Pandemie

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Pandemie
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Hans Jürgen Kugler, René Moreau (Hrsg.)

Pandemie

Geschichten zur Zeitenwende

Mit Beiträgen von:

Uli Bendick, David Daubitz, Christian Endres, Bernhard Grdseloff, Anne Grießer, Michael Hirtzy, Heidrun Jänchen, Thomas Kolbe, Michael Kootz, Hans Jürgen Kugler, Marianne Labisch, Christian J. Meier, Armin Möhle, Thomas Neu, Frank Neugebauer, Uwe Neuhold, Monika Niehaus, Vladimir Hernández Pacín, Nicole Rensmann, Alexa Rudolph, Renate Schiansky, Karlheinz Schiedel, Rainer Schorm, Robert Schweizer, Michael Siefener, Michael Tillmann, Andrea Timm, Ute Wehrle, Jörg Weigand, Karla Weigand, Wolf Welling, Henrik Wyler,

Werner Zillig,

Und Grafiken von:

Uli Bendick, Mario Franke, Jan Hoffmann, David Staege, Michael Vogt

Umschlagillustration von:

Michael Vogt



Hans Jürgen Kugler, René Moreau (Hrsg.)

PANDEMIE

Geschichten zur Zeitenwende


Originalausgabe

© für die einzelnen Texte bei den Autor*innen,

für diese Anthologie bei Hirnkost KG,

Lahnstraße 25 • 12055 Berlin;

prverlag@hirnkost.dewww.jugendkulturen-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage Oktober 2020

Vertrieb für den Buchhandel:

Runge Verlagsauslieferung; msr@rungeva.de

Privatkunden und Mailorder: www.shop-hirnkost.de

Layout: www.benswerk.com

ISBN:

PRINT: 978-3-948675-59-2

PDF: 978-3-948675-51-6

EPUB: 978-3-948675-50-9

Dieses Buch gibt es auch als E-Book – bei allen Anbietern und für alle Formate.

Unsere Bücher kann man auch abonnieren: www.shop-hirnkost.de

Weitere Informationen zum EXODUS-Magazin: www.exodusmagazin.de

INHALT

Vorbemerkung

Michael Kootz: Kummerkonzert

Schlimmer geht immer!

Robert Schweizer: SARS-CoV-3

Armin Möhle: Wir sind für Sie da!

Bernhard Grdseloff: Antivirus

Henrik Wyler: ENCE

Thomas Kolbe: Mens sana in corpore sano

Marianne Labisch: Einsichten

Heidrun Jänchen: Wenn der Pangolin stirbt

Hans Jürgen Kugler: Die Insulaner

Wir(r) sind Virus!

Werner Zillig: Der Klient

Christian J. Meier: Stich

Ute Wehrle: Rache ist süß

Anne Grießer: Landpartie

Alexa Rudolph: Der Tod auf vier Pfoten

Michael Siefener: Pandaemonie

Karlheinz Schiedel: Tod einer Gutmenschenschlampe

Rainer Schorm: Pantognosía … oder: Erinnerungspathologie

Die Liebe in Zeiten der Corona

Christian Endres: Die Prepper-Prinzessin

Nicole Rensmann: Acht Minuten Leben

Karla Weigand: Der Zimmerer-Sepp und die schöne Unbekannte

Vladimir Hernández Pacín: Nemesis

Fake-News

Michael Hirtzy: Blick zurück in Freude

Michael Tillmann: Wie ein Ausraster eines chinesischen Provinzbeamten versehentlich die Menschheit rettete

Monika Niehaus: Planspiele

Jörg Weigand: VIP – auf ewig

Thomas Neu: Wenn der Regen langsam fällt

Frank Neugebauer: Superphagus – Die Rückkehr des Sohnes

Was vom Ende übrigbleibt

David Daubitz: CAesar – Fragmente eines Forschungstagebuchs

Andrea Timm: »Papa, wie lange noch?«

Wolf Welling: DomusDisease (DD)

Uwe Neuhold: Tag Null

Renate Schiansky: Disruptive Probionten

Uli Bendick: Im Zweifel für den Angeklagten

Nachwort

Dominik Irtenkauf: Corona-Challenge

Autor*innen und Herausgeber

Grafiken


Uli Bendick 34, 48, 95, 116, 134, 163, 256, 284, 306, 318-319, 392
Mario Franke 15, 43, 140, 170, 178, 189, 204, 211, 224, 232, 271, 288, 293, 315, 325, 343, 348, 415, 421, 422
Jan Hoffmann 196, 303, 374
David Staege 77
Michael Vogt 24, 71, 353

VORBEMERKUNG

Die Zukunft entscheidet sich jetzt.

