Handbuch Bibeldidaktik

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Handbuch Bibeldidaktik
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Handbuch Bibeldidaktik

herausgegeben von Mirjam Zimmermann und Ruben Zimmermann

unter Mitarbeit von Susanne Luther und Julian Enners

Mohr Siebeck GmbH & Co. KG


Inhaltsverzeichnis

  Bibeldidaktik – eine Hinführung und Leseanleitung

 1. Im Fokus: Geschichte (Entstehungs- und Wirkungsgeschichte)Bibel: Entstehung, Überlieferung, KanonisierungDie Welt des OrientsPolitische Geschichte und religiöser Kontext in griechisch-römischer ZeitBiblische ArchäologieNeutestamentliche Sozial- und Kulturgeschichte der Umwelt Jesu und der frühchristlichen GemeindenOpfer, Kult und Fest im JudentumJerusalemDie Bibel als LehrbuchModerne deutsche BibelübersetzungenBibelausgaben damals und heuteKinder- und SchulbibelnBibel und Bibelübersetzungen in transnationaler Perspektive

 2. Im Fokus: Inhalte (Texte und Themen)Der Kanon im KanonGottSchöpfungDer Turmbau zu BabelErwählung und BundDer DekalogProphetieIjob/Hiob und die Frage nach dem LeidPsalmenLiebe und SexualitätWeihnachts- und Kindheitsgeschichten JesuPassion und Tod JesuDie Auferstehung Jesu und der MenschenDas MatthäusevangeliumDas MarkusevangeliumDas LukasevangeliumDas JohannesevangeliumGleichnisse/Parabeln JesuWundergeschichtenDie BergpredigtSündeGerechtigkeit Gottes/Rechtfertigung des MenschenEthikDiakonie und HelfenHeiliger GeistEngel, Teufel und DämonenKirche/Volk GottesKinder in der BibelTaufe und AbendmahlDie JohannesapokalypseEschatologie/Reich Gottes

 3. Im Fokus: Gestalten (Personen und Figuren)Lernen an biblischen PersonenAdam und EvaKain und AbelNoachAbraham und SaraIsaak und RebekkaIsmael und HagarJakob und RahelMose und MirjamJosefDavidElija und ElischaAmosJonaRutEsterJohannes der TäuferMaria/Mutter JesuJesusSimon PetrusJudasMaria von MagdalaPaulus

 4. Im Fokus: Konzepte (Religionsdidaktische Entwürfe)Die Entwicklung der Bibeldidaktik von 1900 bis zum problemorientierten RUHermeneutik und BibeldidaktikProblemorientierung und BibeldidaktikExistenzielle BibeldidaktikBibeldidaktik als SymboldidaktikKorrelation und BibeldidaktikElementarisierung und BibeldidaktikSemiotik und BibeldidaktikBibeldidaktik und konstruktivistisches LernenKindertheologie und KinderexegeseBibel und performative DidaktikBibeltheologische DidaktikBibeldidaktik im kompetenzorientierten RUEmpathische BibeldidaktikBibeldidaktik und religiöse Sprachbildung

 5. Im Fokus: Methoden (Zugänge und Lernwege)Historisch-kritische BibelauslegungAneignende Methoden der ExegeseAngeleitete Lektüre von biblischen Ganzschriften(Vor-)lesenAuswendiglernenLesetagebuchErzählenLectio divina/BibelteilenBibelwort-KartenLernen mit KinderbibelnKreatives SchreibenStandbilderBibliodramaBibliologSprechzeichnen zu biblischen GeschichtenBiblische Figuren stellenBibel und BodenbilderBibelfliesen als bibeldidaktisches MediumGodly Play / Gott im SpielBibel und moderne LiteraturBibel und KunstKünstlerisch-kreatives Arbeiten mit der BibelBibel und MusikBibel im FilmBibel und PopkulturBibel und digitale WeltenBibel und KirchenraumAußerschulische Lernorte zur BibelKinderbibeltage/Kinderbibelwochen

