TEXT + KRITIK 155 - Herta Müller

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TEXT + KRITIK 155 - Herta Müller
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TEXT+KRITIK.

Zeitschrift für Literatur

Redaktion:

Meike Feßmann, Axel Ruckaberle, Michael Scheffel und Michael Töteberg

Leitung der Redaktion: Claudia Stockinger und Steffen Martus

Tuckermannweg 10, 37085 Göttingen,

Telefon: (0551) 5 61 53, Telefax: (0551) 5 71 96

2. Auflage: Neufassung

Print ISBN 978-3-96707-417-8

E-ISBN 978-3-96707-419-2

Umschlaggestaltung: Thomas Scheer

Umschlagabbildung: © Isolde Ohlbaum (2008)

E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara

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Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2020

Levelingstraße 6a, 81673 München

www.etk-muenchen.de

Inhalt

Norbert Otto Eke / Christof Hamann

»Das Schöne ist das Durchsichtige«. Gespräch mit Herta Müller

Iulia-Karin Patrut (De-)konfigurationen totalitärer Ordnung. Herta Müllers Frühwerk bis 1989

Alexandra Pontzen Verstrickt, gefangen, gehalten – im Netz der Romane. »Der Fuchs war damals schon der Jäger«, »Herztier« und »Heute wäre ich mir lieber nicht begegnet« von Herta Müller

Bettina Bannasch »Aber ich bin nicht mein Fleisch«. Herta Müllers Roman »Atemschaukel«

Natalie Moser Mehr als stille, müde und hölzerne Sätze. Herta Müllers Reflexionen über das Schreiben

Andreas Erb / Christof Hamann »Wir sind frei, mit ihnen das zu machen, was unser Leben mit uns macht«. Produktive Mehrdeutigkeit in den Text-Bild-Collagen von Herta Müller

Susanne Düwell »Die Nacht ist aus Tinte gemacht«. Zur Ästhetik der Hörbücher/Hörtexte Herta Müllers

Daniela Doutch Zwischen — denken. Herta Müllers und Katie Mitchells »Reisende auf einem Bein«

Udo Friedrich Metapher als Umweg – Umweg als Metapher. Zur Bildlichkeit des Weges bei Herta Müller

Roland Borgards Der fünfte Hase. Herta Müller collagiert mit den Tieren

Norbert Otto Eke »Ein paar Freunde lachen. so verrückt daß ganz nahe / schon im Schach das Schweigen steht«. Lachen in Herta Müllers Texten

Martina Wernli »Diese Diktaturen sind immer noch da«. Herta Müller als engagierte Autorin

Esther Kilchmann Sprache als Mehrsprachigkeit in der Poetologie Herta Müllers

Axel Dunker »Die Angst hat mich zwischen die Böden der Sprache getrieben«. Zum Stellenwert von Interkulturalität im Werk Herta Müllers

Bibliografie

Notizen

»Das Schöne ist das Durchsichtige« Norbert Otto Eke und Christof Hamann im Gespräch mit Herta Müller

Die erste Frage, Frau Müller, gilt dem Verhältnis von Erfahrung, Biografie und literarischem Text. Zur Psychodynamik des Lesens gehört, dass sich beim Lesen als Effekt des Textes stets eine innere Stimme im Kopf des Lesenden Gehör verschafft. Diese Stimme wird häufig mit der realen Autorin Herta Müller gleichgesetzt. Wie verhält es sich damit? Sie selbst haben sich ja wiederholt auf den von Serge Doubrovsky in die Diskussion eingeführten Begriff der Autofiktionalität als Modus autobiografischen Schreibens bezogen, um das wechselvolle Verhältnis von Nähe und Ferne zu erklären.

