Mehrsprachigkeit in der Schule

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Mehrsprachigkeit in der Schule
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Christian Helmchen / Sílvia Melo-Pfeifer / Julia von Rosen

Mehrsprachigkeit in der Schule

Ausgangspunkte, unterrichtliche Herausforderungen und methodisch-didaktische Zielsetzungen

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© 2021 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

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Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de

ISSN 2197-6384

ISBN 978-3-8233-8305-5 (Print)

ISBN 978-3-8233-0290-2 (ePub)

Inhalt

 Einleitung: Warum ein weiteres Buch über Mehrsprachigkeit in der Schule?1 Ausgangspunkte und Desiderate für eine erneute Forschungsagenda für die Mehrsprachigkeitsdidaktik2 Zusammenfassung der Kapitel2.1 Mehrsprachigkeit in der Schule: Theoretische und politische Ausgangspunkte2.2 Konkrete unterrichtliche Herausforderungen und methodisch-didaktische Zielsetzungen3 Literatur

  Zur curricularen Verankerung sprachenübergreifender Kompetenzen 1 Einführung 2 Sprachenübergreifende Kompetenzen im Verständnis der Thüringer Lehrpläne für den Sprachunterricht 3 Über Sprache, Sprachverwendung und Sprachenlernen reflektieren – ein neuer Lernbereich für den Sprachunterricht in Thüringen 4 Sprachenübergreifende Kompetenzentwicklung im Lern-und Leistungsraum 5 Sprachenübergreifendes Lernen und Lehren als ein Element von Schulentwicklung 6 Literatur

 20 ans d’études sur l’Intercompréhension plurilingue: « empire des sens » ou « liaisons dangereuses » ? Une étude exploratoire du réseau conceptuel de l’intercompréhension1 Introduction2 La nature des concepts: y-a-t-il des concepts contre nature?3 Étude empirique3.1 Contexte de recherche et la base de données3.2 La méthodologie: conceptualisation d’un modèle gravitationnel pour le concept d’IC4 Analyse des résultats: description du réseau conceptuel4.1 L’empire des sens4.2 Liaisons dangereuses5 Questions et problèmes6 Synthèse, limites et perspectives7 Références

 Mehrsprachige Kompetenz evaluieren – Der Fall der Interkomprehension1 Einleitung2 Evaluation der kommunikativen Kompetenz3 Evaluation der mehrsprachigen Kompetenza. Das Konzept der mehrsprachigen Kompetenz in Evaluationsverfahrenb. Ansätze zur Evaluation der mehrsprachigen Kompetenzc. Beispiele4 Perspektiven5 Literatur

 Das Europäische Sprachenportfolio als Spiegel von Mehrsprachigkeit: Förderung der Language Awareness1 Einleitung2 Language Awareness2.1 Language Awareness – Sprach(en)bewusstheit2.2 Mehrsprachigkeitsdidaktik: Sprachenbewusstheit2.3 Plurale Ansätze: Éveil aux langues3 Das Europäische Sprachenportfolio4 Empirischer Forschungsstand zur Language Awareness im Europäischen Sprachenportfolio5 Implikationen für die Förderung der Language Awareness mittels des Europäischen Sprachenportfolios5.1 Kritik an den bestehenden Verknüpfungen5.2 Weiterentwicklungen5.3 Schlussfolgerungen für den Fremdsprachenunterricht auf Basis der Kritik und Weiterentwicklungen6 Ausblick7 Literaturvezeichnis

  Multilingualism at school: starting points, teaching challenges and methodological-didactic objectives 1 Introduction 2 Multilingual Sydney 3 Languages Education provision in New South Wales 4 Language provision in early childhood and primary years 5 Language provision in primary years 6 Language provision in secondary years 7 Aboriginal Languages 8 Language learning silhouettes 9 The inclusion of languages – what do our pre-service teachers think about multilingualism in Australia? 10 Conclusion 11 References