 

Ein Virus verändert die Welt. Es gibt eine Zeit vor und nach Corona. Wir alle erleben gerade eine Zeitenwende, die dem Szenario eines düsteren Science-Fiction-Films entstammen könnte. Die 33 Autor*innen dieser Sammlung haben sich Gedanken über die Zeit nach Corona gemacht und aufwühlende, spannende und berührende Geschichten über das Leben mit dem Virus und das Überleben nach der Pandemie verfasst, aber auch bewegende Storys über die Liebe in Zeiten der Corona geschrieben, und darüber, was das Virus mit uns macht.

Denn das neuartige Virus tötet nicht nur, es hat auch tiefgreifende und nachhaltige Auswirkungen auf Demokratie und Gesellschaft. Diesem Prozess sind wir nicht hilflos ausgeliefert, wir können ihn mitgestalten. Die Pandemie muss nicht zwangsläufig ein böses Ende nehmen.

Zu folgenden Themenfeldern haben unsere Autor*innen versucht, eine mögliche Zukunft zu skizzieren:

Schlimmer geht immer! – Wollen wir hoffen, dass es bei Geschichten bleibt und nicht Geschichte wird.

Wir(r) sind Virus! – Was das Virus aus uns macht.

Die Liebe in Zeiten der Corona – Das Leben geht weiter.

Fake-News – Lügen, Verschwörungstheorien, Täuschungsmanöver. »Fakten sind die, die mir am besten gefallen.«

Was vom Ende übrigbleibt – »Alles, was einen Anfang hat, hat auch ein Ende, Neo.«

Die Herausgeber

KUMMERKONZERT

von Michael Kootz

Die schmale Treppe hinauf zum Wohnzimmer hatte ihm zu schaffen gemacht. Er sackte ins Sofa und nahm das Pillendöschen aus der Jackentasche: fast leer.

Beim Arzt war alles sehr schnell gegangen. Der Doktor hatte Bernhard gar nicht sehen wollen, das Wartezimmer war ohnehin übervoll. »Gehen Sie da bloß nicht rein, Herr Wegener«, riet die Arzthelferin. Ob sie ihn dabei anlächelte, hatte er wegen ihres Mundschutzes nicht feststellen können; ihre Augen jedenfalls blickten müde. Bernhard hatte nur sagen müssen, welche Medikamente er wieder benötigte, und sie fertigte ihm wortlos das Rezept aus. Freundlich hatte er sich bedankt und war ein paar Häuser weiter gegangen, in die Apotheke. Die Stimmung dort: gedrückte Stille, wie in den zurückliegenden Wochen auch. Die Leute in der Warteschlange: alle deutlich jünger als er selbst, und brav mit großem Abstand voneinander. Nachdem der Mann am Ende der Reihe Bernhard mit einer Handbewegung vorgelassen hatte, taten die anderen in der Schlange es auch, weshalb er schon Minuten später die Apotheke verlassen konnte, in der Hand einen prallen Plastikbeutel mit buntem Aufdruck. Die Straßenbahn nahm er lieber nicht – Stoßzeit, zu viele Menschen, zu riskant, also würde er laufen. Langsam trottete Bernhard zu Annette und Tobias nach Hause und war vor den beiden da, fand das Haus noch leer, was selten vorkam: auch nicht schlecht! Die Apothekertüte leerte er auf den Couchtisch neben seinem Plastikdöschen aus. Lauter leichte, kleine Pappschachteln, die er vorsichtig öffnete, ohne etwas zu beschädigen. Zeit hatte er ja, noch. Dann hatte er die Sortierdose aufgemacht.

MO bis SO: Je zwei von den kleinen Weißen. Bernhard drückte die Pillen aus ihrer Bläschenpackung in das Sortierdöschen. Am DI drei von den orangefarbenen, am MI nur zwei, und am DO nur noch eine. Frage: morgens oder abends? Ab FR fielen die jedenfalls ganz weg, stattdessen eine halbe von den langen weißen. Die blauen immer nur bei Bedarf, gegebenenfalls täglich. Ganz sicher war er sich da nicht … Bernhard seufzte. Irgendwann, dachte er, irgendwann werd ich mir all das aufschreiben.

