Nachhaltigkeit interdisziplinär

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Ursula Kluwick / Evi Zemanek (Hg.)

Nachhaltigkeit

interdisziplinär

Konzepte, Diskurse, Praktiken

Ein Kompendium

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

PD Dr. Ursula Kluwick lehrt anglophone Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Bern.

Prof. Dr. Evi Zemanek lehrt Literatur- und Medienkulturwissenschaft an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de.

Umschlagabbildung: Tautropfen Erde, iStock 125143761

© 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Wien Köln Weimar

Lindenstraße 14, D-50674 Köln

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Korrektorat: Dore Wilken, Freiburg

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Satz: büro mn, Bielefeld

EPUB-Produktion: Lumina Datamatics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

UTB-Band-Nr. 5227 | ISBN 978-3-8252-5227-4 | eISBN 978-3-8463-5227-4

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Ursula Kluwick/Evi Zemanek

1.Ideen- und Wissensgeschichte

Tobias Schlechtriemen

1.1Konzepte und Wissensformationen von Nachhaltigkeit

1.2Fallbeispiele: Analysen dreier Meilensteine der Nachhaltigkeits-debatte

1.3Fazit und Ausblick

1.4Forschungsliteratur

2.Nachhaltigkeitskommunikation

Daniel Fischer

2.1Arenen, Modi und Topoi der Nachhaltigkeitskommunikation

2.2Fallstudie: Die Bedeutung von „Nachhaltigkeit“ in deutschen Printmedien

2.3Fazit: Nachhaltigkeitskommunikation als gesellschaftliche Willensbildung

2.4Forschungsliteratur

3.Waldwirtschaft/Forstplanung

Roderich von Detten

3.1Konzepte und Diskurse der Nachhaltigkeit in der Waldwirtschaft

3.2Fallbeispiele und Praktiken: Von Hiebsätzen bis zur Klimaanpassung

3.3Fazit: Nachhaltigkeit als Praxis

3.4Forschungsliteratur

4.Nachhaltigkeitswissenschaft/Nachhaltigkeitsgouvernanz

Cordula Ott

4.1Konzepte und Genese einer Nachhaltigkeitswissenschaft

4.2Transdisziplinäre Praxis

4.3Fallbeispiele: Transformative Forschung und Transformationsforschung

4.4Fazit

4.5Forschungsliteratur

5.Landwirtschaft

Hanns-Heinz Kassemeyer

5.1Konzepte und Praktiken von Nachhaltigkeit in der Landwirtschaft

5.2Fallbeispiel: Nachhaltiger Weinbau am Oberrhein

5.3Fazit und Ausblick: Probleme und Potenziale

5.4Forschungsliteratur

6.Stadt- und Raumplanung

Christian Lamker

6.1Konzepte und Diskurse nachhaltiger räumlicher Entwicklung

6.2Fallbeispiel: Flächenverbrauch und nachhaltige Entwicklung

6.3Fazit: Nachhaltigkeit war gestern – und heute?

6.4Forschungsliteratur

7.Humangeographie

Hartmut Fünfgeld/Samuel Mössner

7.1Konzepte und Diskurse der Nachhaltigkeit in der Humangeographie

7.2Fallstudien: Nachhaltigkeit und Resilienz in Münster und Melbourne

7.3Fazit und Ausblick

7.4Forschungsliteratur

8.Soziologie

Philippe Hamman

8.1Konzepte und Diskurse der Nachhaltigkeit in der Soziologie

8.2Fallbeispiele aus der Stadtsoziologie: Ökomobilität und Ökoviertel-Projekte

8.3Fazit und Ausblick

8.4Forschungsliteratur

9.Betriebswirtschaft/Nachhaltigkeitsmanagement

Rebekka Volk

9.1Konzepte und Definitionen der betriebswirtschaftlichen Nachhaltigkeit

9.2Fallstudien: Automobilindustrie und Bauprodukte

9.3Fazit

9.4Forschungsliteratur

10.Konsum- und Produktforschung

Rainer Grießhammer, Corinna Fischer, Dietlinde Quack, Franziska Wolff

10.1Konzepte von nachhaltigem Konsum und nachhaltigen Produkten

10.2Fallstudie: Die Transformationsmatrix und der Fahrradverkehr

10.3Fazit

10.4Forschungsliteratur

11.Ernährungsgeographie

Isabel Jaisli/Emilia Schmitt

11.1Konzepte von Nachhaltigkeit im Ernährungssystem

11.2Fallstudien: Lokale, regionale und globale Lebensmittelherstellung

11.3Fazit und Ausblick

11.4Forschungsliteratur

 