  Teaching Portuguese as a Heritage and a Pluricentric Language: insights from an ethnographic study in a bilingual primary school in Germany 1 Introduction 2 On Heritage and Pluricentric Languages 3 Portuguese Language Diversity in the first school years 4 Moving towards an understanding of Portuguese as a Pluricentric Language at school 5 Pluricentric Language Competence Framework for the teaching of PHL: pedagogical implications 6 Conclusion 7 References

 Förderung mehrsprachiger literaler Kompetenzen durch plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen – Überlegungen zum Beitrag von Schule und Elternhaus1 Einleitung2 Mehrsprachige literale Kompetenzen3 Mehrsprachige und plurikulturelle Kompetenz3.1 Plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen3.2 Der Referenzrahmen für Plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen (REPA)4 Vorschläge zur Förderung mehrsprachiger literaler Kompetenzen mit Unterrichtsmaterialien und Projekten4.1 Der Éveil aux langues-Ansatz im Fremdsprachenunterricht4.2 Elternarbeit im Kindergarten und in der Vorschule4.3 Integrierte Sprachendidaktik und mehrsprachige Textarbeit in der Sekundarstufe I4.4 Unterstützende Elternarbeit in der Schule (Sekundarstufe I)5 Abschließende Überlegungen6 Literatur

  „Muttersprachler/innen“ im Fremdsprachenunterricht 1 Problemaufriss und Hinweise zum Forschungsstand 2 Zwischenergebnisse des Projekts „Schülerinnen und Schüler mit zielsprachlichem Hintergrund im Unterricht der romanischen Sprachen“ 3 Die Perspektive der Schülerinnen und Schüler – 10 ausgewählte Aspekte aus Befragungen zum Spanischen, Portugiesischen und Italienischen als schulischen Fremdsprachen 4 Schulpraktische Aspekte – state of the art der unterrichtsmethodischen Forschung 5 Bibliographie

 Sprachbewusstheit durch Sprachvergleich: Überlegungen und Vorschläge aus der Schulpraxis1 Einleitung1.1 Was wird in der Fremdsprachendidaktik erörtert?1.2 Was fordert die Bildungspolitik?2 Sprachenübergreifendes Arbeiten in der Schulpraxis2.1 Sprachvergleich als ergänzende Methode des Fremdsprachenunterrichts2.2 Sprach(en)bewusstheit und Sprachlernkompetenz3 Schulische Ausgangssituation3.1 Das Prinzip der sprachenübergreifenden Module3.2 Vorstellung von zwei exemplarischen Modulen4 Zusammenfassung und Ausblick5 Fazit6 Bibliographie

 

  Schülerseitige Interaktion in der Sekundarstufe I bei der Bearbeitung von Aufgaben im Bereich der Mehrsprachigkeitsdidaktik 1 Einleitung 2 Das Projekt „mehrsprachigkeitsdidaktisch ausgerichtete Aufgaben und schülerseitige Interaktion in der Sekundarstufe I“ 3 Analyse der Interaktion der SchülerInnen 4 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen 5 Literatur

 (Mis)adventures of a teacher of Portuguese for refugee women in Brazil1 Introduction2 Portuguese Welcoming Language: what does it mean?3 Methodology3.1 Autoethnography3.2 Context3.3 Data organization3.4 Participants4 Analysis4.1 Initial confrontation4.2 Teacher towards sensitization5 Conclusions6 ReferencesAnnex

 Por qué integrar la intercomprensión en la formación de estudiantes de Letras y de qué manera es posible hacerlo a partir de la experiencia de la Universidad Federal de Paraná (UFPR), Brasil.1 Introducción2 Curricularización de la intercomprensión en las universidades latinoamericanas3 La experiencia en los grados de Letras de la UFPR4 La programación de la optativa ICLR como curso de verano en 20205 Apuntes sobre las actividades: producción y evaluación5.1 Primera actividad: Lectura integrada de noticias en varias lenguas5.2 Segunda actividad: Intercomprensión oral en una entrevista5.3 Tercera actividad: Lectura y audio de cuentos en occitano5.4 Cuarta actividad: Reflexión metalingüística6 Conclusiones y perspectivas7 Referencias bibliográficas

