Ich bin am besten wie ich bin

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Ich bin am besten wie ich bin
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Samantha Koch (Hrsg.)

ICH BIN AM BESTEN

WIE ICH BIN!









Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 9783865065421

© 2013 by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers

Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers

Titelgrafik: shuttterstock

Satz: Brendow PrintMedien, Moers

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013

www.brendow-verlag.de


Inhalt

Cover

Titel

Impressum


Jutta Wilbertz

Kaffee bei Karin

Antje Balters

Entscheiden oder Leiden. Vom Glück, immer eine Wahl zu haben

Hannelore Schnapp

Die Königin der Düfte

Annekatrin Warnke

Ratschlag einer biblischen Heldin

Tamara Hinz

Wenn Frosch einfach kein Prinz werden will

Mimi Messner

Die Engel der Eisenbahnstraße

Nicole Vogel

Zwischen Hollywood und Halloween

Marlis Büsching

Das halbe Leben in der Handtasche ...

Antje Balters

Rabenmutter

Julia Warkentin

Befragen Sie die allwissende Müllhalde! – oder warum ich manchmal im Hier und Jetzt lebe

Jutta Wilbertz

Paradise Lost


Julia Pfläging

Der Fisch geht heut zu Fuß

Ines Emptmeyer

Ein Rettungsring voller Marzipankartoffeln

Karin Ackermann-Stoletzky

„Hilfe, ich bin alt!“

Nicole Vogel

Über den Wunsch, eine ruhige Kugel zu schieben

Marlis Büsching

Sich räkeln, radeln und vibrieren – oder ich hopse und schnalze, so viel ich will

Karin Ackermann-Stoletzky

Konsequenz ist alles!



Kaffee bei Karin
Jutta Wilbertz

Nein! Mit einem Ruck fahre ich hoch. Das gibt’s doch nicht! Ich wollte mich nur kurz ausruhen nach dem Mittagessen und bin dabei wohl einfach auf der Couch eingeschlafen! Schon fast halb vier, ach du lieber Gott, jetzt muss ich wirklich fliegen!

Ich stürze ins Bad, dann suche ich meine Schuhe, die natürlich nicht im Schuhschrank stehen, auch nicht im Schlafzimmer, herrjeh, wo sind sie bloß?

„Alles klar, Mama?“ Paula steht in ihrer Zimmertür. Hinter ihr sehe ich Kleiderberge auf dem Boden, das Bett ist nicht gemacht, die Schultasche liegt halb offen mitten im Zimmer, ein paar Hefte sind herausgefallen und sehen reichlich ramponiert aus.

„Nein!“, fauche ich, „meine blöden Schuhe sind weg und ich bin zu spät und du räumst bitte dein Zimmer auf, das sage ich dir schon seit Tagen! Basti kommt gegen vier, pass auf, dass er nicht wieder so lange vorm PC hängt. Er soll mit dem Hund raus!“

„Jaja, jetzt chill mal! Kriegen wir schon hin.“ Sie guckt mich mitleidig an. „Dieser Besuch geht dir ganz schön an die Nieren, was?“

Da hat sie recht, aber ich habe keine Zeit, groß darauf einzugehen, geb ihr schnell einen Kuss, dann finde ich die Schuhe auf dem Balkon (stimmt, ich hatte sie zum Putzen bereitgestellt, geht jetzt auch nicht mehr), schnappe die Autoschlüssel und bin aus der Tür!

Ja, ich bin nervös. Ich habe Karin seit vielen Jahren nicht gesehen und nun haben wir uns vor zwei Wochen bei einem überregionalen Frauentag wiedergetroffen. Sie war eine der Rednerinnen, hielt einen blendenden Vortrag über Zeitmanagement und sah natürlich aus wie aus dem Ei gepellt. Karin eben, eigentlich sogar eine Super-Karin. Ich hatte mir das Programm vorher nicht durchgelesen, leider, so hatte ich keine Ahnung, dass sie da sein würde. Eine Vorwarnung wäre schon nicht schlecht gewesen.

„Du musst mich unbedingt besuchen kommen!“, hatte sie gesagt, „keine Widerrede, liebe Doris, wir haben uns bestimmt viel zu erzählen!“ Und natürlich habe ich nicht nein sagen können. Karin war immer schon sehr überzeugend, und mir fiel kein vernünftiger Grund ein, wie ich dieser Einladung hätte entgehen können, zumal sie nur eine halbe Stunde Autofahrt entfernt von uns lebt.