12.Tourismusforschung

Melanie Ströbel

12.1Konzepte von Nachhaltigkeit im Tourismus

12.2Fallstudie: Tourismus und Nachhaltigkeit auf Island

12.3Fazit und Ausblick

12.4Forschungsliteratur

13.Sozialanthropologie

Tobias Haller

13.1Konzepte und Diskurse der Nachhaltigkeit in der Sozialanthropologie

13.2Fallbeispiele: Fischerei in Flussfeuchtgebieten und Land-grabbing-Prozesse in Afrika

13.3Fazit und Ausblick

13.4Forschungsliteratur

14.Ethik

Torsten Meireis

14.1Konzepte und Praktiken einer Ethik der Nachhaltigkeit

14.2Fallbeispiele: Probleme bei der ethischen Beurteilung von Nachhaltigkeit

14.3Fazit und Ausblick

14.4Forschungsliteratur

15.Bildungspolitik/Didaktik

Berbeli Wanning

15.1Konzepte und Geschichte von Nachhaltigkeit in der Bildungspolitik

15.2Fallstudie: Globales Lernen als neue Praxis der Nachhaltigkeit

15.3Fazit: Probleme und Potenziale der Nachhaltigkeitsbildung

15.4Forschungsliteratur

16.Kulturwissenschaft

Gabriele Rippl

16.1Konzepte kultureller Nachhaltigkeit

16.2Fallbeispiele: Materielles und immaterielles Kulturerbe

16.3Fazit und Ausblick

16.4Forschungsliteratur

17.Popmusikforschung

Thorsten Philipp

17.1Diskurse über Nachhaltigkeit in der Popmusik

17.2Fallbeispiele: Genrespezifische Entwicklungen

17.3Fazit: Popmusik als Brennglas der Nachhaltigkeitsdebatte – Bilanz eines Aneignungsprozesses

17.4Forschungsliteratur und Auswahldiskographie

18.Kulturwissenschaftliche Pflanzenstudien (Plant Studies)

Urte Stobbe

18.1Konzepte und Diskurse der Nachhaltigkeit aus Sicht der Pflanzenstudien

18.2Fallstudien: Exemplarische Analysen

18.3Fazit und Ausblick

18.4Forschungsliteratur

19.Literaturwissenschaft

Hubert Zapf

19.1Konzepte und Diskurse der literarischen Nachhaltigkeit

19.2Fallstudien: Exemplarische Textanalysen

19.3Fazit und Ausblick

19.4Forschungsliteratur

20.Journalismus

Torsten Schäfer

20.1Konzepte journalistischer Nachhaltigkeit

20.2Fallstudien: Storytelling im Klimajournalismus

20.3Fazit und Diskussion

20.4Forschungsliteratur

21.Medienwissenschaft

Evi Zemanek

21.1Konzepte von Nachhaltigkeit in der Perspektive der Medienwissenschaft

21.2Fallstudien: Lesen auf Papier vs. Lesen am Bildschirm

21.3Fazit und Ausblick: Green Reading – nachhaltige Medienkultur?

