Pragmatikerwerb und Kinderliteratur

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Aus der Reihe: Studien zur Pragmatik #4
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Pragmatikerwerb und Kinderliteratur
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Kristin Börjesson / Jörg Meibauer

Pragmatikerwerb und Kinderliteratur

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© 2021 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

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Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de

ISBN 978-3-8233-8446-5 (Print)

ISBN 978-3-8233-0318-3 (ePub)

Inhalt

  Vorwort

 Pragmatikerwerb und Kinderliteratur. Eine Einführung1 Einleitung2 Die Vorlesesituation2.1 Eigenschaften2.2 Der Einfluss des Vorlesens auf den Spracherwerb3 Kinderliteratur als spezifischer Input für den Erwerb pragmatischer Phänomene4 Pragmatik, Didaktik und Schulunterricht5 Kindermedien6 Pragmatische Störungen7 Forschungsfragen8 Die Beiträge in diesem BandLiteraturPrimärliteraturSekundärliteratur

 Implikaturenerwerb und die Interpretation herausfordernder Bilderbücher1 Einleitung2 Die Grice’sche Maxime der Art und Weise3 Fallstudien3.1 Markiertheit auf der Textebene3.2 Markiertheit auf der Bildebene3.3 Markiertheit in Text-Bild-Kombinationen4 Pragmatikerwerb und Kinderliteratur4.1 Der Erwerb der Maximen4.2 Externe Pragmatik, interne Pragmatik und GeschicklichkeitLiteraturPrimärliteraturSekundärliteratur

 Kann Kinderliteratur den Humorerwerb unterstützen?1 Einleitung2 Theoretische Vorüberlegungen2.1 Linguistische Humortheorien2.2 Humorentwicklung2.3 Humor in der Kinderliteraturforschung2.4 Sprachliche Ressourcen literarischen Humors3 Empirische Untersuchung3.1 Textauswahl3.2 Vorgehensweise3.3 Ergebnisse3.4 Diskussion4 Fazit/AusblickLiteraturPrimärliteraturSekundärliteratur

 Kindliche Sensibilität für gattungsspezifische Gestaltungsmittel – Zur Modellfunktion literaler Texte am Beispiel von Nacherzählungen 7-Jähriger1 Einführung2 Erzählen und Erzählerwerb3 Untersuchungsgrundlage4 Exkurs: Lügen und Lügenerwerb5 BefundeÜbernahmen der KontextualisierungshinweiseVariationen der Rede-LügenereignisseAbbrüche und Auslassungen6 SchlussbemerkungenLiteraturAnhang: Vorgelesener Text

  Feinabgestimmte Referenzherstellung in der Eltern-Kind-Kommunikation 1 Einleitung 2 Referenzakte im Spracherwerb 3 Referenzakte beim Vorlesen von Der Prinz mit der Trompete 4 Schluss Literatur

 Vokative als Indikatoren für Redehintergrund? Überlegungen zur Funktion der Vokativverwendung bei der gemeinsamen Rezeption von textlosen Bilderbüchern1 Einleitung2 Der Vokativ: Ein Markierer von Redehintergrund2.1 Erwerb von Redehintergrund2.2 Vokativ und Redehintergrund3 Redehintergründe bei der gemeinsamen Betrachtung textloser Bilderbücher3.1 Vorlesemodell nach Rothstein4 Vokativverwendung in Vorlesegesprächen zu textlosen Bilderbüchern4.1 Beispiel 14.2 Beispiel 24.3 Beispiel 34.4 Zusammenfassung: Vokative als Indikatoren für Redehintergrund?5 Fazit und AusblickLiteraturPrimärliteraturSekundärliteratur

 Pragmatikerwerb und Kinderliteratur in der Grundschule: Mit textlosen Bilderbüchern protoliterale und protoliterare Erzählfähigkeiten fördern1 Einleitung2 Protoliterale Förderung: prä- und paraliterarische sowie quasi-literarische Kommunikationsformen3 Literales und literares Lernen durch das Nacherzählen textloser Bilderbücher4 Literalitäts- und Literaritätsentwicklung mit textlosen Bilderbüchern5 Fallbeispiel: Freies Erzählen vs. Nacherzählung eines textlosen Bilderbuchs6 FazitLiteraturPrimärliteraturSekundärliteratur

