SOKO Marburg-Biedenkopf

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SOKO Marburg-Biedenkopf
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Christina Bacher (Hg.)

SOKO Marburg-Biedenkopf

Christina Bacher (Hg.)

SOKO Marburg-Biedenkopf

Kriminelle Kurzgeschichten

zwischen Lahn und Ohm


Originalausgabe

© 2016 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

www.kbv-verlag.de E-Mail: info@kbv-verlag.de Telefon: 0 65 93 - 998 96-0 Fax: 0 65 93 - 998 96-20 Umschlaggestaltung: Ralf Kramp unter Verwendung von: © Max Baumhögger, © Sossi – www.fotolia.de Print-ISBN 978-3-95441-293-8 E-Book-eISBN 978-3-95441-307-2

Inhalt
VORWORT
DANIEL TWARDOWSKI: Ein Bild von Motiv

Marburger Sommerakademie

CHRISTIANE DIECKERHOFF: Frau Loths Traum

Oberhessische Presse

PETER GODAZGAR: Die Kofferträger von Amöneburg

Amöneburg

JÜRGEN HÖVELMANN: Blutmondnacht

Freilichtmuseum Zeiteninsel

RALF KRAMP: Kopflos in Biedenkopf

Biedenkopf

TATJANA KRUSE: Wenn’s in der Salzgrotte summt ...