Die Beantwortung Ihrer Frage hängt davon ab, was man als literarischen Text bezeichnet. Im Fall von Essays, in denen man über sich selbst spricht, zum Beispiel über die eigene Kindheit, stimmt das schon überein. Essays sind ein Genre, das zur Voraussetzung hat, dass das, was man über seine eigene Biografie sagt, auch stimmt, dass nichts erfunden wird. Ein Essay ist diesbezüglich mit einem journalistischen Text vergleichbar. Auch ein Journalist darf ja nicht erfinden und anschließend behaupten, er habe das, was er in einer Reportage beschreibt, gesehen oder erlebt. Romane und Collagen, überhaupt fiktionale Texte, sind aber etwas anderes; sie arbeiten zumindest teilweise mit Fiktion. Andererseits: Das wirklich Erlebte ist Vorlage für die literarische Fiktion, und eigene Erfahrungen schreiben daran stets mit, auch wenn ich die äußeren Umstände nicht respektieren muss. Wenn ich beispielsweise über ein Verhör schreibe, dann schreibe ich aus meiner Erfahrung heraus darüber, eben weil ich Verhöre erlebt habe, erfinde aber zugleich ein ›literarisches‹ Verhör‹; daraus entsteht dann eine Situation, die mit keinem der realen Verhöre identisch ist. Aber meine innere Erfahrung, das heißt mein Wissen davon, wie ein Verhör vor sich geht, schreibt an der Fiktion mit; sie ist die Grundlage der Erfindung. Und das macht auch viel mehr Sinn, in einem fiktionalen Text etwas zu erfinden; ein fiktionaler Text würde müde werden, wenn er die Voraussetzungen eins zu eins respektieren müsste. Fiktionale Texte haben ganz andere Voraussetzungen als Essays. Beim Schreiben von Essays muss ich mir nicht vornehmen, eins zu eins die Realität zu respektieren; das ergibt sich von selbst.

Es gibt in den unterschiedlichen Gattungen und Genres also unterschiedliche Grade von Nähe und Ferne zur eigenen Biografie?

Es kommt auf den Ausgangspunkt an, den man sich selber gesetzt hat. Wenn ich mir vornehme, einen biografischen Essay zu schreiben, dann ergibt sich der Umgang mit der Realität eigentlich von selbst. Beim Schreiben von Romanen genauso. Vielleicht ist das bei mir eine Art innere Notwendigkeit, ein eigener Kompass.

Stützen Sie sich beim Schreiben auf Aufzeichnungen, beispielsweise auf Tagebücher, Arbeitsjournale oder andere Formen der Aufzeichnung?

Ich habe nie Tagebuch geschrieben und tue das auch nach wie vor nicht. Ich könnte mich nicht in so eine selbstauferlegte Pflicht einspannen. Auch würde mir wahrscheinlich oft die Lust dazu fehlen. Ich glaube außerdem, dass ich manche Erfahrungen oder Begegnungen gar nicht in Worte fassen will. Vor allem aber: Damals, in Rumänien, hätte ich gar nicht ausgehalten, meine Erlebnisse unmittelbar oder kurz danach aufzuschreiben. Ich war verstört, und ich hätte es nicht ertragen, mir diese Verstörung dann auch noch in Worten und Sätzen bewusst zu machen. Nicht, dass ich all die Turbulenzen und Ängste bewusst verdrängt hätte, aber all das saß eher abstrakt in meinem Kopf, obwohl es für sich genommen völlig konkrete Ursachen hatte. Also allein aus Selbstschutz hätte ich damals kein Tagebuch führen können. Dazu kamen die ständigen Hausdurchsuchungen. Ich hätte, was ich aufschrieb, verstecken müssen. Aber wo? Wahrscheinlich wären die Notizen gleich bei der ersten Hausdurchsuchung gefunden worden. Und dann hätten die Behörden natürlich ein großartiges Beweismittel gegen mich und meine Freunde in der Hand gehabt. Einmal angenommen, ich hätte damals ein Tagebuch schreiben wollen, hätte ich es so führen müssen, dass es im Falle der Beschlagnahme durch den Geheimdienst nicht gegen uns hätte verwendet werden können. Ich hätte das Erfahrene, Erlebte und Erlittene verschlüsseln, verklausulieren oder fingieren müssen. Über Ihre Frage habe ich noch nie nachgedacht, aber es könnte sein, dass das alles eine Rolle gespielt hat. In einer anderen Zeit vielleicht oder unter anderen Lebensumständen hätte ich vielleicht Tagebuch schreiben wollen, können, sollen. Aber ich glaube, kein einziger Freund oder Bekannter hat in Rumänien Tagebuch geschrieben, das wäre undenkbar gewesen. Auch haben uns die Ruhe und die Kraft gefehlt, die zum Schreiben eines Tagebuchs, so denke ich, nötig sind.

Schrift wird in diktatorischen Systemen also zum Gefährdungsmoment, macht angreifbar und verwundbar.