21.4Forschungsliteratur

Beiträgerinnen und Beiträger

Register

Personenregister

Sachregister

Einleitung
Ursula Kluwick/Evi Zemanek

‚Nachhaltigkeit‘ hat sich zu einem höchst beliebten gesellschaftlichen Leitkonzept entwickelt. Forderungen nach mehr Nachhaltigkeit sind omnipräsent: in Politik und Wirtschaft, Raum- und Stadtplanung, Landwirtschaft und Tourismus, bei Fragen der Ernährung und des Konsums – in all diesen und vielen weiteren Kernbereichen ist Nachhaltigkeit zu einem der zentralsten Desiderate des 21. Jahrhunderts avanciert. Verschiedenste Akteure, politische Organisationen, Unternehmen und Universitäten haben Positionspapiere zur Nachhaltigkeit vorgelegt, deren Vergleich jedoch ein breites Spektrum an teilweise widersprüchlichen Begriffsdeutungen offenbart, das auch in der massenmedialen Popularisierung von Nachhaltigkeitsdebatten zutage tritt. Die Klage über den inflationären Gebrauch des Nachhaltigkeitsbegriffs ist selbst schon inflationär. Oft scheitert die dringend notwendige Verständigung über soziale, ökonomische, ökologische und kulturelle Nachhaltigkeit in öffentlich-politischen ebenso wie wissenschaftlichen Kontexten an einer mangelnden wechselseitigen Kenntnis der unterschiedlichen Konzepte von Nachhaltigkeit. Diese wurzeln, so zeigt dieses Kompendium, in heterogenen, disziplinär geprägten Begriffs- und Konzeptgeschichten und resultieren in divergenten Praktiken von Nachhaltigkeit.

Das vorliegende Kompendium soll eine disziplinenübergreifende Verständigungsgrundlage schaffen, deren Bedarf in der zunehmend multidisziplinären Nachhaltig-keitsforschung stets bekräftigt wird. Es bündelt erstmals Beiträge aus diversen geistes-, sozial- und naturwissenschaftlichen Disziplinen jenseits der auf akademischer Ebene diskursdominanten wirtschaftswissenschaftlichen Publikationen zu ‚nachhaltiger Entwicklung‘ und jenseits der zahlreichen populärwissenschaftlichen Anleitungen zu nachhaltigem Konsumverhalten. Stattdessen verschafft es insbesondere auch Ansätzen Aufmerksamkeit, welche die kulturelle Dimension von Nachhaltigkeit betonen. Es positioniert sich damit im neuen florierenden Feld der Environmental Humanities und verfolgt das Ziel, den darin vernetzten Disziplinen zu zeigen, mit welcher Methodik und in welchen Kernfragen eine interdisziplinäre Zusammenarbeit möglich und fruchtbar sein kann.

Das Kompendium richtet sich an ein breites Publikum: an Studierende und Lehrende sämtlicher beteiligter Disziplinen, aber auch an Fachfremde und Akteure aus den Feldern nachhaltiger Praktiken. Ganz im Sinne eines übersichtlichen Kompendiums sind alle Kapitel nur mit der Disziplin überschrieben, aus deren Perspektive ‚Nachhaltigkeit‘ diskutiert wird. Die Kapitel folgen einer einheitlichen Struktur: Nach Ausführungen zur Entwicklung des jeweiligen Nachhaltigkeitskonzepts und zum disziplinären Forschungsstand skizzieren sie fachspezifische Praktiken, schildern Projekte und Fallbeispiele und diskutieren Probleme und Potenziale, bevor sie mit weiterführenden Literaturempfehlungen enden.

Da die hier versammelte Vielfalt an Perspektiven aus unterschiedlichsten disziplinären Forschungskontexten insgesamt ein differenziertes Panorama ergibt, das gerade nicht auf disziplinübergreifende Gemeinplätze reduziert werden will, verzichtet diese Einleitung bewusst auf eine letztlich immer unvollständig bleibende Zusammenschau des Forschungsstands zur derzeit in alle Richtungen wuchernden Nachhaltigkeitsdebatte. Stattdessen lassen wir die Disziplinen selbst zu Wort kommen mit der ihnen entsprechenden Gewichtung der historisch und aktuell signifikantesten Denkansätze zum Thema. Jedes Kapitel verweist eigenständig auf die für die jeweilige disziplinäre Perspektive relevante Forschung. Dennoch gibt es natürlich gemeinsame Bezugspunkte, die den Dialog und die Zusammenarbeit der Disziplinen erleichtern: die wirkmächtigsten, meistdiskutierten Berichte und Resolutionen, die Nachhaltigkeit einfordern und definieren. Um unnötige Redundanzen innerhalb des Kompendiums zu vermeiden, sind drei Kapitel vorangestellt, die disziplinübergreifendes Basiswissen über die Nachhaltigkeitsdebatte vermitteln: Sowohl das Kapitel zur Wissensgeschichte (Tobias Schlechtriemen) als auch dasjenige zur Nachhaltigkeitskommunikation (Daniel Fischer) diskutieren die kanonischen Modelle und Metaphern für Nachhaltigkeit, ergänzt durch das Kapitel aus der Forstwirtschaft (Roderich von Detten), das auf die Wurzeln und die Weiterentwicklung des Konzepts in forstlichen Kontexten eingeht und dabei gerade auch Kritik am Begriff und der diesbezüglichen Debatte bedenkt.