Und Tobias? Ist in diesem Augenblick noch auf dem Parkplatz des Supermarkts. Hellwach! Heute bemühte er sich wirklich, denn es ging ja um etwas. Im Supermarkt hatte er nicht gequengelt, damit die Mutter ihm »… ausnahmsweise, nur ganz ausnahmsweise …« eine Dose des Energydrinks kaufte. Aus der Warteschlange vor der Kasse war Tobias diesmal nicht wieder zurück in den Laden gelaufen, um der Mutter im Handumdrehen – mit bittendem Blick – eine Tüte Paprikachips oder eine Tiefkühlpizza vor das Gesicht zu halten. Nein … Umhergeflitzt war er und hatte für Annette Waren aus den Regalen geholt, damit man schnell den Supermarkt verließ und ein wartender Kunde nachrücken konnte. Korrekt hatte er an der Kasse den geforderten Abstand zu anderen Kunden gehalten, anderthalb Meter, mindestens. Flink hatte Tobias geholfen, die Tragetaschen zu füllen mit dem Einkauf für mehrere Tage. Zwei Beutel schleppte er selbst zum Auto; für die Mutter blieben nur die große Packung mit dem Toilettenpapier und der Beutel mit Salat und Obst. Am Zeitungskiosk tat Tobias so, als sähe er nicht, dass das neue Heft von Gameworld im Fenster ausgelegt war; das musste warten, denn heute war DER Tag; da durfte nichts schiefgehen. Vielleicht aber, fiel ihm ein, vorher könnte die Mutter zu Hause in der Post irgendein Schreiben finden, das sie aufregt. Oder, wenn es mit dem Teufel zugeht, klingelt das Telefon, irgendwas Wichtiges, das wäre ganz blöd. Vielleicht muss sie ja auch aufs Klo … Besser, ich mache die Sache vorher klar.

Vor Annette lag wieder eine Tobiaswoche, und ihre Stimmung war im Keller, seit sie den Jungen von Marco abgeholt hatte. Wie immer mit Sack und Pack: der halbe Polo war voll. Beim Abschied hatte sie Marco die Entlastung angesehen, auch wenn der sich bemüht hatte, freundlich zu Tobias zu sein. Eine Woche lang von zu Hause aus arbeiten, und dabei ständig den Jungen um sich, weil die Schulen geschlossen worden waren … »… das ist die Härte!« Zumindest in diesem Punkt verstand Annette ihren Exmann. Sie allerdings konnte morgens das Haus verlassen wie immer, sofern ihr Vater pünktlich zu dem eingetroffen war, was er seinen Tobiasdienst nannte. Kam sie am Nachmittag heim, würden Sohn und Großvater bereits gegessen haben. Für sie selbst würde etwas im Kühlschrank bereitstehen, und die Küche wäre leidlich sauber. Als die Schulen wegen der Seuche die erste Woche geschlossen hatten, klappte das ganz gut. Freilich hatte ihr Vater sich eilig verabschiedet, sobald Annette heimgekommen war. So würde es wohl auch in dieser Woche sein. Dem Vater würde sie ansehen, dass die Hausarbeit, die er ihr abnahm, und die kleinen Auseinandersetzungen mit dem Enkel ihn Kraft gekostet hatten. Bei sich zu Hause angekommen, das wusste sie, würde Bernhard sich sofort hinlegen. Und Tobias? In der ersten Woche der Seuchenferien hatte der sich entweder auf die heimkehrende Mutter gestürzt, hatte sie zugeschüttet mit einem Redeschwall von Fragen, Ideen und Klagen, oder er hatte sich in seinem Zimmer verbarrikadiert mit der Behauptung, für die Schule zu arbeiten, während sie selbst doch hören konnte, dass er am Computer daddelte. Im schlimmsten Fall hatte der Junge Annette durch die geschlossene Zimmertür mit Vorwürfen zu Dingen überfallen, die sie selbst als alte Geschichten abtat, mal wieder. Zum Glück war dem eine Papawoche gefolgt. Bis heute; nun kamen sie ja gemeinsam heim. Wenn ich wenigstens mal zum Friseur könnte, murmelte sie, die Tönung, und überhaupt.