Wie bereits gesagt, wäre ein solches reflektiertes Schreiben für mich allein schon aus psychologischen Gründen gefährlich gewesen, weil mir dabei die eigene Notlage, die Gefährdung, die Angst erst so richtig vor Augen getreten wären. Für so etwas habe ich Abstand gebraucht. Erst während der Arbeit an »Niederungen« ist mir zum Beispiel auch so richtig bewusst geworden, was meine Kindheit eigentlich für mich bedeutet hat, welche Verhältnisse damals herrschten, wie schrecklich abgelegen und unheimlich diese ganze Gegend war, wie eine kleine verschlossene Kiste. Ich bin von dort weggegangen, mir war dieser Kindheitsort zuwider, hatte aber dennoch eine lange Zeit unendliches Heimweh danach. All das ist mir erst durchs Aufschreiben bewusst geworden.

Und noch ein Letztes zum Tagebuch: Beim Schreiben, wenn man also ins Wort geht, bewegt man sich in ein anderes Feld der Erfahrung hinein. Die Sprache ist ja ein ganz künstliches Metier und es stellt sich die Frage, wie komme ich davon wieder los, wenn ich etwas schon einmal, beispielsweise im Tagebuch, fixiert habe. Soll ich das jetzt respektieren, weil es Sprache ist und ich, wenn ich an einem fiktionalen Text arbeite, auch in der Sprache bin, oder soll und kann ich dieses Fixierte außer Acht lassen? Irgendwie sind solche Aufzeichnungen in ihrer ja doch literarischen Form eine Art ›Zwischenlandung‹. Und was mache ich dann damit?

 

Erinnerung ist oft unscharf, manchmal trügt sie. Besonders wenn man aus dem Kopf zitiert, führt das zu teils kuriosen Fehlern. Prüfen Sie zum Beispiel Zitate, um Irrtümer zu vermeiden? Etwa wenn Sie, wie in »Der Fuchs war damals schon der Jäger« oder »Herztier«, Gedichte und Lieder zitieren?

So ist das, wenn man Zitate, die man auswendig zu wissen glaubt, nach Jahren aufschreibt, so wie man sie im Kopf mit sich herumträgt. Und dann sagt dir ein Lektor, das Zitat stimmt nicht. Ist nicht möglich, denkst du, schaust nach und merkst, dass du es über die Jahre zugeschnitten hast, vielleicht einer inneren Notwendigkeit folgend. Generell ist Recherche wichtig, weil auch das Fiktionale Glaubwürdigkeit braucht. Wenn du beispielsweise einen Ortsnamen oder ein Geschichtsdatum verwendest, dann kannst du zwar in deinem Roman darüber schreiben, aber sollten der Name oder das Datum nicht korrekt sein, wird die Glaubwürdigkeit des Textes beschädigt. Für »Atemschaukel« etwa war eine solche Korrektheit für mich selbstverständlich. Um über Deportation und über das Leben in einem Lager zu schreiben, war ein hohes Maß an Recherche unerlässlich. Ich musste beispielsweise wissen, wie viele deportiert wurden und wann, und da der Abtransport im Januar erfolgte, konnte ich die Bilder, die vom Erfrieren handeln, verwenden, aber wenn er im Mai oder im Sommer erfolgt wäre, hätte ich mit anderen Bildern arbeiten müssen. Recherche ist auch Verantwortung gegenüber dem Gegenstand, über den man schreibt.

Etwas anderes ist es, wenn sich im Laufe der Zeit die Ansichten über etwas verändern, weil man Neues erfährt, weil Wissen hinzukommt, beispielsweise durch Lektüren, Begegnungen und Gespräche. Dann bin ich auch nicht immer einverstanden mit dem, was ich früher gedacht oder für richtig gehalten habe. Mit wissentlicher Täuschung hat das aber nichts zu tun. Ansichten kann man korrigieren, auch öffentlich korrigieren, wenn sie sich als falsch herausgestellt haben, weil man es nicht besser wusste oder weil man es gar nicht wusste oder weil man es anders wusste, das passiert ja.

Wann sind Sie das erste Mal mit Literatur in Berührung gekommen? Sie haben in einem frühen Interview im Zusammenhang mit den »Niederungen« einmal auf Werke Franz Innerhofers und Thomas Bernhards als jeweils prägende und wichtige Lektüreerfahrungen hingewiesen. Diese fanden aber wahrscheinlich erst statt, nachdem Sie aus Ihrem Heimatdorf weggezogen waren.