Um den Nachhaltigkeitsdiskurs wissens- und ideengeschichtlich zu erfassen, entwickelt Tobias Schlechtriemen ein Analysewerkzeug mit fünf Kriterien, die es erlauben, verschiedene Verständnisse von Nachhaltigkeit klarer zu konturieren und miteinander zu vergleichen. Er betrachtet (1) den Anlass oder die Motivation für die Entstehung des Textes, (2) die zu erhaltende Ressource, (3) die Bezugseinheit, auf die sich die Berechnung des zu Erhaltenden bezieht, (4) das nötige Wissen für entsprechende Berechnungen und (5) die Akteure und das institutionelle Setting. Mithilfe dieser Heuristik werden drei zentrale Schriften untersucht, auf die in der Nachhaltigkeitsdebatte immer wieder Bezug genommen wird: Hans Carl von Carlowitz’ Sylvicultura oeconomica, die als Bericht des Club of Rome bekannt gewordene, von Meadows et al. publizierte Schrift The Limits to Growth (dt.: Die Grenzen des Wachstums) und schließlich der sogenannte Brundtland-Report, den eine unabhängige UNO-Kommission unter dem Titel Our Common Future (dt.: Unsere gemeinsame Zukunft) vorgestellt hat. Der einheitliche Kriterienkatalog erlaubt dabei konkrete Rückschlüsse auf die (gesellschaftlichen, politischen, kulturellen etc.) Kontexte, in denen spezifische Verständnisse von Nachhaltigkeit geprägt wurden. Für Schlechtriemen bildet die Kenntnis derselben eine Grundvoraussetzung für die Diskussion über Nachhaltigkeit jenseits enger wirtschaftlicher Vorstellungen. Sein Beitrag zeigt damit eine Möglichkeit auf, den Weg für die Integration verschiedenster Ansätze zur Nachhaltigkeit zu ebnen, und er stellt einen konkreten Ansatz vor, um das Hauptanliegen dieses Kompendiums zu verwirklichen: die Erleichterung der Kommunikation über Nachhaltigkeit unter den verschiedensten disziplinären und gesellschaftsrelevanten Blickwinkeln.

 

Wie aber werden Ideen von Nachhaltigkeit an ein größeres Publikum kommuniziert und popularisiert? Nachhaltigkeitskommunikation – verstanden als Teilgebiet der Nachhaltigkeitswissenschaft – spielt eine entscheidende Rolle für die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Nachhaltigkeit. Daniel Fischer stellt zunächst am Beispiel verschiedener Nachhaltigkeitsmodelle dar, auf welche verschiedenen Weisen die Idee der Nachhaltigkeit konkretisiert wurde, welche Kontroversen mit diesen Konkretisierungen verbunden sind und warum es der Kommunikation bedarf, um gesellschaftliche Meinungs- und Willensbildung zu bewirken. Um die Frage zu beantworten, wo, wie und was als Nachhaltigkeit kommuniziert wird, unterscheidet er verschiedene gesellschaftliche Bereiche (z. B. Politik, Bildung, Wirtschaft), verschiedene Intentionen (Kommunikation von, über und für Nachhaltigkeit) sowie inhaltliche Varianten (Nachhaltigkeit als Umweltschutz oder als humanitäre Aufgabe zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse). Eine exemplarische Medienanalyse, in der sowohl Umfang als auch die Art der Verwendung des Nachhaltigkeitsbegriffs in deutschen Printmedien untersucht wurde, zeigt Veränderungen in der Nachhaltigkeitskommunikation zwischen 2001 und 2013. Der Beitrag schließt mit dem Plädoyer, die Idee der Nachhaltigkeit wieder stärker mit Diskussionen in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen zu verknüpfen, um die Verständigung über Werte und Zukunftsfragen zu beflügeln.