Auf dem schmalen Bürgersteig vom Parkplatz zum Haus ging der Junge vor der Mutter. Die übervollen Einkaufstaschen bereiteten ihm Mühe, das sah sie, er war halt noch ein schmales Hemd … Schon leistete Annette ihm Abbitte, innerlich. Nein, in normalen Zeiten, das wusste sie, da lebten sie entspannter. Vor der Pandemie … da war Tobias nachmittags oft gar nicht daheim gewesen, weil er von der Schule aus gleich zum Sportverein ging, oder zu einem Freund nach Hause. An anderen Tagen verschwand er nach draußen, nach irgendwo, sobald er stumm seine Hausaufgaben erledigt hatte. Aber nichts war mehr normal, seit es das Gebot gab, Abstand voneinander zu halten. Gruppen von mehr als zwei Personen sind in der Öffentlichkeit untersagt. Ausgenommen davon sind Familien und Menschen, die gemeinsam in einer Wohnung leben. Bleiben sie nach Möglichkeit zu Hause! Besuchen Sie keine anderen Personen! Fast alle Geschäfte geschlossen, Sporthallen dicht, Parks und Spielplätze mit Flatterband abgesperrt … Wenn wenigstens die Kinder sich verabreden und treffen dürften! Aber nein … Also hielten die meisten Eltern ihren Nachwuchs im Haus, denn zu erwarten, dass sie auf der Straße oder im Park den geforderten Abstand voneinander halten würden … Nein, an den Weihnachtsmann glaub’ ich ja auch nicht mehr, dachte Tobias’ Mutter. Heute jedenfalls würde der Großvater zum Abendessen kommen und danach eine Weile bleiben. Inständig hoffte Annette, dass die beiden eine Runde Schach spielen oder einen Film schauen würden. Während der folgenden sechs Abende würde sie mit Tobias alleine sein … müssen. Und Tobias mit ihr.

Der Junge hatte einen Entschluss gefasst. Nee, lieber die Sache gleich festklopfen, solange die Stimmung gut ist! Als die Mutter die Toilettenpapierpackung abgesetzt hatte, um in ihrer Handtasche nach dem Hausschlüssel zu suchen, wagte er den Sprung. »Du fährst mich doch nachher zu Fabian? Um halb acht?« Er beobachtete ihren Gesichtsausdruck: verständnisloses Stirnrunzeln. »Ich kapier gar nicht, was du meinst. Ist doch Kontaktsperre; miteinander telefonieren könnt ihr doch, oder skypen, meinetwegen, wenn der Opa nachher gegangen ist.« Sein Großvater! Den hatte Tobias nicht mehr im Sinn gehabt; egal: »Den Opa seh’ ich doch morgen wieder, den ganzen Tag.«

Das Fenster des Wohnzimmers hatte Bernhard geöffnet: Schön war es ja draußen, ein herrlicher Tag, Frühlingsanfang, viele Büsche in üppiger Blüte … Kaum Autos, keine Flugzeuge, und in vielen Fabriken ruhte die Produktion: die Luft war rein wie schon seit Ewigkeiten nicht mehr. Drinnen bleiben sollte man dennoch, wenn irgend möglich. Tschernobyl, erinnerte er sich, Tschernobyl, bei der Atomkatastrophe in Tschernobyl war es genauso gewesen: Warmes, sonniges Frühlingswetter, aber wir hatten drinnen bleiben müssen! Annette war noch zu klein gewesen, als dass sie sich heute erinnern könnte. Er selbst wusste noch genau, wie Ingrid und er sich um ihr Kind geängstigt hatten; nicht nur sie. Die meisten Eltern, erinnerte er sich, die machten sich Sorgen wegen der Kinder, mehr noch als um sich selbst. Das Land hielt den Atem an. Nach wenigen Tagen gab es dann schon genug Messungen, um uns in Deutschland halbwegs entlasten zu können. Klar, was die Lebensmittel betraf, da hatten wir auf ein paar wenige verzichten müssen, und man hatte auf den Regen gewartet, dass der den radioaktiven Staub auswusch. Im großen Ganzen aber … Bernhard beugte sich aus dem Fenster. Niemand war zu Fuß unterwegs. Von ferne war ein einzelnes Auto zu hören; fast totenstill, nannte Bernhard das. Laut wiederholte er sich das Wort: totenstill. Nicht mal ein Windhauch, keine Bewegung in den noch kahlen Bäumen. Aber dann! Aus der Ferne hörte er die Stimmen seiner Tochter und des Enkels. Meine Ohren sind jedenfalls entschieden besser als die Augen, fand er; man freut sich ja schon an kleinen Dingen. Früh heute, die beiden; Marco war mit Sicherheit erleichtert, als er den Jungen abgeben konnte. Lieber Kerl, eigentlich; aber eine Woche allein mit dem, ans Haus gebunden … Abgesehen vom Rap und den Videoclips, die der Junge liebte, gab es vieles, das Bernhard gern mit Tobias zusammen tat; Schachspielen zuerst, dann: ihm bei den Matheaufgaben helfen, nicht zuletzt: draußen umherstreuen, zu Fuß, manchmal mit den Rädern. Während der letzten Wochen hatten sie aber notgedrungen vor allem in der Wohnung gehockt. Häufig hatten sie gemeinsam etwas im Fernsehen gesehen und dann darüber gequatscht, wie Tobias es nannte. Bernhard genoss das unendlich! Niemandem hätte er verraten mögen, wie gern er seinem Enkel nahe war, so herrlich fand er es, wenn der gerade Dreizehnjährige zuweilen – abends beim Fernsehen – einschlief und gegen den Großvater sackte, als sei er noch der kleine Junge von früher. Und dennoch: Seit einigen Wochen hielt Bernhard vom Jungen Abstand. Immer häufiger löste er Angst in ihm aus, denn wer konnte wissen, wo der sich herumgetrieben hatte, mit wem Tobias Kontakt gehabt hatte, und ob darunter jemand infiziert war? Zu Hause wusch Tobias sich die Hände anscheinend gründlich, aber wie war das woanders? Was fasste der Enkel an, und wie stand es mit den Dingen, die er heimbrachte? Was bedeutete es, wenn er schnupfte und hustete – war das seine Pollenallergie, oder war auch Tobias mit dem Virus infiziert? Er selbst, wusste Bernhard, hatte in dem Alter jedenfalls auf Vorschriften gepfiffen … Im Dämmerlicht des Wohnzimmers erhob sich der Großvater. Gestützt auf die Lehne des abgewetzten grünen Sofas, schämte er sich seiner Angst.