Lahn-Dill-Bergland-Therme, Bad Endbach

ROLAND SPRANGER: Tango

Dance World, Wallau

KATHRIN LANGE: Strafe

KFZ, Roter Stern

ANNE GRIEßER: Die Seherin von Rauschenberg

Rauschenberg

KATHRIN HEINRICHS: B-Block

Schreinerei Bruder, Wenkbach

CHRISTIANE GELDMACHER: Der Ruf Gottes

Agentur für Arbeit, Marburg

WOLFGANG POLIFKA: Die Verhandlung

Schloss Rauischholzhausen

RICHARD BIRKEFELD: Play Piscator

Kulturamt Marburg

SABINE TRINKAUS: Frühschwimmen

AquaMar, Marburg

CLAUDIA ROSSBACHER: Für immer und ewig

Marburger Hof

HORST PROSCH: Dem Himmel so nah

Tanzschule Henseling, Marburg

ELKE PISTOR: Der Mittwochabend-Klub

Neustadt

NADINE BURANASEDA: A schießt auf B und trifft C

Burgwald

BEATE MAXIAN: Die Bibliothek

INOSOFT, Marburg

REGINA SCHLEHECK: Schöne Zeit und Nudelsalat

pro familia, Marburg

CHRISTINA BACHER: Blindlings in den Tod

Deutsche Blindenstudienanstalt

KLAUS-J. FRAHM: Der Schatz des Lutheraners

Niedereisenhausen

SUNIL MANN: Donna Donna

ehemalige Synagoge Wetter

ALMUTH HEUNER: Im Geheimdienst Ihrer Sparkasse

Sparkasse Marburg-Biedenkopf

ANGELA EßER: Welcome in Hessen

WELCOME HOTEL, Marburg

ROGER M. FIEDLER: Falsches Ende unter Pseudonym

SPD-Geschäftsstelle, Marburg

DANKSAGUNG

Vorwort

Liebe Leserinnen und Leser,

vor wenigen Monaten wurde im Botanischen Garten auf den Lahnbergen ein menschlicher Fuß im Gehölz gefunden. Die gesicherte DNA-Spur passt zu einem seit knapp zwei Jahren vermissten Mann, dessen auto all die zeit unbemerkt im nahen Parkhaus parkte. Die Ermittlungen laufen noch, eher schleppend. Als Krimiautorin schaue ich bei so einer zeitungsmeldung zwei Mal hin. zumal sich der Landkreis Marburg-Biedenkopf nicht unbedingt durch eine besonders hohe Kriminalitätsrate und bestimmt nicht durch überdurchschnittlich viele Leichenfunde auszeichnet. Passt denn Mord und Totschlag überhaupt in diese beschauliche Gegend? Denkt man an Marburg, Bad Endbach oder Rauschenberg, denkt man an Fachwerkidyll und Kopfsteinpflaster, an Schlösser und Kasematten. Um dieser Region kriminelle Abgründe anzudichten, braucht man also nicht nur ein gutes Handwerk, sondern auch eine rege Phantasie. Umso schöner, dass es uns gelungen ist, 26 Autorinnen und Autoren zu verpflichten, die sich dieser Aufgabe gestellt haben: Darunter sind zahlreiche Preisträger und Nominierte des renommierten Friedrich-Glauser-Preises aus den letzten Jahren sowie Kollegen, die sich durch besonderes Engagement in der Autorenvereinigung SYNDIKAT hervorgetan haben. Geschrieben haben zudem einige Lokalmatadoren, die den Landkreis Marburg-Biedenkopf wie ihre westentasche kennen. Beim Lesen wird schnell eines deutlich: Gerade dieses Spannungsverhältnis ist es, das den Landkreis Marburg-Biedenkopf zum perfekten Setting für einen Krimi werden lässt: warum sollte es in einer Idylle nicht auch menschliche Abgründe geben? Eben! Auf der einen Seite also die Touristen, die sich im Sommer auf der Suche nach dem besten Fotomotiv tummeln. Und auf der anderen Seite – gleicher Ort, gleiche zeit – das tote Mädchen, das in der Nähe des Flüchtlingsheims aus der Lahn gefischt wird. Oder das Treffen eines international gesuchten Verbrecherpärchens im malerischen wallau, weil man dort ganz sicher nicht gesucht wird. Das ist doch das Schöne an diesem Genre: Die soziale Realität gerät nicht aus dem Fokus. Und wenn es sein muss, darf politisch Stellung bezogen werden – ohne den zeigefinger zu erheben. Eigentlich unnötig zu sagen, dass Figuren, die eine Ähnlichkeit mit lebenden und bereits verstorbenen Personen des öffentlichen Lebens aufweisen, rein zufällig sind, nicht wahr?

Ich wage zu behaupten, dass sich der Blick der geneigten Leserschaft auf den Landkreis Marburg-Biedenkopf nach Lektüre dieses Buches maßgeblich ändern wird. aber das ist beabsichtigt – oder sogar ausdrücklich gewollt. Lassen Sie mich einen Rat vorausschicken: ziehen Sie sich in zukunft warm an, denn selbst durch die wärmste Stube zieht manchmal ein eiskalter Hauch ...

Spannende Lektüre,

Christina Bacher

Ein Bild von Motiv

SKIZZIERT VON DANIEL TWARDOWSKI

Die Tat musste bei Nacht geschehen sein und der Täter konnte nur von auswärts kommen. Kein Marburger hätte eine Leiche von der Schützenpfuhlbrücke in die Lahn geworfen, wo der Fluss so seicht war, dass im Hochsommer sogar die Fußbälle hängen blieben, die gelegentlich von den Lahnwiesen aus hineingekickt wurden. Bei Tag hätte man das gesehen und ein Einheimischer hätte es gewusst. Keinen Kilometer weiter bot zudem die Brücke an der Südspange aussichtsreichere Möglichkeiten, etwas verschwinden zu lassen. Eine so fahrlässig entsorgte Leiche sprach also weder für einen geübten Täter noch für eine professionelle Tat. Das war aber auch schon alles, was man wusste, denn der Tote hatte keine Papiere bei sich und sein Kopf sah übel aus. So übel, dass zeitweise sogar Zweifel daran aufkamen, ob es überhaupt um Mord ging. Es ließ sich nämlich nicht entscheiden, ob sein Schädel eingeschlagen wurde, oder ob der Mann vielleicht freiwillig von der Brücke gesprungen war und dabei überrascht festgestellt hatte, dass die Wassertiefe an dieser Stelle keine dreißig Zentimeter betrug. Nur der Gedanke, dass das eine reichlich blöde Art gewesen wäre sich umzubringen, wo doch nur dreißig Meter weiter – unter dem Fußgänger-Steg zum Südbahnhof – stündlich die ICs durchrauschten, führte zum Fortgang der Ermittlungen. Und natürlich die Tatsache, dass sich an den Kleidern und unter den Fingernägeln des Toten Blutreste befanden; oder jedenfalls hatte die Polizei das zunächst angenommen. Wer beruflich viel mit hingeschlachteten Zeitgenossen zu tun hat, geht ja erst mal nicht davon aus, dass rote Rückstände an einer Leiche auch ganz einfach Farbe sein können.