Zu erinnern ist an die Grundannahme dieses Kompendiums, dass konkurrierende Verständnisse von Nachhaltigkeit nicht nur disziplinär, sondern auch kulturell geprägt sind. Da im deutschsprachigen Raum dank Hans Carl von Carlowitz die ‚Erfindung‘ der Nachhaltigkeit als Konzept und Praxis der Forstwirtschaft zugeschrieben wird, darf ihre Perspektive auf die Diskursentwicklung nicht fehlen, zumal hier eine besonders intensive und kritische Auseinandersetzung mit Begriff und Konzept stattgefunden hat. Roderich von Dettens Bestandsaufnahme in der forstlichen Praxis und in den Forstwissenschaften zeigt, dass das Konzept vor allem im Kontext der charakteristischen Anforderungen von Langfristentscheidungen unter den Bedingungen von Komplexität, Risiko und Unsicherheit wirksam werden konnte. Hier entlastet der Gebrauch des Nachhaltigkeitsbegriffs und verschiebt die Problematik des Entscheidens unter Unsicherheit auf die Ebene eines ethischen Anspruchs und wirkt auf rhetorischer Ebene kompensierend. Die Vielfalt der Nachhaltigkeitsverständnisse ist kennzeichnend für die Geschichte der Waldbewirtschaftung: Über die vergangenen drei Jahrhunderte hat sich der semantische Umfang des Nachhaltigkeitsbegriffs – auch durch Einflüsse der globalen Debatte um eine ‚nachhaltige Entwicklung‘ – sehr stark ausgeweitet. Dass es der Begriff nicht erlaubt, die praktische Bewirtschaftung von Wäldern konkret und eindeutig anzuleiten, zeigen zahlreiche Beispiele ‚nachhaltiger Planungen‘, deren tatsächliche ‚Nachhaltigkeit‘ oft erst über 100 Jahre später beurteilt werden kann. Nachhaltigkeit im Sinne des fortwährenden Erhalts eines Naturgutes bedeutet daher vor allem, dass mit dem Unvorhersehbaren gerechnet werden muss. Forstliche Nachhaltigkeit, so schließt von Detten, ist also die über Jahrhunderte erworbene Fähigkeit, sich darauf so gut es geht einzustellen.

Damit rückt die Diskussion um Nachhaltigkeit in die Nähe der Resilienz, die in einigen Disziplinen als Alternativkonzept oder notwendiges Komplementärkonzept ins Spiel gebracht wird. Auch und gerade die Nachhaltigkeitswissenschaft interessiert sich für die Geschichte und Konturen von Nachhaltigkeitskonzepten und ihre praktische Relevanz, ohne jedoch derart eng wie etwa die Forstwirtschaft an disziplingeschichtliche Entwicklungen gebunden zu sein. Das relative junge, sich erst seit der Jahrtausendwende etablierende Forschungsfeld verbindet selektiv diverse Ansätze und Methoden aus anderen Fachgebieten, denn die globale Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung fordert einen gesamtgesellschaftlichen Prozess, um die Mensch-Umwelt-Beziehungen auf eine nachhaltige Basis zu stellen. Cordula Ott legt dar, welche transdisziplinären Konzepte und Praktiken die Nachhaltigkeitswissenschaft beisteuert, um dieses Ziel zu erreichen. Das Kapitel erläutert, welche Akteure, Werte und Wissensarten sich integrieren lassen und wie demokratische Wissensgenerierung und gleichberechtigte Teilhabe ermöglicht und gefördert werden können, so dass Legitimität und Effektivität einer eigentlichen globalen Nachhaltigkeitsgouvernanz wachsen. Dank der Verweise auf Meilensteine der internationalen und interdisziplinären Debatte über Nachhaltigkeit übernimmt auch dieses Kapitel eine einführende Funktion in diesem Kompendium.