 GA::NZ geMÜTlich – Bilderbuchinput und kindliche Geschichtenwiedergaben1 Einleitung2 Lernpotenziale des Bilderbuchs3 Zur Rolle des Bilderbuchinputs für die kindliche Wiedergabe von Geschichten3.1 Pretend Reading3.2 Diktierendes Nacherzählen4 Diskussion5 Zusammenfassung und AusblickLiteraturPrimärliteraturSekundärliteratur

 Pragmatikerwerb und Kinderliteratur aus historischer Perspektive. Dimensionen und Kontexte1 Die historische Dimension der Beziehung von Pragmatikerwerb und Kinderliteratur2 Pragmatikerwerb von Sprichwörtern: „Hilarius“ (1830) von Friedrich Philipp Wilmsen und das Bilderbuch „Deutsche Sprichwörter“ (1833)3 Pragmatische Perspektiven auf Rede und Gespräch in Georg Christian Raffs „Naturgeschichte für Kinder“ (1778)4 Pragmatische Phänomene und kinder- und jugendliterarische Kontexte5 AusblickLiteraturPrimärliteraturSekundärliteratur

  Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

  Register

Vorwort

Wir freuen uns, diesen Sammelband vorlegen zu können, dessen Beiträge aus unterschiedlichen Perspektiven den Zusammenhang von Kinderliteratur, (Vor-)Lesen und Pragmatikerwerb zu erhellen suchen. Als gemeinsamer Ausgangspunkt der verschiedenen Untersuchungen kann die Frage gelten, welchen Einfluss (die Beschäftigung mit) Kinderliteratur auf den Erwerb pragmatischer Fähigkeiten hat. Die Beiträge konzentrieren sich dabei auf je verschiedene Aspekte dieser Fragestellung. Während einige besonders die sprachlichen Eigenschaften kinderliterarischer Texte untersuchen, um daraus deren grundsätzliches Potenzial insbesondere für die Entwicklung pragmatischer Fähigkeiten abzuleiten, interessieren sich andere Beiträge stärker für die jeweiligen Eigenschaften spezifischer Rezeptionssituationen und deren Beitrag zur Entwicklung pragmatischer Fähigkeiten. Eine dritte Perspektive ist die der Deutschdidaktik, die ein besonderes Interesse an Unterrichtsinhalten bzw. Unterrichtssettings hat, mit denen sich sowohl sprachliche als auch literarische Kompetenzen im Deutschunterricht fördern lassen. Die Beiträge dieses Sammelbandes entstammen überwiegend dem gleichnamigen Workshop, der am 27. und 28. September 2018 an der Universität Leipzig stattgefunden hat. Wir danken dem Institut für Pädagogik und Didaktik im Elementar- und Primarbereich, das unser Gastgeber war, vor allem aber der Fritz Thyssen Stiftung, die nicht nur den Workshop großzügig gefördert hat, sondern auch die Publikation dieses Sammelbands. Darüber hinaus bedanken wir uns bei allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern am Workshop für die engagierte Diskussion und die sorgfältige Überarbeitung ihrer Beiträge für diesen Band.

 

Leipzig und Mainz, im Juli 2021 Kristin Börjesson und Jörg Meibauer

Pragmatikerwerb und Kinderliteratur.
Eine Einführung

Kristin Börjesson & Jörg Meibauer

Abstract: In this introduction, the relationship between children’s literature and pragmatic acquisition is examined from a theoretical viewpoint. The main aim of this contribution is to indicate promising areas for research on the nature of this relationship. To this end, the specifically pragmatic features of situations of reading to children are addressed as well as their overall effect on language acquisition. Furthermore, the contribution discusses the idea of children’s literature constituting a specific input for the acquisition of pragmatic phenomena. The relation of (atypical) pragmatic acquisition, didactics and school education with respect to children’s literature is briefly sketched and a proposal is made concerning the types of children’s media that might be considered relevant for research on the relationship between pragmatic acquisition and children’s literature. The contribution ends with a summary of relevant research questions for empirical investigations of this relationship.