 Die Förderung der Mehrsprachigkeit in der Schule: die neue Evidenz!1 Einleitung und Kontext2 Interkultureller Dialog als Grundpostulat3 Die Grenzen der Lingua franca4 Die Wege zu den sog. Pluralen Ansätze zu Sprachen und Kulturen4.1 Was versteht man eigentlich unter Mehrsprachigkeit ?4.2 Das mehrsprachige Repertoire4.3 Proximität und Distanz5 Synthese und Schlussfolgerung6 Bibliographie

  Beiträger und Beiträgerinnen

Einleitung: Warum ein weiteres Buch über Mehrsprachigkeit in der Schule?

Sílvia Melo-Pfeifer / Julia von Rosen

1 Ausgangspunkte und Desiderate für eine erneute Forschungsagenda für die Mehrsprachigkeitsdidaktik

Die Mehrsprachigkeitsdidaktik, die wir in diesem Buch nicht auf Interkomprehension reduzieren, sondern im Prinzip auf alle Pluralen Ansätze und andere pädagogische Herangehensweisen (wie „translanguaging“, García & Li 2014; für die pluralen Ansätze, Candelier et al. 2012; Melo-Pfeifer & Reimann 2018; für sprachübergreifende pädagogische Herangehensweisen Kirsch & Duarte 2020; Morkötter, Schmidt & Schröder-Sura, 2020) erweitern, hat in den letzten Jahrzehnten eine beachtliche Entwicklung erfahren, sowohl theoretisch als auch empirisch. Wie Hu feststellt, „ist gerade in den didaktischen Forschungsbereichen eine Hinwendung zu spezifisch mehrsprachigkeitsorientierten Ansätzen, die die traditionelle Ausrichtung auf eine sogenannte Zielsprache zugunsten einer mehrsprachigen Perspektive öffnen und die Sprachlernerfahrungen sowie die mehrsprachigen Praktiken der Lernenden wie z. B. Translanguaging als Lernpotential zu erkennen (Hu 2016, 11). Laut Lüdi bringen diese Forschungsentwicklungen zwei Neuerungen mit sich: „die Überwindung langlebiger Vorurteile, die auf der Basis einer „Ideologie der Einsprachigkeit“ in der sprachlichen Vielfalt Nachteile für die Kohäsion der Gesellschaft und für die Einheit der Persönlichkeit befürchteten“ (Lüdi 2018, 134) und „[den] Abschied von der Vorstellung der „doppelten Einsprachigkeit“ (ibidem).

Angesichts der Fülle an innovativen Forschungsprojekten im nationalen und internationalen Kontext, die alle auf der Einsicht in die vielfältige Relevanz von Mehrsprachigkeitsdidaktik beruhen, ist es erstaunlich zu beobachten, dass eine dauerhafte Diskrepanz zwischen politischen und theoretischen Aufforderungen zur systematischen Implementierung vernetzten Sprachenlernens im Fremdsprachenunterricht gegenüber einer alltäglichen Praxis der Lehrkräfte besteht, die so stabil wie immer zu sein scheint, obwohl Studien gezeigt haben, dass zahlreiche Lehrkräfte eine positive Einstellung gegenüber individueller, gesellschaftlicher und schulischer Mehrsprachigkeit haben (Heyder & Schädlich 2014; Lundberg 2020; Melo-Pfeifer 2020). Dieses Phänomen genauer zu verstehen und nach Lösungsansätzen zu suchen, ist ein erklärtes Ziel dieses Bandes.

Im Bereich der Sprachendidaktik haben sich in der Fachliteratur einige spezielle Bereiche herauskristallisiert, von der Untersuchung der Vorstellungen von Lehrkräften und Schüler*innen über Mehrsprachigkeit und mehrsprachige Didaktik bis hin zu wahrgenommenen und realen Schwierigkeiten bei der Integration von Mehrsprachigkeit in verschiedenen Unterrichtssettings und Fächern und der Notwendigkeit, Lehrkräfteausbildungsprogramme zu implementieren, die besser in der Lage sind, die Kompetenzen, das Wissen und die Einstellungen von Lehrkräften zu entwickeln, um Mehrsprachigkeitsdidaktik als zeitgemäße Pädagogik anzunehmen (z. B. Vetter 2013).