 

»Meinert«, sagte Kommissaranwärterin Judith Meinert, als das Telefon im Büro der Marburger Sommerakademie endlich nicht mehr besetzt war. »Kripo Marburg. Ich ermittle in einem Mordfall und hab eine etwas blöde Frage: Ist vielleicht einer Ihrer … Ihrer Künstler abgängig?« Der Schreck durchfuhr Britta Sprengel so kalt, als hätte sie einen Eiswürfel verschluckt, was man leicht nachvollziehen kann. Wenn man drei Wochen lang dafür verantwortlich ist, dass rund dreihundert Maler, Zeichner, Tänzer, Schauspieler, Holz- und Steinbildhauer, mit einem Wort: dreihundert chronisch vertrullerte Menschen wohnen, essen, arbeiten und zwischen diesen drei Stationen nach Möglichkeit nicht verloren gehen, irritiert einen einfach jeder Anruf von der Mordkommission. Außerdem werden in Kunstkursen zwar gelegentlich Leute zum Teufel gewünscht, aber nur sehr sporadisch wirklich umgebracht, sodass ein Mord in der fast vierzigjährigen Geschichte der Sommerakademie tatsächlich etwas Neues war. So neu, dass man das Problem im Büro nicht binnen anderthalb Stunden in den Griff gekriegt hätte, war es aber dann auch wieder nicht. Solange dauerte es, bis Britta Sprengel nach viel Telefonie und ein paar kurzen Fahrradtouren in die Außenbezirke der Sommerakademie in der Schule am Schwanhof eine kurze Vermisstenliste erstellt und an die Kripo weitergeleitet hatte. Nur die Landschaftsmaler, sagte sie der Kommissaranwärterin Meinert, wären naturgemäß noch in Feld und Flur verstreut, die würden erst zum Mittagessen hoffentlich vollzählig wieder auftauchen – was dann auch genau so geschah. Zwei der insgesamt drei Vermissten oder jedenfalls Unerreichbaren fanden sich schon im Laufe des Nachmittags wieder ein. Eine Textilkünstlerin hatte ihren Stoff zwecks künstlicher Alterung in einem Komposthaufen vergraben und damit einen so durchschlagenden Erfolg erzielt, dass sie den halben Tag unter der Dusche gestanden und ihr Handy nicht gehört hatte. Eine Druckgraphikerin hatte in Marburg, nun ja, eine Herrenbekanntschaft gemacht und aushäusig genächtigt, gefrühstückt und auch noch ein wenig genachmittagt. Verschwunden blieb nur ein gewisser Horst Weigand, der schon gestern nicht mehr in Martin Seidemanns »Malerei/Zeichnen – Akt« erschienen war. Und weil er vom Alter her der Leiche nahekam und weil der Aktkurs in der Turnhalle der Schule am Schwanhof stattfand, also durch wenig mehr als fünfzig Meter Teichwiesengraben vom Fundort der Leiche getrennt war, lohnte es sich, diese Spur intensiver zu verfolgen. Jedenfalls legte Judith Meinert das ihrem Chef, dem Hauptkommissar Dieter Lang, nach einem halben Tag Ermittlungsarbeit in Augenhöhe nahe.

In der kleinen Turnhalle stand neben der Sommerhitze ein so fühlbarer Geruch von Acrylfarben, Fixierspray und kreativer Menschheit, dass jeder Polizeihund die Fährte verloren hätte. Wenn ich mal schnell fünf Kilo Koks irgendwo verstecken müsste, dachte Hauptkommissar Lang, wüsste ich jetzt jedenfalls wo! Dann stutzte er kurz, abgelenkt vor allem von der völlig nackten jungen Frau, die in der Mitte des Raumes auf einem lederüberzogenen Turnkastendingsda saß. Er hatte natürlich gelegentlich in Etablissements zu tun, in denen die Damen ebenfalls à poil waren. Aber da stiegen sie vorher sehr langwierig aus ihrer schon vom Start weg dürftigen Bekleidung, schwülstige Musik erklang und Scheinwerfer kreisten wie wild, um aus der Nacktheit eine geldwerte Leistung zu machen. Hier genügte offenbar das bloße Sosein, und das Einzige, was kreiste, waren die Pinsel auf den Paletten und die Blicke auf der Haut. Schon das vernehmliche Räuspern des Kommissars zog aber dann die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich.