 6. Im Fokus: Lernende und Lesende (Vielfalt der Rezipienten)Bibeldidaktik und EntwicklungspsychologieBibel als Medium der IdentitätsbildungBibelverständnis und soziales MilieuGender und Bibelverständnis: Lesen Jungen und Mädchen die Bibel unterschiedlich?Zugänge zur Bibel für Kleinkinder (Elementarpädagogik)Zugänge zur Bibel für Schülerinnen und Schüler der GrundschuleZugänge zur Bibel für Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe IZugänge zur Bibel für Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe IIZugänge zur Bibel in der BerufsschuleInklusives Lernen zur BibelZugänge zur Bibel für Konfirmandinnen und KonfirmandenZugänge zur Bibel in der GemeindearbeitDie Bibel in der verbandlichen JugendarbeitZugänge zur Bibel für Seniorinnen und Senioren

 

 7. Im Fokus: Probleme (Zugangs- und Verstehensschwierigkeiten)Ist die Bibel wahr?Zeitgemäßheit der BibelWas sind (zu) schwierige Bibeltexte?Tipps für einen langweiligen BibelunterrichtDie Bibel als patriarchalisches BuchBibel und AntisemitismusGewalt in der BibelBiblische Texte und Themen im EthikunterrichtDie Bibel und der Exklusivitätsanspruch

  Autorinnen- und Autorenverzeichnis

  Bibelstellenregister

  Sachregister

[Zum Inhalt]

für Martin Schweigler,

unseren geschätzten Religionslehrer

am Friedrich-Ebert-Gymnasium

Sandhausen

[Zum Inhalt]

|V|Vorwort

Ihr Christen habt in eurer Obhut ein Dokument mit genug Dynamit in sich,

die gesamte Zivilisation in Stücke zu blasen, die Welt auf den Kopf zu stellen;

dieser kriegszerrissenen Welt Frieden zu bringen.

Aber ihr geht damit so um, als ob es bloß ein Stück guter Literatur ist, sonst weiter nichts.

Mahatma Gandhi

Wenn ein Exeget und eine Religionspädagogin zusammenleben und -arbeiten, ist ein gemeinsamer Fokus die Bibeldidaktik. Wir beide unterrichten über die und mit der Bibel, wir verwenden sie als kulturgeschichtliches Dokument, als literarisches Kunstwerk, als normative Vorgabe, als heiligen und meditativen Text und manches mehr. Wir versuchen andere zu motivieren, sich für die Bibel zu begeistern und diskutieren über die Frage, warum man sie an nachfolgende Generationen vermitteln soll. Vielfach ist heute gar nicht mehr deutlich, dass die Bibel gute Literatur ist, geschweige denn, dass sie Dynamit enthält. Juden und Muslime, Buddhisten und Hindus schätzen die Heilige Schrift des Christentums. Wie kann dieser Text, der in ferner Vergangenheit entstanden ist, für Menschen im 21. Jahrhundert, besonders für Schülerinnen und Schüler, noch heute zugänglich werden, Sinn stiften und vielleicht sogar mehr Bedeutung bekommen als gute Literatur?

Das vorliegende Handbuch möchte für die Chancen einer Bibeldidaktik werben und empfängt Rückenwind durch neue Impulse der Fachdisziplinen, wie etwa der „Kinderexegese“ oder der „narratologischen Figurenanalyse“, um nur zwei Beispiele zu nennen. Es stellt insofern exegetisch-hermeneutische sowie didaktisch-methodische Neuansätze vor, möchte aber zugleich traditionelle Wissensbestände der Bibelwissenschaft und Bibeldidaktik und klassische Zugänge und Methoden aufnehmen, die zu kennen immer noch hilfreich und nützlich ist. Die Artikel können auf diese Weise umfassend informieren und zugleich motivieren, mit der Bibel pädagogisch zu arbeiten.

Dieses Buch wäre nicht in so kurzer Zeit entstanden, wenn nicht viele Menschen in zielführender Weise zusammengewirkt hätten. So möchten wir zunächst allen Autorinnen und Autoren danken, die schnell und zuverlässig ihre Beiträge verfasst haben. Am Redaktionsprozess haben Katrin Willwacher, Lisa-Marie Göndör sowie unsere beiden wissenschaftlichen Mitarbeiter Julian Enners (Siegen) und vor allem Dr. Susanne Luther (Mainz) maßgeblich mitgewirkt. Die verlegerische Betreuung hat Nadine Schwemmreiter-Vetter (Mohr Siebeck) in vorbildlicher Weise geleistet. Ihnen allen ganz herzlichen Dank!