Das bedeutet, dass die Forschung, um die Persistenz des monolingualen Habitus (Gogolin 1994) im Fremdsprachenunterricht zu verstehen, über den üblichen Forschungsapparat und -modus hinausgehen muss. Statt selbstberichteter Praktiken und Einstellungen von Lehrkräften und Schüler*innen durch Interviews und Fragebögen könnten neue Erkenntnisse aus der direkten Beobachtung des Fremdsprachenunterrichts gewonnen werden, nämlich daraus, wie Lehrkräfte mit mehrsprachigen Ressourcen arbeiten bzw. wie sie tatsächlich mit mehrsprachigen Kontexten und mehrsprachigen Schüler*innen umgehen. Auch die Wirksamkeit mehrsprachiger Didaktik beim Fremdsprachenlernen ist noch schlecht erforscht, und abgesehen von kurzfristigen und kleinräumigen empirischen Studien fehlt es noch an empirischen Belegen für die Nachhaltigkeit mehrsprachigkeitsorientierter Ansätze für die Entwicklung von fremdsprachlichen Kompetenzen der Lernenden im schulischen Kontext. Trotz des Wunschdenkens und der erneuerten Diskurse (die von einer unausweichlichen Normativität geprägt sind) rund um Mehrsprachigkeit sind die monolingualen Praktiken im Klassenzimmer also die widerständigen „Gaulois“ in der Arena der widersprüchlichen didaktischen und pädagogischen Theorien, der Lehrer*innenpraktiken, der Fremdsprachenunterrichtspolitik und der gesellschaftlichen Perspektiven und Diskurse.

Eine weitere, noch unzureichend beantwortete Frage betrifft die Bewertung mehrsprachiger Repertoires, die Evaluation mit mehrsprachigen Ansätzen und die Instrumente, die es erlauben, eine monolinguale Denkweise in der Praxis und der Bewertung zu überwinden. Trotz der Aufforderung an Lehrkräfte, schulische und gesellschaftliche Mehrsprachigkeit zu nutzen, um das Sprachenlernen zu verbessern, werden die Verwendung von Lehrmaterialien und die Praxis der Bewertung durch einen fortgesetzten monolingualen Habitus ausgebremst, der wenig Platz für einen „multilingual turn“ (May 2014) in der Sprachausbildung lässt (vgl. Hülsmann, Ollivier & Strasser 2020, für Innovationen in Bereich Interkomprehension und Bewertung).

Hinzu kommt, dass trotz aller Fortschritte auf dem Gebiet der Mehrsprachigkeitsdidaktik praktizierte Mehrsprachigkeit in der Regel nicht von den Lehrkräften selbst dargestellt wird, die solche pädagogischen Konzepte umsetzen, und auch nicht aus einer Perspektive, die die Überschneidungen zwischen den mehrsprachigen Repertoires der Schüler*innen, ihrem Geschlecht und ihrer soziokulturellen Identität berücksichtigt. Diese Themen werden in einigen Beiträgen dieser Publikation behandelt. Das bedeutet, dass die Forschung über Mehrsprachigkeitsdidaktik und plurilinguale Ansätze eher ohne Lehrkräfte als Mitforschende entwickelt wurde. In dieser Publikation wollen wir dieser Tendenz entgegenwirken, indem wir Berichte von Lehrkräften aus ihrer eigenen Praxis vorstellen, indem sie entweder auf die Perspektive der Aktionsforschung zurückgreifen oder eine autoethnographische Haltung (Chang 2008) einnehmen. Der Fragenkomplex, wie sich Mehrsprachigkeit mit anderen Aspekten individueller Identitäten überschneidet, wird in dieser Publikation als ein Forschungsfeld in den Vordergrund gerückt, das weiterentwickelt werden sollte.