»Guten Tag, mein Name ist Lang.«

»Das macht nichts, wir haben Zeit!« Wer diese Antwort hinter einer der zwei Dutzend Staffeleien herausgehauen hatte, die dem eher breit als groß geratenen Kommissar die Sicht versperrten, ließ sich nicht feststellen. Das Lachen lief jedenfalls durch den ganzen Raum und vermittelte fast den Eindruck einer Jugendfreizeit – der in reizvollem Kontrast zu den vielen angegrauten Köpfen stand, die dabei nach und nach hinter den Staffeleien auftauchten. Der dramatische Anlass dämpfte die heitere Stimmung allerdings zuverlässig, denn anhand ihrer Kleidung wurde die Leiche auf den Fotos des Kommissars tatsächlich schnell als Horst Weigand identifiziert. Lang hatte es sich bereits gedacht, als die Künstler sich nach und nach um ihn versammelten, denn er konnte sich nicht erinnern, je zuvor so viele so erwachsene Menschen in derart abenteuerlichen Beinkleidern gesehen zu haben: die Mode der frühen 90er, ergänzt durch die Farbigkeit zweier Jahrzehnte hartnäckiger Kunstproduktion. Wenn ihre Bilder nichts werden, dachte der Kommissar spontan, könnten die auch einfach ihre Malklamotten ausstellen. Dann ließ er sich den Platz des Toten zeigen, seine Farben, Pinsel, Paletten, fertigen und halb fertigen Bilder. Aber weil er bekennender Banause war, bedeutete ihm all das weniger als die Information, dass der Verblichene die erste Woche der Marburger Sommerakademie und damit seine letzten Tage bzw. Nächte auf Erden in einem Wohnmobil auf dem Parkplatz vor dem Gassmann-Stadion verbracht hatte.

Die Spurensicherung konnte leider nicht feststellen, ob nun irgendjemand das Wohnmobil gründlich durchwühlt hatte, oder ob Horst Weigand einfach nur ungewöhnlich kreativ gewesen war. Anzeichen für einen Kampf waren jedenfalls genauso wenig zu entdecken, wie irgendwelche Indizien, die auf einen Verdächtigen oder wenigstens auf ein Motiv hingewiesen hätten. Kommissar Lang tappte also in jeder Hinsicht in der gleichen Dunkelheit, in der die weitläufigen Sportstätten und Schulhöfe in diesem Teil der Stadt bei Nacht lagen. Nur, dass Weigand tatsächlich ermordet worden war, stand nach der Obduktion fest, denn unter der Achsel des Toten fanden sich die Abdrücke eines Elektroschockers. Das hieß, dass er vermutlich von hinten angegriffen worden war, denn von vorn lässt man Mitmenschen, die ein solches Gerät in der Hand halten, gemeinhin nicht so nahe an sich heran. Aber wo das geschehen und demnach der Tatort war, blieb unklar, auch nachdem man den weiteren Umkreis des Wohnmobils gründlich abgesucht hatte. Das hier war nämlich bei Nacht eine zwar finstere, aber eigentlich ruhige Gegend, und Dealer, Diebe und andere lichtscheue Zeitgenossen hätten sie erst mal finden müssen. Gut, auf den zahlreichen Bänken, Mauern und manchmal sogar auf der Haupttribüne des Gassmann-Stadions betranken sich gelegentlich Jugendliche, die das eigentlich noch nicht durften. Durch eine kurze Internetrecherche wusste Kommissar Lang auch bald, dass es bei den pubertierenden Schülern der umliegenden Bildungsanstalten zeitweise eine Art nächtlicher Mutprobe gewesen war, im Mittelkreis des Stadions dem Drängen der körperlichen Liebe nachzugeben – allein, zu zweit, in der Gruppe, je nach Möglichkeit, Wagemut und Alkoholkonsum. Bei Facebook waren vor zwei Jahren entsprechende Fotos aufgetaucht und hatten für einen Skandal im mittleren Bereich der städtischen Aufregungsskala gesorgt. Aber die letzten Nächte waren eigentlich zu kalt für Wiederholungstäter und zu dunkel für Aktzeichner oder andere mögliche Zuschauer gewesen. Nein, wenn man Weigand als Zufallsopfer betrachtete, konnte es sonst wer gewesen sein, und sonst wer ließ sich kriminaltechnisch immer so sauschwer ermitteln. Man musste notgedrungen nach einem Motiv suchen und es gab nur einen Ort, wo man sinnvollerweise damit anfangen konnte. Einen Ermittler inkognito als kunstbeflissen in einen Malkurs einzuschleusen, hätte aber zum einen ein entsprechendes Talent erfordert, von dem Kommissar Lang bei keinem seiner Kollegen ausging. Andererseits wäre es bei der hohen Kursauslastung der Sommerakademie mit ihren kilometerlangen Wartelisten technisch anspruchvoll geworden. Ein so prompt auftauchendes neues Gesicht würde jeden Täter wohl auch äußerst misstrauisch machen und sehr viele andere Möglichkeiten, sich unauffällig in »Malerei/Zeichnen – Akt« einzuschleichen gab es nicht. Also sagte Kommissar Lang schließlich mit etwas verkniffenem Grinsen: »Meinert, Sie machen doch FKK!?«

Schon nach einer Stunde war ihr Hintern so kalt, sie hätte ihn auf Cocktailpartys als Erfrischung reichen können. Judith Meinert merkte das aber erst, als sie sich selbst kurz berührte, denn im Kopf war ihr so warm, dass sie Angst hatte, sie wäre knallrot angelaufen. Sie machte eigentlich kein FKK, wenn man mal von ein paar lebensfrohen Sprüngen in die Ostsee absah, die sie im ersten Zelturlaub mit ihrem ersten Freund nach der ersten gemeinsamen Nacht vollführt hatte. Aber dabei hatte sie gottlob niemand beobachtet und inzwischen waren Urlaub, Freund, Nacht und Nacktheit im Morgennebel glücklich verjährt. Also sagte sie einfach nur »Nein«, als Kommissar Lang seine seltsame Frage gestellt hatte.