Keywords: pragmatic acquisition, reading situations, children’s literature as specific input, external and internal pragmatics

1 Einleitung

Obgleich in der Forschung zum natürlichen Erstspracherwerb zunächst der Grammatikerwerb im Vordergrund stand, ist doch schon früh festgestellt worden, dass auch die Pragmatik erworben werden muss. Eine Zielgröße des Grammatikerwerbs ist sicher der vollständige Satz. Aber diese grammatische Einheit ist immer auf Sprechakte bezogen, so dass ein Kind lernen muss, mit welchen Sätzen man welche Sprechakte ausführen kann oder welche Sätze dafür geeignet sind, einen bestimmten Sprechakt auszuführen. Unter Pragmatikerwerb verstehen wir im Folgenden den Erwerb solcher Fähigkeiten, die notwendig sind, um in einem bestimmten Kontext angemessen kommunizieren zu können (vgl. Zufferey 2015). Dazu gehört die Kenntnis sozialer Aspekte von Kommunikation, wie z. B. die Kommunikation zugrunde liegenden Regeln/Maximen oder die Notwendigkeit, sich als Sprecher an unterschiedliche Adressaten anzupassen. Aber auch kognitive Fähigkeiten, wie z. B. die Fähigkeit, Inferenzen zu ziehen bzw. die Intentionen/den Wissensstand des Gegenübers einschätzen zu können, spielen bei der Interpretation (Rezeption) bzw. angemessenen eigenen Verwendung (Produktion) bestimmter sprachgebrauchsbasierter Phänomene eine wichtige Rolle. Die Sprecher(innen) müssen nicht nur Deixis und Referenz produktiv und rezeptiv beherrschen, sondern auch Präsuppositionen und Implikaturen, Sprechakte, Informations- und Konversationsstruktur (vgl. Finkbeiner 2015, Liedtke/Tuchen 2018). Alle pragmatischen Gegenstände, so kann man vermuten, sind zugleich Gegenstände des pragmatischen Erwerbs. Es müssen jeweils die entsprechenden sozialen bzw. kognitiven Kompetenzen erworben werden, um die entsprechenden Gegenstände verstehen bzw. selbst in der verbalen Kommunikation einsetzen zu können.1 Pragmatisches Lernen findet wahrscheinlich während des ganzen Lebens statt. Wir konzentrieren uns im Folgenden aber auf den Pragmatikerwerb von Kindern und Jugendlichen, d.h. Menschen in der Altersspanne zwischen der Geburt und etwa 18 Jahren.2

Unter Kinderliteratur verstehen wir alle Literatur, die von Erwachsenen speziell für Kinder und Jugendliche verfasst wurde. Typischerweise wird Kinderliteratur nicht von Kindern verfasst, obwohl es hier einzelne Ausnahmen gibt. Eine wichtige Beobachtung ist, dass Erwachsene, die für Kinder schreiben, sich darüber Gedanken machen müssen, inwiefern ihre intendierte Leserschaft die von ihnen verfassten Texte verstehen können. Dies wird oft als selbstverständlich vorausgesetzt, ist es aber bei näherer Betrachtung nicht. Die literarische Kommunikation zwischen Erwachsenen und Kindern kann gelingen, sie kann aber auch misslingen. Dies zu untersuchen, ist selbst ein Gegenstand der linguistischen Analyse. Noch eine terminologische Bemerkung: Im Weiteren sehen wir von der in Deutschland üblichen, aber umständlichen Verwendung des Begriffs „Kinder- und Jugendliteratur“ ab. Wir orientieren uns dagegen an der international üblichen Bezeichnung „children’s literature“ und übersetzen diese mit „Kinderliteratur“. Wenn man den Adressatenkreis der Jugendlichen hervorheben will, kann man natürlich von „Jugendliteratur“ sprechen.3 Es empfiehlt sich auch, einen weiten Begriff von Kinderliteratur anzustreben, der nicht nur auf die oft im Vordergrund stehenden Kinderromane bezogen ist, sondern auch auf Drama und Lyrik, und überhaupt auf alle an Kinder gerichtete Medien.4

Welche Beziehungen gibt es nun zwischen dem Pragmatikerwerb und der Kinderliteratur? Wie wir sehen werden, ist dies eine überraschend komplexe Frage. In dieser Einführung wollen wir versuchen, den Suchraum für die Beantwortung dieser Frage zu umreißen. Zunächst einmal können wir uns ihr annähern, indem wir grob zwischen interner und externer Pragmatik unterscheiden (Meibauer 2017). Unter interner Pragmatik von Kinderliteratur verstehen wir alle pragmatischen Phänomene, die in der Kinderliteratur enthalten sind. Zum Beispiel kommen in Kinderliteratur Dialoge vor. Dadurch, dass Dialoge im kinderliterarischen Input5 vorkommen, kann das Kind etwas über Dialoge lernen. Natürlich sind dies zunächst einmal literarische Dialoge, die eigenen narrativen Gesetzmäßigkeiten unterliegen. Trotzdem wird das Kind Beziehungen oder Ähnlichkeiten zwischen literarischen Dialogen und natürlichen Dialogen in seiner Umgebung erkennen. Dies betrifft zum Beispiel den allgemeinen Aspekt des Sprecherwechsels, aber auch mögliche Verben der Redewiedergabe.