 

Die zwei werden staunen, dass ich schon hier bin, und nicht noch beim Arzt sitze.

Inzwischen waren Mutter und Sohn bereits am Gartenzaun zu sehen. Annette hing ihr hellgrüner Mundschutz unter dem Kinn, auf dem grauen Wintermantel, den sie wegen der unerwarteten Wärme offen trug. Bernhard stutzte. Mitten im blonden Haar der Tochter fiel ihm eine breite dunkle Linie auf. Den Friseur würd ich ihr bezahlen, wenn einer geöffnet hätte. Kann ja noch Wochen dauern. Tobias trug sein rot kariertes Tuch ungeachtet der menschenleeren Straßen noch korrekt über Mund und Nase. Wie ein Cowboy, mit seinen strubbligen braunen Haaren. Oder wie ein altmodischer Bankräuber. Sein Großvater fuhr sich über die Glatze und lächelte. Draußen, unterhalb des Wohnzimmerfensters, standen die beiden auf den Betonplatten, die zur Haustür führten; irgendetwas diskutierten sie. Bernhard trat einen Schritt zurück in den Raum, denn die zwei sollten sich schließlich nicht beobachtet fühlen. Gerade blieben sie vor der Eingangstür stehen, denn Annette wühlte in ihrer Tasche. Lauschen musste Bernhard nicht, musste nicht die Ohren spitzen, er konnte ja gar nicht anders, als dem Gespräch der beiden zu folgen; warum auch nicht?


»Heute Abend … Ich glaub, du hast dabei vergessen, dass wir so etwas wie eine Ausgangssperre haben.« Annettes Stimme klang müde, aber noch geduldig.

»Hab ich gar nicht; aber wir sind ja nicht draußen, sind ja im Haus bei Fabian.«

»Weshalb willst du unbedingt heute zu ihm hin?« Die Tochter klang abgelenkt; sie kramte weiter in ihrer Tasche. Der Enkel zögerte mit der Antwort.