Gut, ich hätte sie auch zu uns bitten können, aber da hätte ich doch gerne vorher die Wohnung gründlich durchgeputzt und aufgeräumt, unsere Wohn-Provisorien (immer noch keine Arbeitsplatte in der Küche, dabei sind wir vor zwei Jahren eingezogen) elegant gelöst und am besten noch den Sperrmüll bestellt. Für all das habe ich aber gerade keine Zeit, und eigentlich fühlen wir uns wohl in unseren vier Wänden, auch unsere Freunde finden es gemütlich bei uns. Aber Karin würde es sicherlich nicht gemütlich, sondern „kreativ“ nennen und mich mit diesem freundlich-nachsichtigen Gesichtsausdruck betrachten, den ich nur zu gut kenne. Damals in der Jugendgruppe hat sie mich auch immer so angesehen, wenn sie nach einem perfekten Referat auch noch den Tee einschenkte und ich aus Versehen die Tasse umstieß.

Karin wohnt in einer gepflegten Vorortsiedlung, kleine, adrette Reihenhäuser mit kleinen, adretten Gärten, an ihrer Tür hängt ganz saisongemäß ein herbstlicher Kranz in Orangetönen, auf der Fußmatte steht „Willkommen“.

Ich schelle, es klingt wie ein sanfter Gong und dann wird mir auch schon die Tür geöffnet. Vor mir steht ein junges Mädchen, das ist also Thea. Thea ist zwei Monate älter als Paula, ihr Bruder Tim drei Jahre jünger, also fast der gleiche Abstand wie zwischen Paula und Sebastian.

Karin hat kurz über die Erfolge ihrer Kinder berichtet, und als sie den Vorschlag machte, ich solle meine doch mitbringen, damit die vier sich anfreunden könnten, habe ich schnell ein paar Schultermine vorgeschoben, zumindest das konnte ich für meine Lieben tun – es reicht, wenn sich eine von uns dieser geballten Perfektion stellen muss. Und Thea ist perfekt, das muss ich ehrlicherweise zugeben. Groß ist sie, schlank, hat sanfte Augen, wunderschöne dunkelbraune Haare, eine samtene Pfirsichhaut und lange Finger. Sie lächelt freundlich und unbefangen, zeigt aber gleichzeitig einen gewissen Respekt vor mir als Erwachsenen, nimmt mir formvollendet den Mantel ab, führt mich ins Wohnzimmer. Dort werde ich von Karin herzlich begrüßt.

 

„Wie schön, dass du da bist! Und nur zehn Minuten später als angekündigt.“

Ich murmele etwas vom Verkehr, aber Karin hat schon wieder dieses nachsichtige Lächeln im Gesicht und ruft mit angenehmer Stimme Richtung Küche: „Thea, Liebes, machst du uns jetzt den Kaffee?“, und mit einem Blick auf mich: „Ich dachte, wir brühen ihn lieber ganz frisch auf, ich wusste ja nicht, wann du genau eintriffst.“

Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll, und sehe mich daher lieber demonstrativ im Wohnzimmer um.

„Schön habt ihr‘s hier“, sage ich, und das meine ich auch. Das Zimmer ist sehr groß, mit einer Fensterfront zur Terrasse und zum Garten hin, einer gemütlichen Couchgarnitur, die Teppiche sind geschmackvoll und waren sicherlich teuer. Links steht ein schwarzes Klavier, rechts ein schöner langer Esstisch, und es gibt tatsächlich auch einen offenen Kamin, in dem ein kleines Feuer flackert. Gerade jetzt öffnet sich die Terrassentür und ein Junge, gefolgt von einem schwarzweißem Bordercollie, kommt herein, streift sich die Schuhe ab. Er trägt einen Eimer mit Holzscheiten, stellt ihn aber sofort vorsichtig hin und kommt auf mich zu. Der Hund hat sich brav direkt auf die Fußmatte gesetzt und guckt seinem Herrchen hingebungsvoll hinterher.

„Hallo, ich bin Tim“, sagt der Junge und strahlt mich an. Schöne Zähne hat er, überhaupt ein sehr hübscher Bengel, dieser Tim, und so höflich. Basti kriegt ja kaum den Kiefer auseinander, wenn wir Besuch haben.