Dass gelungener Religionsunterricht Früchte trägt, die manchmal über die eigenen Erwartungen hinausgehen, möchten wir mit unserer Widmung zum Ausdruck bringen. Als Pfarrer im Schuldienst hat Martin Schweigler einst unseren |VI|Zugang zu Bibel und Theologie am Friedrich-Ebert-Gymnasium Sandhausen maßgeblich beeinflusst. Für seinen Methodenreichtum, seine Lust am Theologisieren, seine gesellschafts- und gegenwartsbezogene Auslegung der Tradition und sein authentisches Engagement sind wir ihm zu tiefem Dank verpflichtet.

Siegen und Mainz, im Mai 2013 Mirjam und Ruben Zimmermann

[Zum Inhalt]

|VII|Vorwort zur zweiten Auflage

Als Herausgeberteam haben wir uns sehr gefreut, dass innerhalb kurzer Zeit eine zweite Auflage des Handbuchs notwendig und möglich war. Verweist das doch darauf, dass das Werk neben der universitären Ausbildung auch in der Praxis nachgefragt ist und seinen Platz gefunden hat. Dieser Eindruck bestätigt sich auch durch zahlreiche fast durchgängig positive Rückmeldungen aus Universitäten, Studienseminaren, religionspädagogischen Instituten und sogar Fachschaften in Schulen.

Da der Verlag eine Überarbeitung angeboten hatte, wurden kritische Aspekte aus den breit vorliegenden Rezensionen zusammengetragen und alle Autorinnen und Autoren der ersten Auflage gebeten, nicht nur die eigenen Artikel zu überarbeiten, sondern auch Vorschläge für zu ergänzende Artikel und Revisionswünsche zu machen.

Dies führte dazu, dass wir nun tatsächlich eine vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage präsentieren können. Es wurden nicht nur Druckfehler beseitigt und neue Literatur aufgenommen, nahezu alle Artikel wurden in unterschiedlichem Umfang revidiert, ein Artikel umgestellt („Lesen Jungen und Mädchen die Bibel unterschiedlich?“ zur Rubrik „Lernende und Lesende“) und neue Artikel ergänzt. So findet man jetzt über die bisher 118 Artikel hinaus vierzehn weitere Artikel in fast allen Teilbereichen des Handbuchs: Im Fokus „Entstehungs- und Wirkungsgeschichte“ wurden Beiträge zur „Bibel in transnationaler Perspektive“ und „Kinder- und Schulbibeln“ ergänzt. Der Bereich „Themen“ wurde durch „Engel, Teufel und Dämonen“, die „Personen und Figuren“ um „Jona“ und „Ester“ erweitert. Im Fokus der „Konzepte“ kamen die „Empathische Bibeldidaktik“ und „Bibeldidaktik und religiöse Sprachbildung“ hinzu. Beiträge zu „(Vor-)Lesen“, „Auswendiglernen“, „Bibellesetagebuch“, „Standbilder“, „Arbeit mit Bibelfliesen“ sowie „künstlerisch-kreatives Arbeiten“ bereichern nun den Fokus „Methoden“. Der Bereich „Lernende und Lesende“ wurde durch „Die Bibel in der verbandlichen Jugendarbeit“ ausgeweitet.

Für die Mitarbeit bei dieser Auflage danken wir Nils Euteneuer, Friederike Heselmeier, Lara Hauzel und Britta Vaorin sehr herzlich. Die verlegerische Betreuung dieser Auflage hat Rebekka Zech (Mohr Siebeck) in vorbildlicher Weise geleistet.

Möge die Aktualisierung und das Handbuch überhaupt dazu beitragen, dass an allen Lernorten der Religionspädagogik mit dem Buch der Bücher zeitgerecht und kontextgemäß gearbeitet werden kann.