»Aber Sie kommen doch aus dem Osten …«, war die Erwiderung gewesen.

»Wir sagen: Mitteldeutschland, Chef«, hatte sie gesagt. »Ich bin Jahrgang 91!«

»Also jung und schön!« hatte er geantwortet, was man einerseits vielleicht als sexistischen übergriff hätte werten können, was aber andererseits kaum eine Frau rundheraus abstreiten würde. Zumal ihr sein Plan, inkognito Informationen über Horst Weigand und sein letztes soziales Umfeld zu sammeln, aus ermittlungstaktischen Gründen durchaus einleuchtete. Nach einigen einsamen Gläsern Wein und deutlich mehr langen, selbstkritischen Blicken in ihren Schlafzimmerspiegel hatte sie schließlich am nächsten Morgen zugesagt – und stand mit diskreter Unterstützung des Akademiebüros schon am Nachmittag zum ersten Mal nackt vor einem gewissermaßen zahlenden Publikum. Und obwohl sie sich immer wieder zwang, ganz Auge und Ohr zu sein, war sie dabei am Anfang doch vor allem Knie, Bauch, Brüste, Hüften, Hinterbacken, Schultern, Hände, Ellenbogen, mit einem Wort: nervös. Denn während sie sich gestern Abend vor dem Spiegel irgendwann ganz passabel gefunden hatte, kam sie sich hier wie eine schlecht zusammengesetzte Marionette vor. Besonders, weil Kursleiter Seidemann, der hinter den Staffeleien seine Korrekturrunden drehte, immer wieder Sachen sagte wie: »Da am Knie kommt noch eine ganz starke Form raus!« Irritiert sah Judith an sich hinunter und dachte: ›Um Himmels Willen, was kommt denn da für eine Form raus?!‹ Kryptisch blieb zunächst auch die Äußerung: »Das linke Bein ist eins der Schwierigsten!« Dabei fiel ihr aber schmerzhaft auf, dass sie ja seit einer halben Stunde auf dem rechten stand, ihr Spielbein also als weniger gewichtsbelastet eine malerische Herausforderung darstellte. ›Stimmt‹, dachte sie da, ›wie macht man das eigentlich?‹ Sich selbst in dieser Weise als technisch-künstlerisches Problem betrachtend, kam Judith sich eine Weile etwas weniger nackt vor. Bis die Fliege sie entdeckte. Sie dachte jedenfalls, dass es eine Fliege war, die sich unter ihre rechte Achsel gesetzt hatte und nun so gemächlich wie ein Rentner, der den Tag vor sich hat, Richtung Hüfte und Pobacke spazierte. Ein hartnäckiges Biest! Judith hatte mehrfach mit dem Schulterblatt gezuckt, die Fliege damit aber lediglich zu einer etwas schnelleren Gangart veranlasst. Das brachte sie immerhin irgendwann in Schlagweite und – Klatsch! – schlug die Kommissaranwärterin sich plötzlich auf den eigenen Schenkel, traf und zerschmetterte aber nur einen dicken Schweißtropfen. Und noch während sie überrascht registrierte, wie kalt ihre Haut war, wurde sie fürchterlich rot und dachte: ›Oh Mann, ich steh hier nicht nur mit nacktem Arsch, ich schwitze auch noch wie ein Schwein!‹ Judith Meinert schwor sich in diesem Moment, das Motiv des Mörders um jeden Preis zu finden und flüchtete sich in der Pause dankbar in ihren Bademantel.