Unter externer Pragmatik von Kinderliteratur verstehen wir pragmatische Aspekte einer Vermittlungssituation. Viele Kinderbücher werden von Eltern, Geschwistern oder Großeltern vorgelesen. Es besteht eine Situation, in der die Teilnehmer(innen) ihre Aufmerksamkeit auf etwas richten und miteinander teilen. In der Vorlesesituation kommt es typischerweise zu Erläuterungen, Korrekturen und Modifikationen verschiedener Art. Diese sprachlichen Handlungen in Bezug auf den Inhalt von Kinderbüchern sind selbst eine Quelle des sprachlichen und pragmatischen Lernens. Als ein konkretes Beispiel sei hier die vorschulische Vorlesesituation genannt. Wenn zum Beispiel Eltern gemeinsam mit ihren kleinen Kindern Frühe-Konzepte-Bücher betrachten und ihre Kinder durch gezielte Fragen zum „Deuten und Benennen“-Spiel anregen, bieten sie den Kindern gleichzeitig einen Kontext, in dem diese ein spezifisches Frage-Antwort Format kennenlernen können (vgl. Meibauer 2011, 2017).

Im Folgenden wollen wir zunächst die Bereiche der externen und internen Pragmatik näher ausleuchten. Dabei gehen wir auf die Vorlesesituation ein, stellen ihre spezifischen Charakteristika dar und rekapitulieren kurz, was zum Einfluss des Vorlesens auf den Spracherwerb bisher bekannt ist (Abschnitt 2). Dann wenden wir uns der Kinderliteratur als einem spezifischen Input zu (Abschnitt 3). Zuletzt behandeln wir nacheinander den Bezug zur Didaktik und dem Schulunterricht, spezielle Herausforderungen durch neue Medien sowie gestörten Pragmatikerwerb und Kinderliteratur (Abschnitte 4–6). Anschließend geben wir einen Ausblick auf zukünftige weitere Forschungsmöglichkeiten (Abschnitt 7).

2 Die Vorlesesituation
2.1 Eigenschaften

Eine Standardsituation des privaten Vorlesens kann man sich so vorstellen, dass ein lese-inkompetentes Kind (Zuhörer) und eine vorlese-kompetente Person (Eltern, Großeltern, ältere Geschwister …) und ein Buch präsent sind, wobei die vorlesekompetente Person (Sprecher) einen Text spricht, den sie dem Buch entnimmt (vgl. das Modell von Rothstein 2013). Diese Standardsituation kann folgendermaßen weiter beschrieben und von verwandten Situationen abgegrenzt werden.

 Privates Vorlesen sollte von öffentlichem Vorlesen, zum Beispiel im Klassenzimmer, unterschieden werden.

 Das Hören von Hörbüchern ist ausgeschlossen, da der entsprechende Sprecher nicht physisch anwesend ist.

 Bei textlosen Bilderbüchern ist es möglich, dass die vorlese-kompetente Person einen Text spricht, der einer mentalen Geschichte entspricht.

 Sachbücher können ebenfalls vorgelesen werden.

 Kinder können das Vorlesen nachahmen.

Weitere Aspekte kommen ins Spiel und können einen Einfluss auf die Vorlesesituation haben. Zunächst ist die gemeinsame Aufmerksamkeit zwischen Kind und Vorleser zu nennen. Diese kann durch mangelnde Konzentration und durch Ablenkung bedroht sein. Sie wird gesichert durch Blickkontakt, Gestik und auch die körperliche Nähe, insbesondere beim gemeinsamen Betrachten von Bilderbüchern. Bei Bilderbüchern spielen neben dem vorgelesenen Text auch das Betrachten bzw. sinnvolle Einbeziehen der Bilder eine wichtige Rolle. Der Autor oder Erzähler ist nicht physisch präsent in der Vorlesesituation (es sei denn, Autor und Vorleser sind identisch, wie in einer Dichterlesung). Das Gleiche gilt für Figuren des fiktionalen Raums.