„Ich gebe Ihnen nicht die Hand, ich bin etwas schmutzig“, und an Karin gewandt: „Ich habe noch etwas Holz gehackt, Mama, dann habt ihr es schön warm.“

„Danke, mein Schatz. Du kannst dir gleich etwas Kuchen in der Küche holen.“

„Mach ich, aber erst muss ich mit Rolli Apportieren üben.“

Und schon ist er wieder aus der Tür, der Hund saust fröhlich hinterher.

„Ein richtiger Junge eben“, sagt Karin zufrieden und schmunzelt. „Und er kümmert sich wundervoll um den Hund. Wir haben Rolli vom Tierschutz, ,Bordercollies in Not‘, es gibt ja so viele verantwortungslose Menschen, die sich einen Modehund holen und dann gar nicht mit ihm klarkommen. Bordercollies müssen etwas zu tun haben, da ist Tim genau der Richtige. Sie machen Agility-Training zusammen, dem Hund macht es Spaß und der Junge ist an der frischen Luft. Sie haben schon etliche Wettbewerbe gewonnen.“

Frische Luft, die würde Basti auch mal guttun. Was haben die Kinder gebettelt, dass wir einen Hund bekommen, und nun bin ich meistens diejenige, die die Runden mit Tinka dreht. Tinka ist allerdings nicht besonders schlau, sie würde niemals einen Stock apportieren. Obwohl, vielleicht spricht ja gerade das für ihre Klugheit.

„Hat er denn dafür Zeit?“, frage ich und werfe einen Blick auf die vielen Pokale, die auf dem Kaminsims stehen. „Du sagtest doch, er sei so aktiv im Tennis.“

„Sicher, das ist gar kein Problem.“

„Und die Schule?“

„Die geht natürlich vor, aber da müssen wir uns Gott sei Dank keine Sorgen machen. Bei beiden nicht, Thea hat jetzt sogar ein Vollstipendium gewonnen und wird nächsten Winter ein Auslandsjahr in den USA beginnen. Wie möchtest du deinen Kaffee?“

Wir haben uns hingesetzt, Karin gibt mir ein Stück Sachertorte auf den Teller („Ich habe das Rezept noch etwas verfeinert“) und gießt mir den Kaffee ein. Ich überlege, dass wir endlich einmal unser altes, ramponiertes Kaffeeservice ausrangieren und uns ein neues anschaffen sollten.

„Wie geht es Gerd?“, frage ich. Ich habe Theas Mann vor einigen Jahren flüchtig kennengelernt.

„Ach, er ist gerade wieder befördert worden. Er trägt eine ziemlich große Verantwortung und arbeitet natürlich zu viel. Dadurch kann er nur noch selten in der Gemeinde predigen.“

Sie lächelt bedauernd.

„Aber ich will mich nicht beklagen, er ist ein wunderbarer Ehemann und Vater. Er ruft täglich an und sagt mir immer genau Bescheid, wann er zu Hause eintrifft, damit ich das Essen vorbereiten und mich hübsch machen kann.“ Nun wirkt sie fast etwas kokett.

„Bist du denn abends nicht oft unterwegs?“ In dem Programmheft zum Frauentag hatte ich nachgelesen, dass Karin eine gefragte Rednerin sei.

„Ach, das ist kein Problem. Natürlich, seit mein Buch über Zeitmanagement erschienen ist und ich auch noch im Fernstudium meinen Bachelor in BWL gemacht habe, bin ich als Referentin viel unterwegs. Aber Männer sind ja auch nicht mehr so hilflos wie früher, Gerd ist im Notfall durchaus in der Lage, sich selbst zu versorgen. Meistens habe ich aber etwas vorbereitet oder Thea kocht für die Männer, das macht ihr große Freude. Es geht ja auch eher ums Prinzip, der arme Mann soll abends nicht Tiefkühlpizza essen müssen, das ist ungesund.“ Sie lacht. Tiefkühlpizza, nein, so etwas Absurdes! Die gibt es bei uns oft. Geht halt schnell. Noch leben wir.

„Doris?“ Thea steht lächelnd in der Tür. „Würden Sie gerne etwas Musik im Hintergrund hören?“

Kompliment, die Sache mit der persönlichen Anrede hat sie geschickt gemeistert – das ist ja bei Teenagern immer problematisch, als Kinder wurden andere Mütter einfach geduzt, als Teenager dagegen ist ein Du zu persönlich und ein „Frau Lütke“ zu distanziert. Ich denke daran, wie Paulas Freundinnen bei uns herumdrucksen, im Sinne von „Könnte man mir die Butter geben?“, ich bin selbst unsicher, wie ich das Dilemma lösen soll. Dieses amerikanische „Du“, die Kombination aus Vornamen und „Sie“ wirkt ja recht elegant – aber irgendwie kann ich mir solche Umgangsformen bei uns zu Hause nicht vorstellen.