Siegen und Mainz, im April 2018 Mirjam und Ruben Zimmermann

[Zum Inhalt]

|1|Bibeldidaktik – eine Hinführung und Leseanleitung

Mirjam Zimmermann/Ruben Zimmermann

Die Bibel – ein didaktisches Buch

Die Bibeldidaktik fragt nach Lehr- und Lernprozessen mit der Bibel. Dies bedarf keiner besonderen Begründung. Wer die Bibel zur Hand nimmt und liest, wird ein Lernender werden. Er oder sie wird mit Fremdheit, Widersprüchen und Unverständnis konfrontiert, entdeckt längst Bekanntes und Vertrautes wieder, folgt zögerlich oder neugierig den Spuren einer eigenen Sprach- und Denkwelt des Gottesglaubens, wird in seiner individuellen Existenz- und Weltsicht angesprochen und herausgefordert, kurzum: Er oder sie wird in einen Prozess des Verstehens und Missverstehens, der Ermutigung und Veränderung oder eben mit anderen Worten: in einen Prozess des Lernens hineingezogen.

Die Bibel war und ist immer schon ein ‚didaktisches Buch‘: Sei es, dass in ganz materialer Hinsicht die Bibel als Lehrbuch und Lesefibel verwendet wurde, sei es, dass die Bibel mit ihren Geschichten und Gestalten zur kollektiven Lehrmeisterin wurde und prägende Spuren in der abendländischen Kulturgeschichte hinterlassen hat, sei es, dass Menschen in ihrer individuellen Suche nach Sinn und Orientierung bis heute in der Bibel Antworten finden, die Bibel somit zum Lernbegleiter wird, mit dem ‚zu leben‘ gelernt werden kann. Nehmen wir diese unterschiedlichen Ebenen des Lernens etwas genauer in den Blick.

Die Bibel lehren und lernen (Die Bibel als Bildungsgegenstand)

Die Bibel kann zunächst in einer eher bildungstheoretischen Perspektive ein Gegenstand von Lernprozessen sein. Hierbei kann man ihre Entstehungsgeschichte, die Kanonisierung, Wirkungs- und Übersetzungsgeschichte oder auch Verwendungsweise in den Blick nehmen. Dies kann allerdings kaum losgelöst von ihren Inhalten, das heißt, ihren Erzählungen und Themen geschehen. Man muss die Geschichten um David oder Johannes den Täufer erst einmal kennen, um entsprechend auch Kunstwerke wie Michelangelos ‚David‘ oder die Johannes-Darstellung in Grünewalds Isenheimer Altar in ihrer Tiefe zu verstehen. Die Josefserzählung von Thomas Mann wird ohne Kenntnis der biblischen Josefsgeschichte kaum umfassend erschlossen werden können.

Die abendländische Kulturgeschichte kann über weite Strecken als eine Rezeptionsgeschichte der Bibel betrachtet werden. Aufgabe einer Bibeldidaktik ist es hierbei, zentrale und wirkmächtige Inhalte der Bibel zu bestimmen, die zu kennen, zum Bildungsgut unserer Kultur zählt. Was muss man über die Bibel wissen, welche repräsentative Auswahl an Texten gilt es zu kennen?

Ein solcher ‚Bildungskanon im Kanon‘ wird durch Lehrpläne oder Kindergottesdienst-Strukturen immer schon gegeben, aber selten reflektiert. Durch |2|die offene Formulierung der Bildungsstandards werden zwar einzelne Texte und Themenfelder nicht mehr en detail festgelegt, umso mehr müssen aber ein Schulcurriculum oder eine einzelne Lehrkraft Entscheidungen über die ‚basic needs‘ des Bibelunterrichts treffen.

Mit der Bibel lehren und lernen (Die Bibel als Lehrmedium)