Während das Kapitel zu Nachhaltigkeitsgouvernanz aufzeigt, wie eine gesamtgesellschaftliche Transformation zur Nachhaltigkeit schrittweise realisiert werden kann, erinnert das Kapitel zur Landwirtschaft zunächst wieder daran, wie nachhaltiges Wirtschaften in langer Tradition immer schon praktiziert wurde, um die natürlichen Ressourcen für das Gedeihen der Kulturpflanzen über Generationen hinweg zu erhalten. Hanns-Heinz Kassemeyer skizziert eine komplexe Entwicklung: Durch die Technisierung der Landwirtschaft wurden die Erträge erheblich gesteigert und die Produktionskosten gesenkt. Die Folgen der industrialisierten Produktion waren jedoch eine Verarmung der Kulturlandschaft und ein Rückgang der Biodiversität. In den letzten Jahrzehnten haben Forschung und Praxis der Agrarökologie gezeigt, dass eine hohe Artenvielfalt und eine reich strukturierte Agrarlandschaft gerade in der mechanisierten Landwirtschaft einen hohen Mehrwert besitzen. Ein vielfältiges und intaktes Agroökosystem erbringt eine Reihe von Dienstleistungen, die in vielen Fällen die Anwendung von Agrochemikalien wie Pestiziden und Düngemitteln ersetzen können, so dass nützliche Insekten und Milben die Population tierischer Schaderreger in Schach halten und ein aktives Bodenleben wesentlich zum Erhalt der Bodenfruchtbarkeit beiträgt. Dank des Wissens über diese ökosystemischen Dienstleistungen haben nachhaltige Produktionsverfahren wieder einen hohen Stellenwert in der Landwirtschaft erhalten. Das Kapitel stellt exemplarisch nachhaltige Verfahren im oberrheinischen Weinbau vor, die sich in der Praxis bereits bewährt haben.

Mit Entscheidungsfragen rund um die Gestaltung von Kulturlandschaften befasst sich auf einer anderen Ebene auch die Raum- und Stadtplanung. Eine nachhaltige Raumentwicklung ist verknüpft mit einem Ausgleich sozialer und wirtschaftlicher Ansprüche an die Nutzung des begrenzten Raums im Einklang mit seinen ökologischen Funktionen. Christian Lamker beleuchtet die auf Ebene von Städten und Gemeinden stattfindende Diskussion um eine nachhaltige bauliche und infrastrukturelle Gestaltung von Städten und Stadtquartieren sowie die auf regionaler bis nationaler Ebene ausgetragene Debatte um Fragen der Daseinsvorsorge, deren Ziel letztlich gleichwertige Lebensverhältnisse in allen Teilräumen Deutschlands sind. Neue Aktualität gewinnen derzeit Diskussionen um nachhaltiges Flächenmanagement und Wohnraumversorgung im Zusammenhang mit der Integration der Sustainable Development Goals (SDGs) der Vereinten Nationen auf nationaler Ebene. In Anbetracht der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie (2002, Neuauflage 2016), die eine Reduzierung der Neuinanspruchnahme von Siedlungs- und Verkehrsflächen fordert, ist die angestrebte nachhaltige Flächenentwicklung – so zeigt Lamker am Fallbeispiel deutschen Flächenverbrauchs und -managements – ein komplexes, kontroverses und konfliktreiches Thema. Lamker empfiehlt, die Nachhaltigkeitsdebatte kontinuierlich fortzusetzen, konstruktiv mit anderen Diskursen zu verbinden und auf diesem Fundament kreative Ansätze zur Reduktion der Flächenneuinanspruchnahme zu entwickeln und zu erproben.