Währenddessen zeitigten auch die weniger körperintensiven Ermittlungen immer mehr Resultate. Anwohnern des Teichwiesengrabens waren in der Mordnacht zwei Betrunkene unangenehm aufgefallen, weil sie »Einmal noch nach Bombay« gesungen hatten. Zwei Zeugen hatten sie lediglich gehört, aber eine Medizinstudentin, die wegen irgendeiner letztmaligen Gottesurteil-Wiederholungsprüfung eine Nachtschicht fuhr, hatte sie tatsächlich auch gesehen: zwei schwankende Männer, unterwegs Richtung Gisselberger Straße. Aber gesungen habe nur der, der den anderen stützen musste. Aufgrund ihrer von der Prüfungsvorbereitung zweifellos überreizten Sinne erkannte sie auf den Fotos sogar Horst Weigand als den nichtsingenden Part des Duos wieder. In dessen Leiche hatte ein sportlich herausgeforderter Gerichtsmediziner inzwischen absurd hohe Mengen Blei, Kupfer und sogar Arsen nachgewiesen, eine akute Vergiftung allerdings ausgeschlossen. Weigand musste das Zeug über Jahre hinweg aufgenommen haben, aber niemand konnte erklären, wie und warum. Niemand wusste auch, wie er seine kleine aber geschmackvolle Villa in Oberursel finanziert oder wovon der Mann überhaupt gelebt hatte. Angehörige, die diese Fragen hätten klären können, gab es nicht. Die Nachbarn redeten vage von einer Erbschaft und einem offenbar bevorstehenden Umzug. Mehrfach habe Weigand in letzter Zeit Kisten und sperrige Pakete aus dem Haus geschleppt und in sein Wohnmobil geladen. Dort hatte Kommissar Lang allerdings nichts gefunden, was auf diese Beschreibung passte. Er ging deshalb versuchsweise davon aus, dass seine Leiche noch irgendeine andere Wohnung besessen hatte. Am besten in der Nähe einer Chemiefabrik, dann ließen sich auch die giftigen Rückstände in seinem Körper erklären, dachte er missmutig. Lang war ein bisschen sauer auf sich selbst, denn die meisten dieser Ermittlungsarbeiten waren in den letzten vier Tagen an ihm hängen geblieben, während Kommissaranwärterin Meinert sich malen ließ. Und wenn sie nicht bald ein Motiv fand, wusste er auch nicht mehr weiter.

 

Judith war inzwischen selbst ein begehrtes Motiv geworden. Sie wurde sogar von den Kursteilnehmern privat gebucht, also abends und am Wochenende eingeladen, wenn in der Turnhalle kursunabhängig gemalt wurde. Obwohl sie es sich nicht gern eingestand, hatte das ihrer weiblichen Eitelkeit geschmeichelt, denn natürlich wusste sie nicht, dass jedes neue Aktmodell dazu eingeladen wurde. In der Sommerakademie gab es nämlich auch – vorwiegend männliche – Modelle, die man euphemistisch als Veteranen bezeichnen könnte. Alte Säcke, die schon seit zehn, zwanzig Jahren dabei waren und eigentlich nur noch gemalt wurden, um den Alterungsprozess bildlich festzuhalten. Von dieser Art Gnadenbrot war Judith noch weit entfernt – und als Modell doch bereits professioneller geworden: Nie die Arme heben, wenn es sich vermeiden lässt. Das Gewicht auf so viele Punkte wie möglich verteilen, also lieber sitzen als stehen und lieber liegen als sitzen. Und so selten wie möglich den Körper verdrehen, wie z. B. der bedauernswerte Diskuswerfer des Myron oder die Aphrodite Kallipygos. Denn der Körper hatte dann die natürliche Neigung, sich zurückzudrehen und entwickelte dabei eine völlig unbewusste Kraft, gegen die man die ganze Zeit anarbeiten musste und die einen mörderischen Muskelkater verursachte. Die meisten der künstlerischen Ergebnisse vergrößerten übrigens Judiths Ego als schöne Frau, und ein paar fand sie sogar ziemlich sexy, obwohl erotische Posen weitgehend verpönt waren. Sie zog jetzt manchmal auch in den Pausen keinen Bademantel mehr an, und zwar weil sie sich unbekleidet paradoxerweise weniger nackt vorkam. Genau genommen fühlte sie sich nur zweimal wirklich nackt: wenn sie sich auszog und wenn sie sich wieder anzog. Dazwischen kam ihr Zustand ihr inzwischen so normal vor, dass sie einmal, als ein paar der gelegentlich auftauchenden ›Werkstattbesucher‹ durch die Turnhalle schlenderten und scheue Blicke auf das Modell warfen, im ersten Moment dachte: ›Was gucken die denn so?‹ Die Ergebnisse waren es auch, die ihr schließlich den ersten Baustein für ihre Motivsuche lieferten. Denn als sie wieder einmal nackt neben all den wild gewandeten Künstlern einer von Martin Seidemanns Bildbesprechungen folgte, fragte sie sich, was so ein Bild wohl kosten würde. Sie hatte nämlich eins im Auge, auf dem sie sich peinlicherweise besonders gut gefiel.