Als Forschungsdesiderate sehen wir ebenfalls die präzise Beobachtung des dynamischen Geschehens im Klassenzimmer in mehrsprachigen und interkulturellen Settings, die unter einer kaleidoskopischen Perspektive erfolgen sollte, um genauer zu analysieren, wie Integration, Diskriminierung, Machtverhältnisse und Hierarchien im Sprachunterricht etabliert werden, die aus der Beziehung zwischen Sprecher*innen unterschiedlicher Sprachen (wo wir sowohl die Schülerschaft, Lehrkräfte aber z. B. auch Eltern inkludieren) hervorgehen. Auch wenn Studien zu den Auswirkungen von Geschlecht, sexueller Orientierung, soziokultureller Identität und Ethnie sowie Mehrsprachigkeit getrennt voneinander zu vielen validen Ergebnissen darüber kommen, wie sich Machtdynamiken entwickeln und ausgeübt werden, haben die Studien zur Mehrsprachigkeit überwiegend Fragen analysiert, die sich „nur“ auf die Sprache(n) – und nicht so sehr auf Sprachvarietäten – beziehen. Obwohl dies ein aus unserer Sicht gültiger Standpunkt ist, behaupten wir, dass diese Studien davon profitieren könnten, andere, erweiterte Perspektiven einzunehmen, wie z. B. die der „raciolinguistic perspective“ (Rosa & Flores 2017).

2 Zusammenfassung der Kapitel

Dieses Buch ist in zwei Abschnitte gegliedert, die klar definiert sind, aber eng miteinander zusammenhängen. Der erste Teil trägt den Titel „Mehrsprachigkeit in der Schule: Theoretische und politische Ausgangspunkte“ und der zweite trägt den Titel „Unterrichtliche Herausforderungen und methodisch-didaktische Zielsetzung“.

2.1 Mehrsprachigkeit in der Schule: Theoretische und politische Ausgangspunkte

Der erste Teil umfasst vier Kapitel, die explizit auf die theoretischen Grundlagen für eine kontinuierliche und strukturierte Arbeit mit Mehrsprachigkeit im Regelschulwesen hinweisen. Diese strukturierte Arbeit beinhaltet die Kenntnis der Dokumente, die die Umsetzung der Pluralen Ansätze im Sprachunterricht einrahmen, sowie das kritische Verständnis von Begriffen und die Notwendigkeit, Evaluation auch als eine mehrsprachige Praxis zu konzeptualisieren.

 

Der Beitrag von Ursula Behr zeigt anhand der Genese und der methodisch-didaktischen Ausrichtung der Thüringer Lehrpläne, inwiefern die von politischen Institutionen (u.a. der Kultusministerkonferenz in den von ihr formulierten Bildungsstandards) und der einschlägigen fremdsprachendidaktischen Forschung erhobenen Forderungen nach einem verstärkten mehrsprachigkeitsorientierten Konzept des Sprachunterrichts für Deutschland in Thüringen Realität geworden sind. Behr erläutert u.a. anhand konkreter Rahmenplanauszüge, welche Kompetenzen, Operatoren und Methoden für die jeweiligen Jahrgangsstufen gelten und betont dabei einerseits die Bedeutung von Sprachlernkompetenz und Sprachbewusstheit als den beiden zentralen „Querschnittskompetenzen“, die für das sprachenübergreifende Lernen wesentlich sind; andererseits weist sie darauf hin, dass die Einbeziehung der eigenen Muttersprache unverzichtbar sei, um das ganze Potenzial des Ansatzes auszuschöpfen. Abschließend geht Behr darauf ein, welche positive Relevanz die systematische Verbindung und Zusammenführung sprachlichen Lernens innerhalb einer Schule für den Bereich der Schulentwicklung haben können, z. B. durch die Einführung einer gemeinsamen „Fachkonferenz Sprachen“.