„Danke, gern.“ Ich liebe Musik, allerdings habe ich nicht damit gerechnet, dass Thea zum Klavier geht, den Deckel aufklappt und zu spielen beginnt. Sehr zurückhaltend, sehr angenehm, sehr schön. Natürlich schweige ich während des Vortrages, auch wenn sie von Hintergrundmusik gesprochen hat. Ich weiß, was sich gehört.

„Wir können uns ruhig unterhalten“, lächelt Karin, „sie ist daran gewöhnt. Sie spielt regelmäßig Sonntagmittags, nachdem sie den Lobpreis im Gottesdienst geleitet hat, in einem sehr edlen Restaurant und verdient sich so etwas Taschengeld. Das ist übrigens gerade ihre eigene Komposition.“

Nun lauschen wir beide, es ist wirklich schön! Ach ja, wenn Paula mal mehr üben würde. Eigentlich ist sie auch sehr musikalisch.

„Thea ist überaus begabt, hat schon erfolgreich bei ,Jugend musiziert‘ mitgemacht. Ich hätte nichts dagegen, wenn sie Konzertpianistin würde, aber sie möchte lieber Medizin studieren und als Chirurgin bei ,Ärzte ohne Grenzen‘ in Krisengebieten arbeiten. Sie hat schon einige Praktika im Krankenhaus mitgemacht und durfte sogar als einzige Praktikantin mit in den OP. Was möchte Paula denn einmal werden?“

Paula ist vierzehn, und eigentlich finden wir, dass sie noch zu jung ist, um sich festzulegen, vorgezogenes Abi hin oder her. Ärztin wird sie jedenfalls nicht, sie findet Blut ausgesprochen ekelig und bricht bei Dokumentarfilmen regelmäßig in schrille Teenagerschreie aus, wenn dort etwa die Großaufnahme eines Organs zu sehen ist. Thea durfte bestimmt als einzige Praktikantin das Skalpell ansetzen, wahrscheinlich hat sie sogar schon den einen oder anderen Blinddarm entfernt.

Irgendetwas platzt in mir. Mir reicht es jetzt!

„Paula wird Juristin“, sage ich aufs Geratewohl. Du sollst nicht lügen, ich weiß, aber es geht um die Ehre meiner Kinder. „Sie will sich auf Umweltschutz spezialisieren und setzt sich bereits jetzt sehr für die Rettung des Regenwaldes ein.“ Zumindest Letzteres ist wahr, beruhige ich mein Gewissen, beim Umweltprojekt in der Schule war sie wirklich sehr engagiert.

„Außerdem studiert sie nebenbei Chinesisch. China ist ja leider in puncto Umweltschutz nicht sehr offen. Sie will später vor Ort gegen die Luftverschmutzung und die damit verbundene globale Klimaerwärmung kämpfen.“ Das ist komplett gelogen, aber Karin wirkt zumindest ein wenig beeindruckt.

Ich mache weiter: „Und Sebastian trainiert täglich im Hallenbad. Sein Coach sagt, wenn er so weitermacht, ist er in ein paar Jahren reif für Olympia. Kraul und Schmetterling.“

So!

Mein Sohn ist wasserscheu, hat damals mit Ach und Krach das Seepferdchen geschafft, aber das ist mir jetzt egal.

„Wie schön!“ Ihr Lächeln scheint absolut ehrlich, ihre Stimme ist warm, ihre Augen leuchten ermutigend. Sie glaubt mir aufs Wort, und ich schäme mich.

„Ich finde es so wichtig, dass sich Jungen sportlich betätigen! Es gibt zu viele dicke Kinder, die nur vor dem Computer hängen. Sicher, eine gewisse Medienkompetenz ist heutzutage durchaus wichtig. Tim kennt sich gut aus, er hat einige Lernprogramme entwickelt, die sie nun in der Oberstufe anwenden.“

Ich gebe auf.

„Wo ist das Bad?“, frage ich.