Es ist bekannt, dass es unterschiedliche Modi des Vorlesens gibt. Geschlossenes Vorlesen hält sich strikt an den Wortlaut des Texts, während offenes Vorlesen Variationen erlaubt, bis hin zu sogenannten „Gesprächseinlagen“. Gerade das Abweichen vom strikten Vorlesen, d.h. die Art und Weise, wie Vorleser mit den Kindern über den vorgelesenen Text reden, ist von großem theoretischem Interesse. Dieses ist dadurch bedingt, dass wir einen speziellen Fall von „an das Kind gerichteter Sprache“ (‚child-directed language‘) bzw. von „Feinanpassung“ (‚finetuning‘) vor uns haben. In der Wissenschaftsgeschichte der modernen Spracherwerbsforschung ist immer wieder behauptet worden, dass Feinanpassung (alias „Motherese“) keine besondere Rolle für den Spracherwerb spielen würde, da Kinder die Sprache auch ohne diese Hilfestellung erlernen würden (vgl. die Darstellung in Sokolov/Snow 1994, Snow 1995).

Nach Gressnich/Stark (2015) dienen Gesprächseinlagen beim Vorlesen der Erklärung von Sachverhalten. Sie sind darauf angelegt, ein Wissens- oder Verstehensdefizit zu beseitigen.1 Anhand von Bilderbüchern zeigen die Autorinnen, dass sich erklärende Gesprächseinlagen auf Elemente der dargestellten Handlung, auf sprachliche Elemente und auf Bildelemente beziehen können. Um dies nachweisen zu können, ist es nötig, ein authentisches Vorlesegeschehen zu dokumentieren, zum Beispiel durch Audio- und Videoaufnahmen.

Wie Becker/Müller (2015: 89f.) zeigen, teilen das Vorlesen und das (alltagssprachliche) Erzählen einige Eigenschaften, unterscheiden sich aber in anderen. Beide Diskursformen weisen einen „primären Sprecher“ auf, sind in sich strukturiert (z. B. durch Elemente einer Story Grammar) und auf „Unterstützung“ durch Kommunikationspartner angewiesen. Während aber das Vorlesen an den schon vorgegebenen schriftlichen Text gebunden ist, der in sich komplex sein mag, muss der mündliche Erzähler den Erzähltext erst erschaffen. Je nach dessen sprachlichen Fähigkeiten kann dieser produzierte Text mehr oder weniger einfach ausfallen.

2.2 Der Einfluss des Vorlesens auf den Spracherwerb

Ganz allgemein können wir annehmen, dass Vorlesen sprachliches Lernen begünstigt. Durch viele empirische Untersuchungen kann diese Annahme als gut bestätigt gelten (vgl. z. B. Whitehurst et al. 1988, Arnold et al. 1994, Wasik/Bond 2001, Kümmerling-Meibauer et al. 2015, Gressnich et al. 2015). Am deutlichsten ist vermutlich der durch das Vorlesen angeregte Wortschatzerwerb messbar. Kinder, denen regelmäßig vorgelesen wird, haben einen größeren Wortschatz als solche Kinder, bei denen dies nicht der Fall ist (vgl. z. B. Biemiller/Boote 2006, Blewitt 2014). Wiederholtes Vorlesen begünstigt das Wortlernen sowohl bei sich typisch entwickelnden Kindern (vgl. z. B. Horst 2013, 2015) als auch bei Kindern mit spezifischen Sprachentwicklungsstörungen (vgl. z. B. Rohlfing et al. 2017).

 

Im Bilderbuchklassiker Die kleine Raupe Nimmersatt von Eric Carle finden wir die folgende Textpassage:

Sie baute sich ein Haus, das man Kokon nennt, und blieb darin mehr als zwei Wochen lang. Dann knabberte sie sich ein Loch in den Kokon, zwängte sich nach draußen und …

Kokon ist ein fachsprachlicher Ausdruck, der hier kurz erläutert wird (‚ein Haus für Raupen‘) und noch einmal erwähnt wird. Auch Information über das Genus ist aus diesem Text ableitbar. Ein Kind hat also Gelegenheit, dieses Lexem zu lernen.

Es ist wichtig einzusehen, dass für den Spracherwerb das kindliche Lexikon von zentraler Bedeutung ist. Dies hängt damit zusammen, dass für jeden einzelnen neuen Lexikoneintrag eine Ergänzung fehlender Information stattfindet. Geht man davon aus, dass ein Lexikoneintrag phonologische, morphologische, syntaktische, semantische und pragmatische Informationen enthält und Lexikoneinträge miteinander vernetzt sind, ist auch klar, dass der Pragmatikerwerb – auf den wir uns hier konzentrieren – nicht unabhängig vom Grammatikerwerb betrachtet werden kann.