Auch die Humangeographie hat sich schon früh theoretisch und empirisch mit Nachhaltigkeitskonzepten befasst. Gegenstand einer humangeographischen Nachhaltigkeitsforschung ist die räumliche Differenzierung von nachhaltigen und nicht nachhaltigen Entwicklungen auf unterschiedlichen räumlichen und administrativen Ebenen. Hartmut Fünfgeld und Samuel Mössner stellen Ansätze aus unterschiedlichen Teildisziplinen und Forschungsfeldern der Humangeographie vor: Während die Stadtgeographie sich mit der Implementierung und Mobilisierung von Green-City- resp. Eco-City-Politiken beschäftigt, werden aus Sicht einer Geographie von Gesellschaft und Umwelt die Adaption und Resilienz gegenüber Klimawandelfolgen untersucht. Wirtschaftsgeographische Ansätze fokussieren Prozesse der Transition und Green Economies; die Politische Geographie hingegen widmet sich Manifestationen von sozialer Ungerechtigkeit und der Konstruktion von Machtverhältnissen durch Nachhaltigkeitsinitiativen und -politiken. Diese Vielfalt von Ansätzen und Gegenständen demonstriert die Berührungs- und Anknüpfungspunkte zwischen Humangeographie und anderen Disziplinen, bevor in zwei Fallstudien die Nachhaltigkeitsstrategien von Münster und Melbourne, zweier vielgepriesener Vorzeigestädte, diskutiert werden.

Mit urbaner Nachhaltigkeit beschäftigt sich auch Philippe Hamman in einem Beitrag aus der Perspektive der (Stadt-)Soziologie, der bei seinen Fallbeispielen verschiedene Aspekte der Stadt Strasbourg – von der Ökomobilität über Energieversorgung und -verbrauch bis zum ‚Ökoviertel‘ – in den Blick nimmt und dabei verschiedene Konzepte und Praktiken in Relation zueinander setzt. Zunächst führt er jedoch differenziert in die soziologischen Nachhaltigkeitsdiskurse ein, schwerpunktmäßig in diejenigen aus dem frankophonen Raum. Im Abgleich mit den im Zuge der Globalisierung immer dominanteren englischen Begrifflichkeiten ebenso wie mit den deutschsprachigen (vermeintlichen) Äquivalenten treten neben sprach- und kulturbedingten Unterschieden auch konzeptuelle Differenzen zutage. Hammans Beitrag identifiziert die drei wichtigsten Dialektiken, die in der Forschung Beachtung gefunden haben: zwischen global und lokal, zwischen kurz- und langfristig sowie zwischen Grundsätzen und Anwendung. Vor diesem Hintergrund evaluiert Hamman den Wert der ‚Nachhaltigkeit‘ als Paradigma, reagiert aufzunehmende Kritik am Konzept der ‚nachhaltigen Entwicklung‘ und diskutiert die je nach Interpretation konkurrierenden oder verwandten Konzepte von Resilienz und Transition. Hierbei werden sämtliche Dimensionen des Nachhaltigkeitsbegriffs bedacht: weltanschauliche, analytische, diskursiv-narrative, utopische, politische, praktische und wissensgenerierende.

Praktische und wissensgenerierende Aspekte vereint auch das Kapitel von Rebekka Volk, das sich Konzepten von Nachhaltigkeit in der Betriebswirtschaft widmet. Es geht dabei auf ein weiteres Anliegen dieses Kompendiums ein: das Aufzeigen von Möglichkeiten potenziell nachhaltigen Konsums in ihrer Komplexität, Vielschichtigkeit und auch Widersprüchlichkeit. Im Unterschied zu populärwissenschaftlicher Ratgeberliteratur möchte dieses Kompendium zeigen, dass dem Wunsch nach einem nachhaltigeren Leben auf Seiten der Konsumentinnen und Konsumenten oft ein Informationsdefizit im Weg steht und dass die Bewertung von nachhaltigem Konsumverhalten nur auf Basis wissenschaftlicher Studien und Erkenntnisse möglich ist, nicht aber aufgrund intuitiver Einschätzungen. Zu vielschichtig sind die diversen Aspekte und Komponenten, die zu berücksichtigen sind. Rebekka Volk beleuchtet die Problematik hinsichtlich der Messbarkeit von Nachhaltigkeit, der Definition von Indikatoren sowie ihrer Gewichtung und diverser Zielkonflikte zwischen unterschiedlichen Aspekten von Nachhaltigkeit. Dabei setzt sie sich mit verschiedenen aktuellen Handlungsfeldern in betriebswirtschaftlichen Wertschöpfungsketten auseinander. Sie diskutiert Effizienz-, Suffizienz- und Konsistenzstrategien, Technologiewechsel, die Kreislaufführung von Produkten bzw. Rohstoffen und die Einführung von transparenten Umweltmanagementsystemen anhand von zwei Fallstudien zu nachhaltigem Produktdesign (Automobilindustrie und Gebäudesanierung im Zeichen der Energiewende). Volk konstatiert eine Reihe von Defiziten, Hemmnissen und Interessenskonflikten bei der praktischen Umsetzung von Nachhaltigkeit im betriebswirtschaftlichen Kontext und plädiert für Systemänderungen, etwa durch disruptive Technologien, politische Entscheidungen und Instrumente (wie etwa den europäischen CO2-Emissionszertifikatehandel), neue Geschäftsmodelle (beispielsweise Sharing-Konzepte) und gesteigerte Produktverantwortung von Herstellern.