Aha, dachte Bernhard, erst mal gibt sie sich kontrollierend, und sie fordert sogar was … aber eigentlich gibt sie schon nach. Innerlich. Drei, vier Sätze noch, und der Junge hat seine Erlaubnis. Bernhard sah hier ein vertrautes Muster. Täglich ärgerte ihn die Nachgiebigkeit seiner Tochter! Aus ihren Worten hörte er das heraus, was er als Weichheit wertete: Einknicken, nannte er so was, auch in Streitgesprächen mit der Tochter. Einknicken! Bernhard hielt es ihr vor, wenngleich er sie, in derselben Debatte, innerlich mehr in Schutz nahm als sie sich selbst, denn ihre Nachgiebigkeit führte er zurück auf die Lage einer alleinerziehenden Mutter, auf Schuldgefühle und all das … Dazu muss ich nicht Psychologie studiert haben, sagte sich Bernhard. Aber es ärgerte ihn doch jedes Mal, dies allzu Verständige, dies Butterweiche. »Haltung zeigen«, forderte er dann von der Tochter, »… klare Ansage – wie willst du dir bei Tobi sonst Respekt verschaffen? Und du selbst bist schließlich auch noch da, mit deinen Bedürfnissen, Menschenskind!«

Unten vor der Tür verkündete Tobias es nun, laut und langsam, in feierlichem Ton: »Mama, Forgiddo XL kommt zu denen nach Hause!« Schweigen, während Schlüssel klimperten und die Mutter aufschloss.

Bernhard hörte die beiden eintreten, zuerst die Mutter: »Soviel ich weiß, ist das Konzert von Forgiddo XL abgesagt, genau wie alle anderen in der Multihalle.« Als der Enkel antwortete, hallte seine Stimme unten im Flur, in begeistertem Ton:

»Der hat aber unter seinen Fans, unter allen, die Tickets bestellt hatten, weißt du, unter allen hat er einen Hausbesuch verlost, für sie und fünf Freunde. Richtig mit Musik! Mini-Konzert. Jetzt rate mal, wer gewonnen hat!«

»Kann ich unmöglich raten; es wird doch wohl nicht Fabian Stihler sein?«

»Bingo!« Tobias jubelte. »Weil der geschrieben hatte, wir sechs von der Volleyballmannschaft würden zusammen dabei sein. Und Stihlers, die haben ein Riesenwohnzimmer. Das musste man nämlich auch genau schreiben. Die haben fünfzig Quadratmeter.«

»Jetzt zieh dir erst mal die Schuhe aus.«

»Knoten drin.«

»Dann nimm dir jetzt mal die Zeit, um den aufzumachen.« Der Großvater hörte den Jungen stöhnen und das Plumpsen, als er sich auf die Treppenstufe setzte.

»Weißt du, wenn ihr zu sechst seid, sind selbst fünfzig Quadratmeter nicht riesig; Abstand!!! … verstehst du?«

»Aber hör mal, Forgiddo ist ein Weltstar. Der hat allein im letzten Jahr fast eine Million CDs verkauft, glaube ich, und dann die Klicks im Netz … du hast ja keine Ahnung!«

Bernhard hörte, wie seine Tochter die Küchentür öffnete. Sie begann die Einkäufe auszupacken. Ihre Stimme klang dumpfer, aber schärfer im Ton: »Jetzt rechne mal. Ihr sechs Jungs, mit Stihlers seid ihr acht.«

»Die hören doch keine Musik von Forgiddo, liebe Güte, Mama.«

»Die werden aber dabei sein wollen, wenn so eine Weltgröße in ihrem Haus ist. Sind also acht. Und Geschwister hat Fabian inzwischen wohl nicht mehr?«

»Nur Silke und Merle. Aber die sind jünger.«

»Natürlich, mit zehn und mit zwölf Jahren« – sie räusperte sich – »geht man ja brav ins Bett, wenn ein Weltstar im Hause ist. Macht mit Forgiddo elf Leute. Spricht der Forgiddo eigentlich Deutsch?«

»Nee, warum? Dafür ist doch der Dolmetscher da. Sonst kommt das ganz komisch, wenn wir im Video aneinander vorbeireden.«

»Das wird aufgezeichnet?«

»Klar doch, für YouTube, kannst du dir dann auch anschauen.«

»Das werden ja immer mehr Leute! Wenn ich dich richtig verstehe, gibt’s auch ein bisschen Musik.«

»Klar, so wie Karaoke. Er bringt eine Anlage mit. Und Chips und alles.«

Bernhard hörte, wie seine Tochter die Kühlschranktür zuwarf.

»Also, jetzt pass mal auf, Rechnen, erste Klasse: Sechs Jungs plus zwei Geschwister plus zwei Eltern plus ein Sänger mit Dolmetscher, wie viele sind das? Na? Schon mal zwölf … Ich fasse es nicht.«

»Was denn jetzt? Ja oder nein?« Obacht, dachte Bernhard, Explosionsgefahr. Gleich wird’s laut.