»800«, sagte die Künstlerin, als Judith sie wenig später leise nach dem Preis fragte. »600 weil du es bist!« Und nur, weil ihrem Modell kurz der Unterkiefer herunterklappte, fügte sie selbstbewusst hinzu: »Wenn ich ›Otto Mueller‹ drunter schreibe, kann ich noch mindestens drei Nullen dranhängen!«

So etwas wie Streit gab es eigentlich nur bei den Positionswechseln. »Jetzt hab ich ja schon wieder den Rücken! Immer hab ich den Rücken. Ich will nicht drei Wochen lang nur Rücken malen. Wenn ich die ausstelle, denken alle, ich bin Pofetischistin! Dreh dich doch mal.« »Moment, jetzt hab ich aber schon angefangen!« »Ich will aber auch mal von vorne! Martin?« »Ihr könnt doch auch einfach mal euren Platz wechseln«, schlug der Kursleiter immer wieder fast schüchtern vor und löste damit gelegentlich sogar ein unwilliges Verrücken von Staffeleien, Malerbänkchen und mit Farben und Pinseln absurd voll gepackten Teewägelchen aus. Und kurz darauf die unvermeidliche Klage: »Moment! So geht das aber nicht. Ich will ja Judith malen und nicht dich. Martin?!« Nachteilig wirkte sich bei solchen Diskussionen die Tatsache aus, dass 70 % der Künstler weiblich waren. Und Frauen haben zwar einen leichteren Zugang zur eigenen Kreativität, aber auch eine unterschwellige bis tief gehende Art, Konflikte auszutragen. Außerdem waren gefühlte 80 % von ihnen Lehrerinnen gewesen oder hatten andere Berufe bekleidet, in denen sie gewohnt waren, dass ein Kompromiss etwas ist, bei dem man 90 % von dem bekommt, was man will. Judith drehte sich dann eine Weile wie ein Tanzbär hin und her, um es möglichst vielen recht zu machen, war froh, wenn sie irgendwann eine allgemein gebilligte Position gefunden hatte und ein fröhliches: »Egal wie man sich dreht, der Arsch bleibt immer hinten!« die dicke Luft in Gelächter auflöste. Bei einer solchen Gelegenheit wurde schließlich auch Horst Weigands Platz neu belegt, seine Bilder und Malutensilien in eine Ecke geräumt, bis jemand sie abholen käme – falls sie überhaupt jemand haben wollte. Judith, die dabei mithalf, um Weigands Arbeiten noch einmal aus der Nähe zu sehen, fiel jetzt zum ersten Mal auf, dass diese Bilder dilettantischer waren als die der anderen. Weigand hatte in Martins Kurs offenbar nichts gelernt und das war bemerkenswert. Denn selbst die Leute, denen sie am Anfang am liebsten geraten hätte, es vielleicht mal mit Klavierspielen lernen zu versuchen, hatten sich in den drei Tagen, die sie jetzt da war, deutlich verbessert. Sie beschloss, mit Martin darüber zu sprechen.

»Ja«, sagte der Kursleiter vorsichtig, »über Tote soll man ja nicht schlecht reden.« Er redete auch über Lebende oder gar Anwesende selten schlecht und fand noch an solchen Bildern irgendetwas verbesserungswürdig, die sogar ihre Urheber am liebsten im Wald vergraben hätten. »Der war schon sehr beratungsresistent. Dafür saßen einzelne Striche bemerkenswert gut. Ich hab manchmal gedacht, er will gar nicht besser werden.« Martin Seidemann schüttelte den Kopf. »Aber immer nur auf selbst bespannte Leinwände gemalt. Und die Pinsel vom Feinsten!« Das sah plötzlich auch Judith so, die ja die ganze Zeit Vergleiche mit den übrigen Künstlern anstellen konnte. Für einen so schlechten Maler war Horst Weigand wirklich ungewöhnlich gut ausgerüstet gewesen!