Natürlich. Ich hatte als Kind gar keine Bücher abgesehen von Kinderbüchern aus der Schule. Die bekam ich am Ende des Schuljahrs als Prämie für gute Leistungen. Ich bekam stets solche Prämien, weil meine Mutter mich trimmte, die Erste zu sein, obwohl ich beispielsweise überhaupt nicht rechnen konnte, im Turnen nicht gut war und es mit dem Akkordeonspielen und der Musik nicht klappte. Aber für meine Leistungen in anderen Fächern habe ich immer diese Kinderbücher überreicht bekommen, rumänische Kinderbücher, die »Der allmächtige Igel« oder so ähnlich hießen. Das waren natürlich immer ideologische Bücher für Kinder. In einem dieser Bücher gab es beispielsweise eine Ameise und eine Grille, und die Ameise war dort das Vorbild für die fleißigen Menschen im Sozialismus und die Grille war der Kapitalist. Für mich waren diese Bücher völlig uninteressant. Statt sie zu lesen, wurden sie bei uns zu Hause als Topfuntersetzer benutzt. Alle unsere Topfuntersetzer waren meine Prämienbücher vom Schuljahresende. Die wurden dann ein Jahr lang genutzt, und wenn ich im darauffolgenden Jahr neue Buchprämien mit nach Hause brachte, wurden sie gegen die alten ausgetauscht.

Gelesen wurde bei uns zu Hause nicht. Es gab in meinem Elternhaus Reste aus der Bibliothek meines Onkels, der im Krieg gefallen war. Er war ein überzeugter Nazi, der in unserem Dorf eine schreckliche Rolle gespielt hat, nicht nur, weil er Menschen denunzierte, die nicht in den Krieg ziehen wollten. Er glaubte, weil er studiert hatte, den großen Dorfideologen geben zu müssen, und kam sich selbst wie ein Führer vor, wie der Führer des Dorfes. Dieser Onkel besaß eine große Bibliothek, die meine Großmutter großteils im Backofen verbrannte, als die Russen kamen. Als einfacher Mensch wusste sie nicht, welche Bücher möglicherweise gefährlich sein konnten. Sie war ganz allein, hatte Angst. Mein Großvater war in dieser Zeit als Angehöriger der sogenannten ausbeutenden Klasse in ein Lager in der Dobrudscha deportiert, meine Mutter in Russland im Arbeitslager. Meine Großmutter ließ nur einige wenige Bücher übrig, die dick und schwer waren, in Leinen gebunden und mit Goldlettern versehen: ein Lexikon, das ihr unverfänglich schien, eine deutsche Lebensschule mit Nazipropaganda über Gesundheit und Körperkultur und ein großes medizinisches Buch, in dem man sich Organe ansehen konnte. Dieses Buch habe ich als Kind geliebt. Aber sonst hatten wir keine. Es gab eine Dorfbibliothek, aber dort befanden sich auch keine anderen Bücher als die, die ich in der Schule geschenkt bekam. Meine Großmutter hat hier und da mal Märchen erzählt, Rotkäppchen zum Beispiel. Über meinem Bett hing ein Bild mit Rotkäppchen. Das war so schlecht gemalt, dass ich von den Steinen dachte, sie seien große Gurken.

Ich habe in einem Ihrer Essays gelesen, dass Sie in der Schule einmal ein Parteigedicht aufsagen mussten, sie dann aber ein Gedicht über eine Schwalbe vortrugen. War das schon eine frühe Form des ›Eigensinns‹, aus dem heraus später Ihre Literatur entstanden ist.