„Gleich links neben dem Eingang. Macht es dir etwas aus, wenn ich währenddessen kurz mit Gerd telefoniere? Wir sprechen immer um diese Zeit miteinander, um den Abend abzustimmen.“

„Nein, nein, kein Problem.“

Thea ist inzwischen zur Mondscheinsonate gewechselt und spielt mit geschlossenen Augen und voller Gefühl. Draußen im Garten sehe ich Tim, der Rolli ein Kommando zuruft, der Hund läuft eine saubere Acht, wirft sich in der Luft herum, läuft exakt und millimeter­genau die gleiche Acht zurück. Ich bin überzeugt, Rolli wird bald eine Fernsehrolle ergattern, als schlaues Ermittler-Tier im „Tatort“, oder sogar eine eigene Serie bekommen, Lassie war ja auch ein Collie. Obwohl, nein, ich denke, der Hund wird sich lieber humanitär einsetzen und Landminen ausgraben. Sicher bekommt er das Bundesverdienstkreuz.

Ich gehe in den Flur, links ist die Tür zur Gästetoilette, aber eigentlich wollte ich nur etwas Atem schöpfen und – ich gebe es zu – einen heimlichen Blick auf den Rest des Hauses riskieren. Es kann doch nicht sein, dass alles überall perfekt ist. Hier leben schließlich Menschen! Auch Karin muss irgendeine unaufgeräumte Abstellkammer haben, einen Krös-Schrank, bei dem einem, wenn man ihn öffnet, der Staubsauger und der Wäscheständer entgegenfällt – wie bei uns. Ich brauche das jetzt für meine seelische Gesundheit. Ich möchte nicht völlig frustriert nach Hause fahren und in den nächsten Wochen an Mann, Kindern und sogar dem Hund rumnörgeln. Eigentlich finde ich, dass wir eine tolle Familie sind, auch wenn es oft chaotisch ist und mein liebster Gatte zwar abends für uns alle Tiefkühlpommes und Tintenfischringe in den Ofen schiebt, es aber partout nicht schafft, endlich mal seinen Schreibtisch aufzuräumen oder seine dreckigen Socken in den Korb mit Schmutzwäsche zu packen.

Mein Blick wandert durch den makellosen Flur, keine Schuhe liegen herum, keine Mäntel und Jackenberge türmen sich an der Garderobe und drohen, sie durch ihr Gewicht aus der Wand zu reißen, ich sehe kein Staubkorn und kein Hundehaar. Und dabei wirkt es noch nicht einmal klinisch, nein, einladend, warm, eine Schale mit orangenen und grünen Zierkürbissen steht auf einer kleinen, geschmackvollen Vitrine. Direkt daneben ist eine Tür, das muss der Keller sein.

Ich kann nicht widerstehen! Ich höre die Mondscheinsonate, das leise Murmeln Karins am Telefon, das begeisterte Bellen Rollis draußen im Garten, ich habe fünf Minuten, in denen keiner nach mir sehen wird, und die werde ich nutzen. Das bin ich meiner Familie schuldig! Irgendeine Leiche muss doch auch Karin im Keller haben! Ich muss kichern, das ist aufregend, jaja, eine Leiche erwarte ich gar nicht, aber bitte einen Berg schmutziger Wäsche, ein paar lehmverkrustete Stiefel, einen Stapel alter Zeitungen, die noch nicht zum Recyceln gebrachte wurden, Bierflaschen, irgendetwas!

Vorsichtig öffne ich die Tür und husche schnell die Treppe hinunter. Es ist dämmrig, aber durch die kleinen Kellerfenster fällt genügend Licht ein, um sich umzuschauen. Fehlanzeige. Auch der Keller ist topsauber! Es gibt einen Hobbyraum, in dem sämtliche Werkzeuge ordentlich an Haken an der Wand hängen, im Fahrradkeller stehen blitzende Fahrräder, genau vier – kein Schrott und keine kaputten Kinderfahrräder und Roller zwischen den Fahrrädern, wie bei uns. Es gibt sogar einen Partykeller und einen Wäschekeller mit einer Mangel, alles riecht frisch und sauber. Ich gehe hinein, wow, so einen Keller hätte ich auch gern. Wir haben die Waschmaschine im Badezimmer und teilen uns mit den anderen Mietern einen Trockenspeicher. Ich will gerade wieder hinausschlüpfen, da sehe ich in der hintersten Ecke, noch hinter dem Wäscheständer, eine Tür aus schwerem Eisen.