Man kann es sich in der westlichen Industriegesellschaft kaum vorstellen, dass das Buch der Bücher auch heute noch als Lehrbuch taugt. So wird die Bibel z.B. als ‚Lesebuch‘ in Alphabetisierungskursen in Indonesien[1] eingesetzt. Die Bibel als Lehrmedium hat aber eine lange Tradition. Bildung wurde (und wird) in bestimmten Kreisen des Judentums mit dem Tora-Studium identifiziert. Auch in mittelalterlichen Lateinschulen in Europa wurde anhand der Bibel Sprachlehre von Latein und Griechisch betrieben. Beim Katechismuslernen oder dem Schulsystem der Franckeschen Stiftungen spielte die Bibel auch als Unterrichtsmedium eine zentrale Rolle. Daneben hat die Bibelübersetzung Luthers in hohem Maße die Herausbildung der deutschen Hochsprache beeinflusst. Die Bibelübersetzung wurde zum Lehrmedium der Spracherziehung. Dies gilt auch heute noch in einem weiteren Sinn, indem durch die Bibel religiöse Sprachkompetenz entwickelt, ja erst ermöglicht wird.[2] Noch grundsätzlicher gilt, dass gerade auch die mediale Verfasstheit der Bibel Lernprozesse anregt: Die Gattung ‚Parabel‘ zum Beispiel kann zum gleichnishaften Sprechen und Denken führen, die Viergestalt des Evangeliums zur pluriformen Rede von Gott ermutigen, die intertextuelle Bezugnahme des NTs auf die hebräische Bibel die Referenzialität auf Prätexte grundlegen. Wir nennen diese Entsprechung zwischen Textmerkmalen und didaktischer Umsetzung die „mimetische Bibeldidaktik“[3]. Nach Grethlein soll die Doppelgestalt des Evangeliums als „Übertragungsmedium der personalen Kommunikation und (als) Speichermedium der apersonalen Bücher“[4] auch |3|didaktisch zur Entfaltung kommen, was etwa durch einen „kommunikative(n) Umgang mit der Bibel“[5] als personale Interaktion geschehe.

 

Doch auch jenseits einer eher binnenreligiösen Bildung können mit der Bibel Lernprozesse ausgelöst werden:[6] Das genaue und kritische Bibellesen hat das kritische Denken der europäischen Geistesgeschichte maßgeblich beeinflusst, wie anhand der epochalen Umbrüche von Reformation und Aufklärung unschwer nachvollziehbar ist. Auch heute bergen das „prophetisch-kritische“ sowie das „kritisch-utopische“[7] Potenzial der biblischen Texte Chancen der kritischen Wahrnehmung der bestehenden Welt, sowie der Entfaltung visionärer Gegenwelten, so dass gerade die Gegenwarts- und Zukunftsbedeutung im Lernprozess akzentuiert werden. Unzweifelhaft hat sich die wissenschaftliche Disziplin der Hermeneutik aus dem Bibelverstehen heraus entwickelt. Die Bedingungen und Möglichkeiten der Verstehenslehre wurden anhand der Bibellektüre gewonnen, man denke nur an Vorreiter der Hermeneutik wie Chladenius, Dannhauer oder Schleiermacher.[8] Entsprechend kann durch Lernen mit der Bibel ‚hermeneutische Kompetenz‘ erworben werden, die ermöglicht, „das historisch und theologisch exemplarisch Erlernte auf andere Textzeugnisse und Zusammenhänge (zu) übertragen“.[9] Die Beispiele ließen sich reichlich vermehren, wie etwa Theißen gezeigt hat, der den Beitrag der Bibel sogar umfassend „zur Erschließung der |4|Wirklichkeit in Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften“[10] reflektiert. Nicht nur die Inhalte der Bibel werden somit zum Lerngegenstand, vielmehr regt die Bibel auch als Medium Lern- und Bildungsprozesse an.

Durch die Bibel lehren und lernen
(Die Bibel als Katalysator umfassenden Lernens)

„Leben zu lernen ist der Endzweck aller Auferziehung“.[11] Dieses pädagogische Grundbekenntnis Pestalozzis lässt sich ebenso auf die Bibel übertragen.[12]

In der Diktion Luthers lautet das so: Die Bibel „enthält nicht Lesewort (…), sondern eitel Lebewort (…), die nicht zum speculiren und hoch zu tichten sondern zum leben und thun dargesetzt sind“.[13] Das Lernen mit der Bibel erschöpft sich nicht in einer Zur-Kenntnisnahme von Inhalten oder einer medialen Inspiration, sondern schließt auch einen umfassenderen Lernprozess im Blick auf das Selbst- und Weltverständnis ein. Die Beschäftigung mit der Bibel kann dann im gelingenden Fall auch zur Lebensorientierung und -bewältigung im Horizont der Gotteserfahrung beitragen.[14]

