfiff Bernie. „Sie war vor Jahren fest hier im Club und dann ist irgendwas geschehen. Sie jammerte, dass der tolle Segellehrer so plötzlich weg ist. Der hätte Preise gewonnen.“

„Der ist gleich nach diesem merkwürdigen Doppeltod von Maler und Modell weg?“ Marion merkte, wie sie aufgeregt wurde.

„Genau. Vielleicht hätt’ ich noch mehr rausgeholt, aber dein Vorstandsmitglied in dieser komischen Club-Uniform kam Stören. Morgen sind die Lady und ich zum five o’clock tea verabredet.“

„Dann darfst du sie bestimmt Angie nennen“, sagte Marion säuerlich.

„Was soll ich aus dem Frohsinn, der auch Sie seit gestern belebt, schließen?“, flötete Bernie.

„Heinrich von Kleist?“

„Ja. Aber diesmal zu Wilhelmine.“

„Angie.“ Marion musste lachen. „Engel sagen doch die Wahrheit, nicht?“

Egbert von Heyden stand an der Reling und grinste in den Wind über der Golfküste Floridas. Hatte das Verena-Dummchen doch gedacht, ihn auszutricksen. Einfach abhauen mit ihrem Maler. Aber ohne Geld wollte sie nicht weg von ihrem reichen Ehemann. Dachte das Verena-Gänschen doch wirklich, mit einer gefälschten Vollmacht das Konto abräumen zu können. Aber die Bank war auf Zack. Ob er die Vollmacht für seine Frau bestätigen möge? Ha! Egbert von Heyden fuhr aus der Marina hinaus, stellte den Motor ab und zog das Großsegel hoch. Dann wollte die Schnepfe den Familienschmuck versilbern. Zum Glück rief der Juwelier bei Leni an. So ein paar treue Seelen braucht man schon. Sind ja auch belohnt worden. Lenchen mit der guten Stelle im Club. Und für den Segellehrer eine neue Vita in FL. Das mit dem Seeunglück hat er sauber hinbekommen. Und der Erlös für die Yacht, die nicht gesunken, sondern umfrisiert worden ist, gehört ihm. Nicht zu vergessen, Schönbecks Auffrischungskurs im Seglerlatein. Der Segellehrer brauchte ja auch sein Alibi. Tja, wenn man in der Theorie pennt und die Kommandos für die Heckdrehung nicht mitbekommt, kann einen das herumschlagende Segel schnell mal über Bord fegen. Die Halse ist halt ein gefährliches Manöver. Von Heyden lachte, als der Wind das Segel füllte und die Yacht Fahrt ins offene Meer aufnahm.

„Meine lieben Segler, wir feiern das 100-jährige Bestehen unseres Clubs.“ Vorstandsmitglied Schönbeck stand auf der Tribüne, angestrahlt von Scheinwerfern. Weißer Anzug, weißes Hemd, rotgetupfte Krawatte. „Die Kieler Förde gehört zu den besten Segelrevieren der Welt. Jedes Jahr finden hier mehrere große Regatten statt. Und seit über 100 Jahren das weltgrößte Segelsportereignis, die Kieler Woche …“

Ein braungebrannter Mann, Typ Fernsehkapitän, saß ganz vorn, um ihn herum andere ältere Männer, die ihn herzlich begrüßten.

„ … unser Team war erfolgreich bei den Deutschen Meisterschaften in Flensburg und in Kiel …“

Drei im Club unbekannte Männer betraten den Saal, während der Herr in Weiß seine Laudatio mit einem Segler-Toast abschloss. „Ein einfaches Godewind Ahoi, ein zweifaches Hipp, Hipp, Hurra, ein dreifaches Zicke-Zacke Heu, Heu, Heu!“

Die Anwesenden erhoben sich, die „Hurras“ und „Ahois“ fluteten durch den Raum. Die drei unbekannten Männer traten derweil auf von Heyden zu, der seinem alten Freund applaudierte, und fassten ihn am Arm. „Schön, dass Sie den weiten Weg von Florida hierher gemacht haben.“

Sie führten Egbert von Heyden an Marion vorbei, die ganz hinten saß. Festnehmen durfte sie als Kommissarin außer Dienst niemanden mehr. Im Scheinwerferlicht sah Marion, wie von Heyden die Lippen zusammenpresste, wie seine Augen erloschen, wie die Schultern nach unten sackten. Der Anstifter wird bestraft wie der Mörder, dachte sie.

Aber nicht nur die drei Kriminalpolizisten hatten von Heyden erwartet. Eine elegante Dame trat hinzu und sagte mit britischem Akzent: „Ich habe es nicht gern, wenn mein Name auf meiner schönen Yacht mit dem Namen Verena übermalt wird.“

„Angela, du kannst doch nicht …“ hörte Marion von Heyden sagen. Dann ging sie an dem Verhafteten vorbei zu Schönbeck. Jetzt zahlten sich die Früchte einer weiteren schlaflosen Nacht aus. Gegen vier Uhr früh war ihr eingefallen, dass Türauf-Schulz ab und an zum Segeln mitgenommen wurde von einem ehemaligen Ministerialrat der Innenverwaltung.

„Herr Ministerialrat außer Dienst“, sagte Marion zu Schönbeck, der mit gerötetem Gesicht die Glückwünsche der Segler entgegen nahm. „Sie haben gemeinsam mit meinem Kommissariatsleiter geholfen, einen zweifachen Mord zu vertuschen. Der Anstifter wird gerade verhaftet. Gegen den Täter stellen wir einen internationalen Haftbefehl aus. Sie haben dem Mörder ein Alibi gegeben. Auffrischen Ihres Seglerlateins, Sie erinnern sich? Und mein ehemaliger Kommissariatsleiter wollte meine hartnäckigen Recherchen nicht. Ob das Strafvereitelung ist, werden die zuständigen Stellen prüfen. Sie sollten jetzt Ihre Tätigkeit im Vorstand niederlegen. Ein so renommierter Club verdient ein ehrenwertes Vorstandsmitglied.“

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