Die Lösung war schließlich ein Witz, der beim routinemäßigen übermalen der weniger gelungenen Bilder gerissen wurde: »Ein reicher Amerikaner kauft in Florenz einen angeblich geklauten Tintoretto. Um ihn durch den Zoll zu schmuggeln, lässt er ihn mit einer Landschaft übermalen. Glücklich zu Hause angekommen, übergibt er das Bild einem Restaurator. Als er von dem vier Wochen lang nichts mehr hört, ruft er ihn irgendwann an: Wie siehts aus? Ja, sagt der Restaurator, die Landschaft ist weg, der Tintoretto auch, darunter war ein Heiliger, und jetzt ist bereits Mussolini zu erkennen. Soll ich noch weiter restaurieren?« Judith Meinert, die schon in den letzten Tagen viel über Malerei gelernt und gelesen hatte, recherchierte noch am gleichen Abend alles über alte Malfarben, was sie finden konnte: Schweinfurter Grün, Pariser Rot, Kremserweiß, Königsgelb. Allesamt giftig. Bleihaltig, kupferhaltig, arsenhaltig. Seit Langem nicht mehr im freien Verkauf, offiziell nur noch für Restaurierungsarbeiten gebräuchlich. Und naturgemäß bei Kunstfälschern sehr gefragt. In dieser Nacht formte sich aus all ihren Informationen allmählich – ein Motiv. Was, wenn Weigand den schlechten Maler nur gespielt hatte? Gab es ein besseres Versteck für einen Meisterfälscher, als einen Sommerakademiekurs? Warum hatte er sich versteckt? Vor wem? Und wo waren seine ›echten‹ Gemälde? Gleich am nächsten Morgen wurden sämtliche Bilder und alles, was man in Weigands Wohnmobil gefunden hatte, noch einmal einer genaueren kriminaltechnischen Untersuchung zugeführt. Und Max Pechsteins seit siebzig Jahren verschollener »Palau-Zyklus« nebst einigen seiner bislang völlig unbekannten Arbeiten unter der doppelten Bespannung der Leinwände natürlich gefunden. Es stellte sich auch schnell heraus, dass eine Sonderkommission der Stuttgarter Polizei einem unbekannten Expressionistenfälscher schon dicht auf der Spur gewesen war. Allerdings hätte die Stuttgarter Polizei ihn wohl kaum umgebracht.

»Meinert«, sagte Hauptkommissar Lang, der sich setzen musste, als er hörte, was so ein Bild im Original kostet, »jetzt wo Sie die Hosen wieder anhaben, suchen Sie doch der Form halber nach einem Kunstexperten in Sachen Pechstein, damit wir erst mal rauskriegen, ob dieses Zeug hier echt oder falsch ist.«

Sie brauchten gar nicht weit zu fahren. Professor Friedemann Schilling wohnte in Frankfurt und war der führende Experte der führenden Auktionshäuser in allen Belangen des Expressionismus. Schon in seiner Doktorarbeit hatte er sich mit Max Pechstein beschäftigt und in den letzten zwanzig Jahren immer wieder Gutachten über entsprechende Gemälde angefertigt. Pechstein war nämlich sowohl bei Kunstsammlern als auch Kunstfälschern außerordentlich beliebt. Schon die Nazis hatten viele seiner Werke als entartete Kunst beschlagnahmt, und die meisten davon waren bei Kriegsende angeblich verbrannt. Es gab also detaillierte Beschreibungen dieser Bilder, manchmal sogar Schwarz-Weiß-Fotografien. Nur die Originale waren verschollen und inzwischen natürlich siebenstellige Summen wert. Die Kommissare hatten die ›Pechsteins‹ an diesem Morgen lieblos auf dem Rücksitz ihres Dienstfahrzeugs gestapelt, denn sie rechneten fest damit, dass der Professor sie als Fälschungen entlarven würde. Womit sie nicht rechneten, war eine Entlarvung ganz anderer Art. Denn der Experte hatte sie zuerst ruhig und sachlich ins Wohnzimmer gebeten und war nur noch einmal verschwunden, um eine Lupe zu holen. Bei der Flucht durch das Fenster seines Arbeitszimmers hatte der Professor aber dann eine für einen Kunsthistoriker mittleren Alters ganz erstaunliche Behändigkeit entwickelt. Und noch während sie ihm hinterherlief, ihren eher breiten als großen Chef bereits abgehängt hatte und trotz ihres Muskelkaters auch den bereits dicht vor dem plötzlichen Herztod stehenden Akademiker schließlich erwischte, wurde Kommissaranwärterin Meinert alles klar: Der Mann hatte Gutachten erstellt, die einen Millionenmehrwert generiert hatten. Was lag näher, als einen Fälscher zu beseitigen, der jederzeit in jedes Museum spazieren und auf irgendeinen Pechstein zeigen konnte, um der Welt mitzuteilen: Das da ist auch von mir! Prozesse. Regressforderungen. Nicht zu vergessen natürlich die gekränkte Eitelkeit der kunsthistorischen Koryphäe! Sie konnte es kaum erwarten, das alles den Teilnehmern von »Malerei/Zeichnen – Akt« zu erzählen, denn immerhin war sie am Wochenende ja noch mal als Modell gebucht. Und bekam diesmal sogar zwei der entstandenen Bilder geschenkt.