»Natürlich NEIN. Zwölf Leute in einem Wohnzimmer, mindestens zwölf! Ich denk mir noch einen für die Kamera dazu, vielleicht noch einen Techniker, soll auf YouTube ja gut klingen, gut rüberkommen … Ich fasse es nicht! Schon mal was gehört von Abstand halten, im Moment? Anderthalb Meter, besser zwei?« Bernhard war sich nicht sicher, ob Annette eher von der Arbeit erschöpft war, oder von Tobias’ Bitte gereizt; in jedem Fall war sie ziemlich laut geworden.

»Die Stihlers machen das schon. Fünfzig Quadratmeter! Bitte, Mama.«

So flehentlich hatte Bernhard den Enkel schon lange nicht bitten gehört. Manchmal hatte auch er als Kind so inständig gebeten, dies Gefühl kannte Bernhard; worum es ihm damals gegangen war, das wusste der Großvater nicht mehr, aber Herzensangelegenheiten waren es schon gewesen … der Junge tat ihm jedenfalls leid. Die Mutter auch, natürlich! Bernhard wartete darauf, dass seine Tochter nachgab, einknickte; wie, das lag für ihn auf der Hand: Fahren würde sie Tobias natürlich nicht – aber wenn der selbst einfach losginge, wenn er lief, rannte, radelte … »… tja«, würde sie seufzen, »ich kann den Jungen schließlich nicht festbinden …« Herrgott noch mal! Meine Tochter!

In Wirklichkeit schwieg Annette.

»Also, was denn jetzt? Mama!«

»Ich fahr dich da nicht hin, garantiert nicht.«

Aha, bemerkte Bernhard, Rückzug wie erwartet. Fahren zwar nicht, aber … Annette setzte nach: »Die Stihlers können sich Mühe geben wie sonst was. Aber fünf fremde Jungs? Drei eigene Kinder? Vor allem … was meinst du, wo der Forgiddo überall rumkommt, mit wem der wohl alles Hände geschüttelt hat, Bussi gegeben, umarmt? Kennst du etwa den Dolmetscher und die anderen Typen? Ich bin nicht mal sicher, ob Forgiddo selbst die kennt … kommen vielleicht von irgendeiner Agentur. Also: nein.«

»Das ist nur, weil du Forgiddo nicht magst!«

Er jedenfalls, soviel war für Bernhard klar, er mochte den Musiker nicht, den er von Plakaten kannte. Prolliger Angeber, aggressiv …, Bernhards Urteil stand fest, … aber darum geht’s Annette wohl nicht, dachte er. Auch ihn erschreckte die schiere Zahl: Zwölf Leute, mindestens, vielleicht vierzehn oder mehr, Leute, die dauernd selbst unter vielen Leuten sind. Unter Leuten, die infiziert sein können, ohne es zu wissen … liebe Güte …

Unten im Flur wieder die Tochter: »Der Forgiddo ist mir so was von egal. Aber du nicht, und die Epidemie nicht. Vergisst wohl, dass ich im Krankenhaus arbeite! Ich weiß schon, wovon ich rede.«

»Ach ja … aber bloß im Büro! Bist ja keine Ärztin!« Tobias fühlte sich hörbar im Vorteil.

»Das ist hier völlig gleichgültig! Ich sehe doch, wie alle am Limit sind. Weil sie vielen Kranken nicht mehr helfen können!«

»Jaja, vorbildlich alle Regeln einhalten … als wenn du dich sonst immer an alles hältst. Ich sag nur Autofahren! Aber jetzt: Nicht mehr als zwei Personen … Bravo!« Der Junge klatschte in die Hände, dann: »Weißt du, was der Opa sagt?«

»Na, was meint dein Opa zur Risikolage?«

»Opa sagt immer ›… denn was verboten ist, das macht uns gerade scharf!‹«

Auch das jetzt noch, dachte Bernhard oben auf dem Treppenabsatz, auch das noch, jetzt.