Sílvia Melo-Pfeifer und Ana Sofia Pinho identifizieren die Forschungsobjekte, die den Studien zur Interkomprehension (IK) zugrunde liegen, durch die Konstruktion eines Analysemodells, das die von J.-P. Calvet vorgeschlagene Metapher des „Gravitationsmodells“ für Sprachen einerseits und die Conceptual Map als Analyse- und Interpretationsinstrument andererseits kreuzt. In Anbetracht der „kompositorischen Heterogenität“ des hier als „hyperzentral“ angenommenen Konzepts der IK werden in dieser Studie die Beziehungen zwischen den verschiedenen „superzentralen“ und „peripheren“ Konzepten, die dieses konzeptuelle Netz bilden, aufgezeigt. Die Zusammenhänge werden mit Hilfe von zwei weiteren Metaphern interpretiert: „Reich der Sinne“ und „gefährliche Beziehungen“ im Zentrum dieses Netzes.

Christian Ollivier und Margareta Strasser stellen in ihrem Beitrag verschiedene Konzepte und Modelle von Testverfahren vor, mit denen mehrsprachige Kompetenzen, insbesondere die Interkomprehension, evaluiert werden können. Als zentrale Zielsetzung benennen sie ein möglichst authentisches Testsetting sowie die Integration möglichst vieler (mehr-)sprachiger Kompetenzen. Entsprechend sind die im Beitrag skizzierten Beispiele gegliedert: Ausgehend von introspektiven Verfahren auf der Grundlage von Portfolio-Arbeit über additive Verfahren (z. B. mit dem Konzept EuroComRom) präsentieren die Autor*innen bestehende Modelle, die das Prinzip der Integration zumindest in Teilen bereits realisieren (Intermar, MAGICC), um schließlich das von ihnen entwickelte Projekt EVAL-IC vorzustellen, das dem Anspruch eines holistischen und authentischen Testverfahrens am weitesten gerecht werde. Hier würden die für die Interkomprehension relevanten kommunikativen Kompetenzen (rezeptive und interaktionale Interkomprehension sowie Interproduktion) im Rahmen eines „Szenarios“ bewertet, bei dem die Lernenden (hier Studierende) eine Konferenzsituation simulieren, die von ihnen durch das Durchlaufen der unterschiedlichen organisatorischen, sozialen und kommunikativen Settings verlangt, alle genannten mehrsprachigen Kompetenzen zu zeigen.

Ziel des Artikels von Lisa Marie Brinkmann ist es, auf Grundlage von theoretischen Schlussfolgerungen das Potenzial herauszuarbeiten, wie das Europäische Sprachenportfolio (ESP) Language Awareness fördern kann. Language Awareness wird als Konzept verstanden, das auf unterschiedliche Didaktiken anwendbar ist, darunter die europäische Mehrsprachigkeitsdidaktik und ihr Konzept von éveil aux langues. Das ESP ist ein dreigeteiltes Portfoliodesign des Europarats (geteilt in einen Sprachenpass, eine Sprachenbiografie und ein Dossier), dessen Ziel die Förderung von Lernendenautonomie, Mehrsprachigkeit und interkulturellen Kompetenzen im Kontext des Fremdsprachenunterrichts ist. Es wird hinsichtlich seiner Ziele und Wirkungen bezüglich Mehrsprachigkeit und konkret bezüglich Language Awareness analysiert. Der Forschungsstand zeigt, dass bisherige Verknüpfungen zwischen dem ESP und der Language Awareness sich vor allem auf die Sprachenbiografie beziehen. Die Autorin argumentiert dafür, den Sprachenpass, das Dossier sowie die gesamte Arbeit am ESP für die Förderung der Language Awareness miteinzubeziehen. Es stellt sich heraus, dass dies im Sprachenpass umgesetzt werden kann, indem über Sprache und Kultur reflektiert wird und die Lernenden ihre Sprachenidentität entwickeln; in der Sprachbiografie, indem über Sprache reflektiert wird; im Dossier, indem die Erkenntnisse der Schüler*innen über Sprachen dokumentiert werden; und im gesamten Portfolio, indem das Sprachenlernen vermittelt wird.