Will das Kind verstehen, was das Lexem ich bedeutet, kann es dies aus dem Input nur schwer erschließen. Deiktische Personalpronomen sind nicht das Gleiche wie Eigennamen. Es ist nicht von vorneherein erwartbar, dass ich einmal den Vater Sven, ein anderes Mal die Mutter Lena bezeichnet. Redet die Tochter zunächst von sich als Simone, so kommt sie später zu dem Schluss, dass auch sie von sich selbst mit ich reden kann. In der Vorlesesituation sind die Dinge noch komplizierter, da bei Erzählungen in der 1. Person zwischen dem Bezug auf eine Vorleserin und eine fiktionale Figur unterschieden werden muss. Es ist daher deutlich, dass zwischen dem Erwerb eines Lexems, der Erwerbsituation und dem pragmatischen Phänomen der Deixis ein intimer Zusammenhang besteht (Gressnich/Meibauer 2010).

Das Vorlesen wirkt sich außerdem auch positiv auf die Weiterentwicklung grammatischer Fähigkeiten aus. So zeigt Stark (2016), dass das Vorlesen von Kinderliteratur den Präteritumerwerb im Deutschen maßgeblich fördern kann. Anders als in der alltäglichen gesprochenen Sprache kommen die grammatischen Formen des Präteritums in erzählender Kinderliteratur recht häufig vor. Diese stellt insofern also eine wichtige Inputquelle für diese Zielstruktur dar, welche solchen Kindern fehlt, die schriftsprachfern aufwachsen.

Auch von Lehmden et al. (2013) konnten zeigen, dass das Vorlesen einen förderlichen Effekt auf die Entwicklung grammatischer Fähigkeiten hat, in diesem Fall auf den Erwerb des Passivs. In ihrer Studie untersuchten sie den Effekt des Vorlesens auf die Entwicklung der Fähigkeit bei 5- bis 6-jährigen Kindern, Äußerungen mit Vorgangspassiv zu produzieren. Ihre Ergebnisse belegen, dass sowohl das Vorlesen an sich, als auch das Vorlesen von speziell für die Studie umgeschriebenen kinderliterarischen Texten mit einem hohen Anteil an Passivkonstruktionen einen Effekt auf die entsprechenden produktiven Fähigkeiten der Kinder hatte, der auch noch einen Monat nach Beendigung der Intervention anhielt.

Erzählen ist eine pragmatische Fähigkeit, die Kinder vermutlich schon im 3. Lebensjahr zu beherrschen beginnen, aber es gibt entsprechende Entwicklungen noch bis in die Jugendzeit (vgl. z. B. Becker/Wieler 2013, Dannerer 2012). Eine Hypothese ist, dass der Erzählerwerb nicht nur durch die schulische Ausbildung befördert wird (bei der auch das schriftliche Erzählen eine wesentliche Rolle spielt), sondern auch durch Vorbilder im Vorgelesenen (vgl. z. B. Lever/Sénéchal 2011); dass Kinder etwas erzählen, ist ja ein typischer Inhalt von Kinderliteratur. Neben dem positiven Einfluss auf die Sprachentwicklung hat das Vorlesen auch eine förderliche Wirkung auf die Ausbildung der literarischen Fähigkeiten von (Vor-)Schulkindern (vgl. z. B. Wieler 1997, Becker 2014, Gressnich et al. 2015).

Der Fokus bei den oben erwähnten Studien liegt vor allem auf der Interaktionsform „Vorlesen“. Welchen Einfluss auf die Studienergebnisse jeweils die konkret vorgelesenen Texte und deren Eigenschaften hatten, bleibt jedoch weitestgehend unklar (Stark 2016 ist eine Ausnahme). Außerdem haben die meisten uns bekannten Studien den Effekt des Vorlesens auf die sprachliche/literarische Entwicklung von Kindern im Kindergarten- bzw. frühen Grundschulalter (2 bis 7 Jahre) untersucht. Zwar ist der Spracherwerb bis zum Alter von 7 Jahren schon recht weit fortgeschritten, jedoch bei weitem nicht abgeschlossen. Was passiert also danach, insbesondere im Selbstlesealter? Ist davon auszugehen, dass Kinderliteratur als solche auch den weiterführenden Spracherwerb jenseits des Vorlesealters unterstützt? Diese Fragen sind bisher völlig ungeklärt.