 

Wenn schon, denn schon. Ich schiebe mich an dem Ständer vorbei und drücke die Klinke, aber es ist abgeschlossen. Wahrscheinlich der Heizungskeller, nicht so interessant. Es wird sowieso Zeit, dass ich zurück ins Wohnzimmer gehe, es wäre mir ja doch peinlich, beim Schnüffeln entdeckt zu werden. Ich drehe mich zum Ausgang, da höre ich etwas.

„Hallo?“ Eine leise Stimme, vorsichtig, zaghaft. „Hallo, ist da jemand?“

Die Stimme kommt aus dem verschlossenen Kellerraum. Ich erkenne sie, aber das kann eigentlich nicht sein. Da müsste es ja einen separaten Zugang zu diesem Raum hinter der Tür geben, Karin ist sicherlich nicht an mir vorbeigeschlichen. Und warum sollte sie sich dort einschließen? Außerdem telefoniert sie doch, ich hab’s gerade noch gehört.

„Mama“, eine andere Stimme, „Mama, da ist niemand. Gib es auf, es wird keiner kommen.“

Das ist Thea, eindeutig.

Ich räuspere mich.

„Was ist hier los? Warum seid ihr plötzlich hier unten?“ Meine Stimme krächzt, es ist alles irgendwie absurd.

Einen Moment Schweigen, ich spüre geradezu die Spannung hinter der Tür.

„Wer sind Sie?“

„Na wer schon, Doris natürlich.“

„Doris?“ Es klingt ungläubig „Das kann doch nicht sein! Doris Lütke?“

Das wird ja immer besser. Das heißt nein, es wird immer gruseliger! Ich bin völlig perplex, und gleichzeitig spüre ich, dass mir kalt wird. Meine Hände und Füße fühlen sich taub an, mein Herz klopft wild, am liebsten würde ich jetzt einfach wegrennen, aber ich kann nicht. Was ist hier los, um Gottes willen?

„Doris!“ Wieder Karins Stimme, wild, hysterisch! „Hol uns hier raus! Da muss irgendwo ein Schlüssel sein, bitte, beeil dich!“

„Mama, sei ruhig, sie hören uns noch!“ Auch Thea klingt hysterisch.

„Wer ist die Frau, Mama?“ Tims Stimme, ganz leise, verwirrt.

„Eine alte Freundin. Mach schnell, Doris, BITTE!“ Karin unterdrückt krampfhaft ihr Schluchzen, jetzt weint auch Thea.

Ich verstehe gar nichts, aber ich muss helfen, das ist ein Notfall! Auch wenn ich nicht weiß, was für einer. Sind sie durch eine Falltür vom Wohnzimmer direkt in diesen Keller gestürzt? Keine Zeit, nachzudenken, später, erst mal hol ich sie hier raus. Ich schaue mich fieberhaft in dem dämmrigen Wäschekeller um. Er wirkt so aufgeräumt, so sauber, so, wie ein Wäschekeller in der Werbung auszusehen hat, gleich wird die schmunzelnde Mutti das dreckige T-Shirt ihres Sohnemannes einweichen, gleich wird sie sich begeistert über Waschkraft und Aprilfrische äußern, nein, dieser geweißte Keller mit seiner topmodernen Waschmaschine, dem Trockner, dem Becken für die Handwäsche, all das passt nicht zu dem Grauen, das mich gepackt hat, nicht zu dem verzweifelten Weinen hinter der Tür.

Ich muss den Schlüssel finden! Ich stoße gegen den Wäscheständer, es scheppert und ich kann ihn gerade noch am Umfallen hindern. Karin stöhnt. Verzweifelt tappe ich im Halbdunkeln hin und her, streiche über die Wände, ob da nicht irgendwo ein Nagel mit einem Schlüssel dran ist, fahre mit den Händen an sämtlichen Regalen entlang, in denen sauber gefaltete Handtücher und gemangelte Tischdecken liegen, hier ist nichts, gar nichts, vielleicht im Hobbyraum? Ich habe Angst, das Licht anzumachen, bin mir nicht sicher, ob ich zu Beginn meiner Expedition die Kellertür hinter mir zugezogen habe, und das Licht würde mich verraten, sie würden runterkommen. Warum sie, sie sind doch hier unten, hinter der Tür, sie, wer sind sie?