Bereits das Konzept einer ‚Lebenswelthermeneutik‘ reduziert das Verstehen eines Textes nicht auf das Aufdecken einer intentio auctoris oder intentio operis, |5|die historische oder objektivierende Distanz zwischen dem Gegenstand und dem verstehenden Subjekt schaffen. Verstehen ist nicht bloßes Decodieren eines externen Sinns. Verstehen bedeutet mit Ricœur vor allem auch „Sich verstehen vor dem Text“.[15] Auf diese Weise kann der Lernprozess mit der Bibel zur veränderten Selbst- und Weltsicht[16] sowie zu neuen Handlungsmöglichkeiten führen. Lebensbewältigung kann gemäß biblischer Anthropologie und Soziallehre aber kein einzelnes Individuum für sich allein erreichen. Der Mensch ist eingebunden in eine Gemeinschaft mit anderen. Auch die Lernprozesse mit der Bibel vollziehen sich in Gemeinschaft, im kollektiven Erinnern und Orientieren und in der gemeinschaftlichen Suche nach Sinn und Wahrheit. Dies gilt auf unterschiedlichen Ebenen, sei es in kleinen Lerngruppen wie Schulklasse oder Konfirmandengruppe, in Bibelkreisen von Gemeinde und Altenheim, aber ebenso auch auf der Ebene der Wissenschaften an der Universität. Bibeldidaktik kann so gesehen auch einen Beitrag zum „Orientierungswissen“[17] der Geisteswissenschaften leisten.

Lebensorientierung und schon gar -bewältigung schließt im Sinne der biblischen Botschaft jedoch immer schon das ‚extra nos‘ mit ein. Man kann Lebensgewinn nicht ‚machen‘ oder anerziehen. Die grundsätzliche Unverfügbarkeit von gelingenden Lernprozessen kann dann im Blick auf die Bibeldidaktik als Wirken des Heiligen Geistes oder als Geschenk von Hoffnung und Glauben im Lernprozess mit der Bibel beschrieben werden. Wenn biblisches Lernen Identitätsbildung und Lebensbewältigung ermöglicht, dann schließt das deshalb u.E. eine theologische Dimension immer schon mit ein.[18] Erst jetzt, im Prozess der aneignenden Sinnfindung, wird die Bibel zum ‚lebendigen Wort Gottes‘, das sich vom toten Buchstaben eines vergangenen Kulturguts abhebt. Gleichwohl muss dies nicht bedeuten, dass die Bibeldidaktik erst dann zum Ziel kommt, |6|wenn die „Schüler/innen zu Christen“[19] werden. Der Lebensgewinn kann auf unterschiedlichen Ebenen und mit unterschiedlicher Reichweite und Graden an Bewusstsein einsetzen. Es ist jedoch die im engeren Sinn theologische Dimension, d.h. die ökumenische Überzeugung, dass die Bibel wirklich bleibend etwas mit Gott zu tun hat, die den Lebensgewinn des biblischen Lernens von jedem anderen Lernen mit Literatur unterscheidet.

Die drei Ebenen des biblischen Lernens hängen eng zusammen. Nehmen wir als Beispiel das Erzählen. Die großen „Meistererzählungen“[20] der Bibel von der Geschichte Gottes mit dem Volk Israel und die Jesusgeschichte ebenso wie kostbare Erzählminiaturen gilt es, zunächst als Bildungsgut kennen zu lernen und etwa mit narratologischen Methoden zu analysieren oder ihren historiographischen Wert als Erinnerungsmedien wahrzunehmen.[21] Das Medium biblischen Erzählens ermöglicht und fördert wiederum eigene Erzählkompetenz, mit der Vergangenheit erinnert und Gegenwart kommuniziert werden kann. Weil Menschen „in Geschichten verstrickt“ sind (Schapp[22]), brauchen sie Geschichten, um die Welt und sich zu verstehen. Wenn nun die „zwei Erzählwelten“ der Bibel und des Rezipienten aufeinandertreffen und miteinander in Dialog treten,[23] kann „narrative Identität“[24] entstehen, die Lebensbewältigung |7|ermöglicht, besonders wenn die eigene Lebensgeschichte in den Horizont der biblisch vermittelten Gottesgeschichte eingezeichnet wird.