Das war noch im Kindergarten, irgendwann im Winter. Das Gedicht handelt von der Schwalbe als Maurer. Ich kann mich nur noch an die erste Zeile erinnern: Wer war der kleine Maurer? Es ging darum, dass sich die Schwalbe ein Nest aus Schlamm mauert. Weihnachten als christliches Fest war in dieser Zeit offiziell abgeschafft, es gab nur das Frostmännchen, das allerdings erst am 1. Januar kam, die Rumänen hatten es von den Sowjets übernommen. Dann erst gab es auch Tannenbäume, nicht bereits an Weihnachten. Ich sollte an einer Frostmännchen-Feier ein Parteigedicht aufsagen, das meine Mutter von der Kindergartendirektion erhalten hatte. Meine Mutter versuchte vergeblich, es mir einzubläuen. Da ich noch nicht lesen konnte, hat sie es mir wieder und wieder vorgesagt, aber vergeblich. Ich lernte es nicht, jedenfalls nicht so, dass ich es im Kulturheim auf der Bühne hätte vortragen können. Daher sagte ich das Gedicht mit der Schwalbe auf, weil ich mir dachte, wenn ich gar nichts sage, bekomme ich bei der anschließenden Tombola auch keine Weihnachtspäckchen und keinen Neujahrs-Frostmann geschenkt. Das war dann ein Affront, ja, aber was konnte man einem Kind schon vorwerfen?

Ich würde gerne nochmal auf Ihre Lektüren zu sprechen kommen. Wie sind Sie zum Lesen, insbesondere von deutschsprachiger Literatur gekommen?

Zum Lesen bin ich in der Stadt, auf dem Gymnasium gekommen, zuerst anhand von Schulbüchern. Paul Celan zum Beispiel war darin abgedruckt, sein Gedicht »Die Todesfuge«, wenn auch nur teilweise, weil verschwiegen werden musste, dass die Konzentrationslager, in denen Celans Eltern ermordet worden waren, unter rumänischer Leitung gestanden hatten. Das waren natürlich immer die Faschisten gewesen, die hießen in Rumänien stets bloß die Faschisten; mit denen hatte Rumänien offiziell nichts zu tun. Dass Celan Suizid beging, wurde ebenfalls nicht gesagt, das hatte in einem sozialistischen Lehrbuch nichts zu suchen. Die Rumänen haben zwar so getan, als wären sie stets Antifaschisten gewesen, aber das ist falsch: Rumänien war unter Antonescu ein faschistischer Staat und Verbündeter Hitlers.

Ich habe in dieser Zeit auf dem Lyzeum aus Neugier angefangen zu lesen und weil ich dort eine Reihe von jungen Menschen kennenlernte, unter anderem Ernest Wichner und Gerhard Ortinau, die lasen alle. Für uns, die wir alle Deutsch sprachen, war insbesondere das Goethe-Institut in Bukarest wichtig. Rolf Bossert, einer aus unserer Gruppe, lebte in Bukarest und stellte den Kontakt her. Wir fuhren nach Bukarest und liehen uns Bücher im Goethe-Institut aus. Mit der Post hätten wir sie uns nicht schicken lassen können, weil der Geheimdienst die Päckchen gekapert und uns bei den Beschäftigten im Goethe-Institut dann als unzuverlässig verleumdet hätte, um so zu verhindern, dass wir uns weiter Bücher ausleihen können. Das Lesen führte dazu, dass wir uns vom Staat zu distanzieren begannen. Und ’68 hatte an unserer zunehmend kritischen Haltung ebenfalls einen Anteil. Sehr interessiert waren wir an Essays aus dem »Kursbuch«. Die Autoren dieser Zeitschrift mochten in einer Demokratie leben, aber wie wir hatten auch sie Eltern, die Nazis gewesen waren. Darüber war bis dahin dort so wenig geredet worden wie bei uns.

Andere Bücher bekamen wir aus dem Ausland, von Bekannten, die bereits ausgewandert waren, und über »Internationes«. Dafür musste man eine Begründung schreiben, was wir auch taten, das heißt wir erfanden eine. Beispielsweise schrieben wir, dass auf dem Gymnasium ein Aufsatz über dies oder das von uns verlangt wurde und wir dafür bestimmte Bücher benötigen würden. Das funktionierte gut. Wir erhielten Nachschlagewerke, Lexika, aber auch literarische Werke, etwa von Peter Handke. Die Autoren der von uns bestellten Bücher durften nur keine Feinde des Sozialismus sein. Thomas Bernhard war für mich besonders wichtig, weil er in seinen Büchern den alltäglichen Faschismus zum Thema gemacht hat. Ich habe von ihm mehr gelernt als von allen anderen, die ich las. Mir war so, als würde Thomas Bernhard die Gesellschaft beschreiben, in der ich lebte.