„Was haben wir denn hier?“

„Doris, lauf!!!!“

Aber Karins Schrei kommt zu spät, das Licht ist schon aufgeflammt und ich starre verschreckt in Karins lächelndes Gesicht im Türrahmen. Sie ist nicht alleine gekommen, die Kinder und der Hund stehen neben ihr, starren mich an und Rolli bleckt die Zähne, knurrt leise, drohend. Er sieht überhaupt nicht mehr nach Bundesverdienstkreuz aus – ein Schritt, und er geht mir an die Kehle, das ist klar.

„Wer bist du?“, frage ich, meine Stimme ist ganz zittrig. Da ist er wieder, dieser nachsichtige Gesichtsausdruck, Karins Ausdruck.

„Ich bin Karin, das weißt du doch“, sagt sie mit ganz leichtem Tadel in der Stimme.

„Nein, das ist nicht wahr. Karin und die Kinder sind hinter der Tür. Wer seid ihr?“ Ich habe Angst, aber ich bin auch wütend. Wütend, entsetzt und ich weiß nicht, was.

„Ich hab’s dir doch gesagt. Ich bin Karin. Die eigentliche Karin, die Karin, wie sie sein sollte, die perfekte Karin mit ihrer perfekten christlichen Familie!“

Sie lächelt sanft, während Thea und Tim mich weiter ausdruckslos anstarren und der Hund immer noch leise knurrt.

„Wo kommt ihr her?“, frage ich.

Das Ding, das sich Karin nennt, schaut mich freundlich an.

„Deine Freundin Karin hat die Firma um Hilfe gebeten“, sagt es. „Und das war in der Tat höchste Zeit, dass sie uns eingeschaltet hat!“

„Welche Firma?“

„Christian Klono-Tech. Die perfekte christliche Ersatzperson für die perfekte christliche Gelegenheit.“ Jetzt spult es einen Text herunter, die Stimme klingt strahlend wie bei einer Werbesendung, die Zähne sind zu einem breiten Lächeln gefletscht. Offenbar ist der Programm-Modus angesprungen. „Wie sollen wir die Welt erreichen, wenn wir nicht selbst ein strahlendes Licht sind? Perfekt? Freundlich? Modisch und gepflegt? Sozial engagiert? In der Gemeinde tätig? Exzellente Leistungen auf sämtlichen Gebieten? Vorzeigefamilien mit Vorzeigekindern?“ Auch Thea und Tim zeigen nun strahlende Zähne, sprechen unisono den Text mit: „Christian Klono-Tech schickt Ihnen den perfekten Ersatz, wenn Sie selbst den Ansprüchen nicht genügen. Eine Haarprobe reicht – und für Sie völlig kostenlos!“

„Es gibt genügend Sponsoren im Hintergrund“, setzt das Karin-Ding nun mit normaler Stimme hinzu. „Sie haben die große Vision, die gesamte Christenheit zu perfektionieren. Ist einfach ein besseres Zeugnis, als diese ganzen Verlierer, die die Gemeinden bevölkern.“ Es zuckt die Achseln. „Eigentlich hat Karin mich ja nur als temporäre Vertretung bestellt. Ihr wurde alles zu viel, aber das sollte keiner merken. Sie ist ja sehr anspruchsvoll und selbstkritisch. Einige Aktivitäten wurden dann von mir übernommen, und ich habe einen wesentlich besseren Job gemacht, als sie je gekonnt hätte.“

Das Ding rümpft die Nase.

„Ja, wir haben festgestellt, dass sie tatsächlich in sämtlichen Bereichen völlig unzureichend war – und die Kinder erst! Thea hat, als sie in die Pupertät gekommen ist, einige Kilos zugelegt, und dann noch diese Pickel. Dabei war sie mal so ein hübsches kleines Mädchen. Außerdem wurde sie launisch und unordentlich. Und Tim hatte Probleme in der Schule. Trotz Förderunterricht und Gebet. Da haben wir kurzerhand alle ersetzt – und nun ist die Familie so, wie sie sein soll.“

„Aber Gerd, der muss doch etwas gemerkt haben! Das ist seine Frau, seine Kinder und ihr habt sie schließlich hier im Haus eingesperrt! Oder gehört er auch zu euch?“

Das Karin-Ding kichert.