Der Komplexität und den Herausforderungen von nachhaltigem Konsum widmet sich ganz zentral auch das Kapitel von Rainer Grießhammer, Corinna Fischer, Dietlinde Quack und Franziska Wolff, die Nachhaltigkeit aus dem Blickwinkel der Produkt- und Konsumforschung betrachten. Auch dieser Beitrag setzt sich mit der Nachhaltigkeitsbewertung von Produkten auseinander, einem Bereich, in dem Rainer Grießhammer und die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen des Öko-Instituts als Pioniere gelten. Das Kapitel referiert die Geschichte des nachhaltigen Konsums in einer Zusammenschau mit der Entwicklung der Ökobewegung und erläutert Analysewerkzeuge der Nachhaltigkeitsbewertung. Dabei stellt es Konzepte wie Ökobilanz, Lebenszykluskostenrechnung, Sozialbilanz und Produktnachhaltigkeitsanalyse vor. Es differenziert zwischen ökologischem und nachhaltigem Konsum, für dessen Bewertung zusätzlich zur Umweltbelastung auch soziale und volkswirtschaftliche Aspekte in Betracht gezogen werden. In beiden Bereichen wird der derzeitige Entwicklungsstand trotz einer Vielzahl an internationalen Abkommen und Deklarationen zur Förderung von Nachhaltigkeit als ungenügend eingestuft. Grießhammer, Fischer, Quack und Wolff besprechen Hemmnisse für nachhaltigen Konsum und stellen anhand einer Fallstudie zum Fahrradverkehr eine Transformationsmatrix mit sechs Schwerpunkten vor, die als Basis einer Strategie zum Erreichen von nachhaltigem Konsum dienen kann. Grießhammer und seine Ko-Autorinnen verstehen den Weg dorthin als komplexen Transformationsprozess.

Diese Sichtweise bekräftigen auch Isabel Jaisli und Emilia Schmitt, die in ihrem Kapitel zur Ernährungsgeographie zeigen, welche tiefgreifenden Veränderungen vonnöten wären, um das Ernährungssystem nachhaltig zu machen, und wie komplex die Bewertung von Nachhaltigkeit in diesem Kontext ist. Jaisli und Schmitt plädieren daher für einen holistischen Ansatz, der – ganz im Sinne dieses Kompendiums – verschiedenste Aspekte mit einbezieht, die nach der Expertise unterschiedlicher Disziplinen verlangen. Eine holistische Betrachtung des Ernährungssystems legt den Fokus demnach nicht nur auf naturwissenschaftlich-technische Aspekte der Nahrungsmittelproduktion, sondern berücksichtigt auch Erkenntnisse aus den Geistes-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. Mithilfe von Fallstudien zu lokaler Ernährung, biologischer Produktion, fairem Handel und Fleischkonsum gelingt es Jaisli und Schmitt, Konflikte zwischen diversen Dimensionen von Nachhaltigkeit herauszuarbeiten und zu zeigen, dass neben Politik und Wirtschaft auch die Konsumentinnen und Konsumenten selbst gefordert sind, sich den vielschichtigen Herausforderungen auf dem Weg zu einem nachhaltigen Ernährungssystem zu stellen und ihren Beitrag zu leisten.