Auch ich bin über Thomas Bernhard zur Literatur gekommen, das »Kalkwerk« war eine meiner ersten eigenständigen Lektüren. Aber wir im Westen haben Bernhard wahrscheinlich aufgrund unserer anderen Sozialisation komplett anders gelesen.

Ja, ihr habt die langen Sätze gelesen und seine unglaubliche Intelligenz und seinen Humor, aber auch seine Fähigkeit zu Ironie und Sarkasmus geschätzt. Es ist so wie mit Franz Kafka, über den Imre Kertész gesagt hat: Bei uns in Osteuropa sei Kafka ein Realist gewesen. Wir haben Bernhard und Kafka anders gelesen, wir haben ihn mit der Diktatur im Nacken gelesen und das ist etwas anderes, als wenn du keine Diktatur im Nacken hast. Du gehst, wenn du Bernhard mit den Erfahrungen in einer Diktatur gelesen hast, in eine ganz andere Richtung. Lektüren hängen eben stets vom eigenen Leben ab. So wie in der Polizei jeder etwas anderes sieht. Einer, der aus einer Demokratie kommt, sieht die Polizei unvoreingenommener an als jemand, der ein Leben lang von ihr bedrängt oder misshandelt wurde. Wie verstehen wir eigentlich Bücher? Wir verlängern doch nur etwas, was wir kennen oder wir lernen es kennen, aber wenn wir etwas Neues kennenlernen, geht auch das aus von dem, was wir zuvor erfahren haben. Als ich einmal zu Besuch in Israel war, hörte ich an der Universität in Jerusalem, dass für Israelis zum Beispiel »Der Handschuh« von Schiller oder »Der Erlkönig« von Goethe etwas mit dem Holocaust zu tun haben können. Diese Gedichte werden dort ganz anders wahrgenommen. Diese Lesart ist eben auch möglich, nur sehen Menschen mit anderen Erfahrungen diesen Zusammenhang nicht.

Durch Sie habe ich den österreichischen Autor Theodor Kramer kennengelernt. Sie haben eine Sammlung mit seinen Gedichten herausgegeben. War Ihnen Kramer bereits damals in Rumänien bekannt?

Ich bin in Rumänien in einem Antiquariat auf ein Buch von ihm gestoßen, publiziert in einem Exilverlag. Ein Band mit Gedichten, der »Die Gaunerzinke« hieß. Erst später habe ich erfahren, dass Kramer Jude war, dass er im letzten Moment vor den Nazis fliehen konnte und dass seine Gedichte auch diese Situation und seine Angst in dieser Situation beschreiben. Seine Gedichte waren wie ein Magnet für mich, sie zogen mich vielleicht deshalb so an, weil wir in Rumänien auch Angst hatten. Seine Angst muss noch viel größer und tödlicher gewesen sein als die, die ich erlebte, sicherlich. Dennoch gingen mir seine Gedichte nahe, auch weil ich wusste, mein Vater war in der SS und mein Onkel war ein Nazi und Theodor Kramer, den ich so schätzte, musste fliehen, weil mein Vater und mein Onkel wie viele andere Nazis waren. Wie ich vorhin sagte: Leben und Literatur sind aufeinander bezogen.

Ähnlich erging es mir auch mit Paul Celan. Ich habe mich geniert vor den Texten – und habe sie gleichzeitig so gemocht. Das hat mich verwirrt: Auf eine Weise fühlte ich mich mit Celan seelenverwandt, und gleichzeitig wusste ich, theoretisch hätten ihn mein Vater und mein Onkel umbringen können. Diesem Dilemma war ich ausgesetzt, aber weil ich dieses Dilemma ernst nahm, bin ich ein politischer Mensch geworden. Ich hatte und habe für Theorien nie Zeit gehabt, weil ich immer bedrängt wurde von dem, was war und was sein musste. In dem Sinne habe ich anfänglich auch keine Literatur im eigentlichen Sinn geschrieben, ich wollte mir vielmehr mit dem Schreiben immer selbst helfen. Ich war unglaublich beeindruckt, wenn ich gelesen habe, was andere geschrieben haben, Thomas Bernhard etwa oder Márquez, diese Sätze, diese Schönheit, da war ich völlig fertig. Ich dagegen hatte überhaupt keine Distanz, ich schrieb, weil ich wissen wollte, wie man lebt. Und das hat sich nicht verändert. Wenn ich heute mal wieder Gedichte von Helga M. Novak oder Sarah Kirsch, von Theodor Kramer oder von Rolf Bossert lese, die mir damals in Rumänien viel bedeuteten, die mir in meiner Angst halfen, dann weiß ich auch heute noch, warum sie mir damals wichtig waren, eben weil ich sie so nötig hatte. Angst ist ein guter Literaturkritiker.