„Nein, Gerd noch nicht. In der Regel lassen wir einen Humanoiden so lange wie möglich dabei, das gibt den realistischen Touch. Gerd funktioniert ganz ordentlich, er hat einen guten Ruf in der Gemeinde und verlangt nur, dass sein Haus, sein Auto, seine Frau, seine Kinder, sein Hund perfekt sind. Viel Zeit zu Hause verbringt er sowieso nicht, den Wäschekeller hat er noch nie betreten, der Hobbyraum ist reine Makulatur. Nein, Gerd brauchte bisher nicht ausgetauscht zu werden, aber bei seinem Arbeitspensum hat er in zwei oder drei Jahren einen Herzinfarkt. Gut, vorher werden wir natürlich eingreifen, das ist ja kein gutes Zeugnis! Christen sind gesund und fallen nicht plötzlich um.“

Hinter der Tür höre ich wieder dieses Weinen. Es dreht mir das Herz um. Und ich habe Angst, Angst, Angst.

„Und jetzt?“, frage ich, „was wollt ihr tun? Ihr könnt sie nicht ewig dort eingesperrt halten.“

„Nicht?“, fragt das Karin-Ding und mir läuft es kalt den Rücken runter.

„Du wirst ihnen Gesellschaft leisten, liebe Doris. Genau darum habe ich dich hierhin gebeten. Um dich aus dem Verkehr zu ziehen. Bei der Konferenz habe ich eine Speichelprobe von dir genommen, du erinnerst dich an die Tasse Kaffee? Dein Klon ist schon fertig, wir werden ihn für dich nach Hause schicken. Er wird viel mehr als du in der Gemeinde mitarbeiten, wird zu Hause alles tipptopp in Ordnung halten, wird Bio-Kost zubereiten und den Obdachlosen Butterbrote schmieren. Dein armer Mann und deine armen Kinder werden endlich erleben dürfen, wie es in einem perfekt organisierten Haushalt zugeht. Außerdem haben wir einen Job-Chills-Chip fürs gehobene Management eingebaut, der sich selbst aktiviert, sobald die Kinder aus dem Haus sind. Ach ja, volleres Haar und dezent mehr Busen hat dein Klon auch.“

„Das dürft ihr nicht!“, höre ich Karins Stimme hinter der Tür. „Sie wollte nie perfekt sein, das dürft ihr nicht!“

„Aber das war doch immer dein Wunsch“, sagt das Karin-Ding sanft, „du wolltest doch, dass alle Frauen so perfekt sind wie du. Dein Wunsch ist uns Befehl.“

Weg, weg, ich muss hier weg. Aber meine Beine bewegen sich nicht, ich starre nur dieses lächelnde Karin-Ding an, plötzlich stehen die Kinder neben mir, besser gesagt, die Kinder-Dinger, was immer sie auch sind, sie halten mich an den Armen fest, ihr Griff ist eisern, und das Karin-Ding holt einen Schlüssel aus der Tasche, er dreht sich knirschend im Schloss der Eisentür. Jetzt wollen sie mich also einsperren. Ich bin wie gelähmt, nein, nein, nein, Jesus, bitte, nein, nein!

Nein! Mit einem Ruck fahre ich hoch. Das gibt’s doch nicht! Ich wollte mich nur kurz ausruhen, nach dem Mittagessen, und bin dabei wohl einfach auf der Couch eingeschlafen! Schon fast halb vier, ach du lieber Gott, jetzt muss ich wirklich fliegen!

Karin wohnt in einer gepflegten Vorortsiedlung, kleine adrette Reihenhäuser mit kleinen adretten Gärten, an ihrer Tür hängt ganz saisongemäß ein herbstlicher Kranz in Orangetönen, auf der Fußmatte steht „Willkommen“. Ich schelle, es klingt wie ein sanfter Gong, gleichzeitig höre ich von innen laute, erregte Stimmen.

„Ich hab dir gesagt, du sollst das wegmachen.“ Das ist Karin.

„Iiih, das ist so eklig, ich denke gar nicht dran, das kann Tim doch machen!“, kreischt eine weiblich-hysterische Teenagerstimme.

„Bist du bescheuert, du blöde Kuh?“ Ein Junge.

Die Tür geht auf, Karin steht vor mir, aus dem Ei gepellt wie immer, aber mit gerötetem Gesicht, ihr Atem geht schwer.

„Hallo Doris“, japst sie, „tut mir leid, macht es dir etwas aus, wenn wir in der Küche Kaffee trinken? Der Hund hat gerade unter den Wohnzimmertisch gekotzt, die Kinder wollen es nicht wegmachen und ich habe jetzt wirklich keine Lust dazu.“

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