»Der Opa meint damit sicher nicht, dass man sich und andere anstecken sollte. Kann ich mir nicht vorstellen.«

»Weißt du was? Du magst Forgiddo nicht, du magst den Rap sowieso nicht und die Stihlers auch nicht. So ist das nämlich.«

»Quatsch. Sollen die doch glücklich werden in ihrem Tanzsaal.«

Bernhard hörte den Jungen keuchend atmen, schließlich losbrüllen: »Gar keinen magst du! Mich magst du nämlich auch nicht! Hauptsache Spaß verderben!« Eine Zimmertür wurde zugeknallt. Jemand schlug mit der Faust auf die Arbeitsplatte in der Küche, jemand anderes warf etwas durch die Gegend. Es konnten Bücher sein, die an eine Wand geworfen wurde, an der ein Plakat hing, für ein Konzert mit Forgiddo XL. Bernhard hörte seine Tochter über den Flur laufen und an eine Tür klopfen. »Tobias?« Noch ein paar Gegenstände schlugen dumpf irgendwo auf. Bernhard lauschte nach unten. Hätte er mehr Luft gehabt, er hätte lange den Atem angehalten. Dann wurde nichts mehr geworfen.

»Hör mal, Tobi, in dem Fall geht es vor allem um den Opa. Dass du dir keine Infektion einfängst und den auch noch ansteckst. Der Opa ist Risikopatient. Hochrisiko.«

Dass es stimmte, wusste Bernhard. Hören mochte er es nicht.

»Jetzt versteckst du dich hinter dem Opa. Feige auch noch!«

»Hat doch mit Feigheit nichts zu tun. Sind doch Tatsachen. Opa ist zweiundsiebzig.« Jetzt hörte Bernhard wieder einen bittenden Ton in der Stimme seiner Tochter. Wie die wieder sanft auf Einsicht setzt, auf Verständnis, statt mal klare Kante zu zeigen!

»Als wenn das was beweist! Opa ist fit wie ein Turnschuh, guck ihn dir doch an! Nicht so wie Papa mit seinem Bauch!« Bernhard hörte die Tochter schweigen. »Mit wem bin ich denn den Weserradweg runtergefahren? Meinst du, mit Papa?« Tobias klang triumphierend. Ja, wusste Bernhard, und einer von uns beiden hatte ein Elektrorad. Und es war vor zwei Jahren gewesen. »Und wer ist letztes Jahr mit mir hoch zum Beilstein gewandert? Na, du doch wohl nicht!« Bernhard erinnerte sich gern daran, wie stolz sie beide gewesen waren, aber genau so lebhaft an seine Erschöpfung danach. Immer noch schwieg die Tochter. »Also bitte …!«, setzte Tobias nach, als sei der Fall nun entschieden und ihm die Erlaubnis erteilt.

Annette widersprach endlich doch; langsam und eindringlich. »Dein Opa hat ein paar Krankheiten, die eine Vorbelastung darstellen; weißt du sicher nicht – weiß ich ja auch nur, weil ich nachhake. Muss ich ihm aus der Nase ziehen, er redet da nicht von sich aus drüber. Musst du mir glauben.«

»Nee, da frag ich ihn selbst!«

Bernhard zuckte zusammen. Was, wenn er wirklich gefragt würde? Kann ich dem Jungen die Freude verderben? Diesen Rapper wird Tobias im Leben nicht mehr aus der Nähe sehen. Mit dem Burschen in einem YouTube-Video aufzutreten, das all seine Freunde sehen, und zehntausend andere auch … Was Größeres kann’s für den doch gar nicht geben! Bernhard spürte, wie er einen heißen Kopf bekam. Dem Jungen die Freude verderben? Keine angenehme Vorstellung; und überhaupt … Aber andrerseits… Tobias wird schon einen Weg finden zu den Stihlers, das ist halt so.

Annettes Stimme, unten im Flur: »Wenn du meinst, dass das angenehm ist für einen alten Menschen, dir zu sagen: ›Stimmt, ich bin wirklich ziemlich krank, und wenn es die Medikamente nicht gäbe, wäre ich längst … also nimm bitte künftig immer Rücksicht auf mich…!‹ Kannst Opa ja fragen, wenn er nachher kommt, viel Freude dabei.« Einen Moment lang blieb Annette im Schweigen vor Tobias’ Tür stehen, ehe sie in die Küche zurückkehrte. Bernhard hörte sie dort wirtschaften. Jedes ihrer Geräusche kam ihm laut vor, bis zu dem Ruf aus Tobias’ Zimmer, durch die verschlossene Tür. Der war lauter.

»Du drehst dir alles, wie du’s haben willst! Wenn du mich nicht fährst, geh ich halt so! Aus dem Fenster! Kannst mich ja nicht anschnallen!«

Rasche Schritte aus der Küche, dann energisch: »Pass auf, mein Lieber: Wenn du das Haus verlässt, stürzt der Himmel ein. Ich sag’s dir.« Pause, Abwarten.