 

Es gab in Rumänien ja auch die Kulturinstitute der DDR. Haben Sie von diesen auch Bücher ausleihen können?

Ja, die gab es, aber die waren furchtbar, die haben wir gar nicht erst betreten. Von einem Leiter des DDR-Kulturinstituts wurden wir einmal beim Geheimdienst denunziert, wegen Wolf Biermann. Dieser Mann war dabei, als wir im Adam-Müller-Guttenbrunn-Literaturkreis in Temeswar Biermann-Lieder gehört haben. Seine Anzeige führte zu Hausdurchsuchungen bei uns.

Und haben Sie außer deutschsprachiger Literatur auch Literatur aus anderen Ländern gelesen?

Natürlich lasen wir auch Bücher rumänischer Autoren. Aber oftmals fehlte uns etwas. Wir wollten wissen, wie geriet man in so eine finstere Diktatur, wie konnte ein Land so verelenden, wie kam es zu dem ungeheuren Personenkult um Ceaușescu, wie er seit Stalin nirgends mehr in Osteuropa anzutreffen war. Auf solche Fragen benötigten wir Antworten. Die fanden wir aber weniger bei rumänischen Intellektuellen, als vielmehr bei Autoren aus Ungarn, aus der ČSSR oder aus Polen. Oder wir fanden sie bei Schriftstellern aus mittel- und südamerikanischen Ländern, die ja ebenfalls oft diktatorisch regiert wurden. Rumänien hatte – wahrscheinlich weil das Rumänische auch zu den romanischen Sprachen gehört – eine enge Beziehung zu lateinamerikanischen Schriftstellern. Viele Bücher wurden sehr früh ins Rumänische übersetzt, beispielsweise die von Gabriel García Márquez – den ersten Márquez habe ich auf Rumänisch gelesen. Wir lasen auch kubanische Literatur oder die Bücher von Ernesto Cardenal. Oft wurden aus den Ländern, mit denen es politische oder wirtschaftliche Beziehungen gab, auch Bücher importiert. Mit den Filmen war es genauso. Wir schauten uns unendlich viele sowjetische Filme an, Filme, die hauptsächlich in den asiatischen Regionen der Sowjetunion produziert wurden. Das war eine unglaubliche Kinematografie, und keineswegs nur sozialistische Auftragskunst. Diese unglaublich schönen kleinen, feinen Kunstgeschichten kamen ebenso in die Kinos wie die offiziellen, indoktrinierenden blöden Staatsschinken.

Wo haben Sie sich denn über Literatur ausgetauscht? Einerseits gab es ja diesen offiziellen Adam-Müller-Guttenbrunn-Kreis, den Sie eben erwähnt haben, andererseits und jenseits dessen haben Sie sicherlich auch an anderen Orten diskutiert.

Der Adam-Müller-Guttenbrunn-Kreis war konventionell und konservativ. Dort trafen sich alte Menschen, darunter auch solche, die früher Nazi-Gedichte geschrieben hatten und jetzt stalinistische Gedichte verfassten. Ja, wir sind in diesen Literaturkreis gegangen, haben uns dort eingemischt, vielleicht kann man auch sagen, wir haben den Laden aufgemischt.

»Wir« heißt: die »Aktionsgruppe Banat«?

Auch, aber ich gehörte ja nicht zur Aktionsgruppe. Ich schrieb einmal für den Literaturkreis einen Text, der hieß »Das schwäbische Bad«, es sollte um Heimat gehen. Na gut, ich geb’s euch, habe ich mir gedacht. Wenn ihr Heimat wollt, dann bekommt ihr sie, aber so, wie ich sie sehe. Die Aufregung war groß. Aber ich war nicht die Einzige, die diese alten Menschen herausforderte. Andere haben genauso dafür gesorgt, dass die alteingesessenen Mitglieder sich übergangen und überfordert fühlten. Wir wurden natürlich auch denunziert und dann kamen die Hausdurchsuchungen, der Arrest und alles.

Und außerhalb dieses Literaturkreises?

Alle in meinem Freundeskreis haben schon sehr früh angefangen zu schreiben, auf dem Gymnasium schon, Gedichte vor allem. Wir schrieben, wir tauschten uns aus, wir diskutierten über das, was wir gelesen hatten. Aber wir teilten auch dieselben Anschauungen, wir hassten diesen Staat und diese Unterdrückung, dieses Maulhaltenmüssen, und wir teilten auch die Angst. In unserer Gruppe waren wir zu Hause, nur dort wurde offen über die unmöglichen Zustände gesprochen. Das hat uns zusammengeschweißt. Und auch, nachdem unsere Gruppe verboten worden war, blieben wir Freunde. Selbst dann, als wir nach dem Studium über das ganze Land verteilt wurden. In Rumänien war es eine allgemeine Pflicht, dass man drei Jahre nach dem Studium irgendwo in dem Beruf arbeitete, auf den hin man studiert hatte. Wo das war, entschied der Staat. Das war die beste Gelegenheit, uns so weit auseinander zu bringen, dass wir uns nur noch sehr selten sehen konnten. Ich musste in die Moldau, eine Gegend ganz im Osten, an der Grenze zu Moldawien, andere mussten im Süden arbeiten. Aber selbst in der Zeit verloren wir den Kontakt nicht. Das waren enge Freundschaften, fast als wäre man Geschwister, daran konnte die Geheimpolizei nichts ändern.

Haben sich Ihre Lektüren dann gravierend verändert, als Sie 1987 nach Deutschland gekommen sind?

Eigentlich nicht, mich hat nach meiner Ausreise nach wie vor das Thema Diktatur interessiert, nicht nur die in Rumänien, sondern auch in anderen Ländern. Was sich aber in Deutschland änderte: Ich konnte schreiben, was ich wollte, ich musste nichts mehr verstecken. Ich konnte einfach in eine Buchhandlung oder in eine Bibliothek gehen, um mir ein Buch zu besorgen. Also sind ganz andere Beziehungen zu Menschen, zu Büchern, möglich geworden und natürlich dann auch neue ästhetische Erfahrungen. Ich hatte nun auch den Wunsch nach Lektüre jenseits des notwendigen Verstehens des Lebens. Vielleicht hätte ich manches Buch früher in Rumänien nicht gelesen, was ich in Deutschland las, zum Beispiel die sehr, sehr großartigen Bücher von Per Olov Enquist, die nichts mit Diktatur zu tun haben. Ich halte ihn für einen großartigen Stilisten. Dass solche Lektüren dazu kamen, war vielleicht neu. Ich selbst habe so viel über Diktatur geschrieben oder schreiben müssen, weil ich so kaputt war und weil ich den Kopf bei gar nichts anderem hatte und weil es ja die Diktatur in Rumänien die ersten Jahre, in denen ich in Deutschland lebte, immer noch gab. Es tut weh, wenn man grauenhafte Verhältnisse selbst erlebt hat und weiß, dass andere sie immer noch erleben, und man kann eigentlich nichts für sie tun, außer man spricht und schreibt darüber. Ich fand, das sei das Mindeste, was ich tun könnte, aber selbst wenn ich diesen Grund nicht gehabt hätte, ich hätte so oder so über nichts anderes schreiben können.

Über Theodor Kramer, Bernhard oder auch Márquez haben wir gesprochen. Sind denn aus der Gegenwartsliteratur noch Bücher dazugekommen, denen Sie einen ähnlichen Stellenwert wie den Büchern der Genannten zusprechen würden?

Ja, immer wieder. Ich habe gerade »Auf Erden sind wir kurz grandios« von Ocean Vuong gelesen. Ich könnte das ganze Buch abschreiben, es ist so grandios. Als Leserin bin ich total ungeschützt. Ich lese ganz langsam und wenig und bemühe mich darum, dass das Buch noch eine Weile hält. Aber mit anderen Büchern bin ich ungeduldig, Bücher, in denen ich nichts finde. Weil ich als Leserin so ungeschützt bin, lasse ich mich auch nicht vereinnahmen. Wenn ich an einem Buch nichts finde, zwanzig, dreißig Seiten lang, dann sage ich, ist gut, ist nicht für mich, ist nicht meine Sache.