Gewalt gegen Frauen

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Gewalt gegen Frauen
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Herausgeber:

Christian Schwarzenegger, Reinhard Brunner

Gewalt gegen Frauen

Fachtagung Bedrohungsmanagement

Tagungsband 2019



Gewalt gegen Frauen von EIZ Publishing wird unter Creative Commons Namensnennung-Nicht kommerziell-Keine Bearbeitung 4.0 International lizenziert, sofern nichts anderes angegeben ist.

© 2021 – CC BY-NC-ND (Werk), CC-BY-SA (Texte)

Verlag: EIZ Publishing (eizpublishing.ch) Herausgeber: Christian Schwarzenegger, Reinhard Brunner, Europa Institut an der Universität Zürich Produktion, Satz & Vertrieb: buch & netz (buchundnetz.com) Cover: buch & netz ISBN: 978-3-03805-354-5 (Print – Softcover) 978-3-03805-380-4 (PDF) 978-3-03805-381-1 (ePub) 978-3-03805-382-8 (mobi/Kindle) DOI: https://doi.org/10.36862/eiz-354 Version: 1.02-20210301

Dieses Werk ist als gedrucktes Buch sowie als E-Book in verschiedenen Formaten verfügbar. Weitere Informationen finden Sie unter der URL:

https://buchundnetz.com/werke/gewalt-gegen-frauen/

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Vorwort

Gewalt gegen Frauen hat vielfältige und meist schwerwiegende Folgen. Entsprechende Straftaten beeinträchtigen nicht nur die betroffenen Opfer, sondern belasten auch deren Angehörige und die Gesellschaft als Ganzes. Gewalt gegen Frauen hat verschiedene Ausprägungen: Sie zeigt sich vor allem in Form von häuslicher Gewalt. Am 1. April 2018 ist das Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt – die sogenannte Istanbul-Konvention ­– in der Schweiz in Kraft getreten. Dies unterstreicht, dass Gewalt gegen Frauen in keiner Form toleriert werden darf. Die Konvention dient als Orientierungsrahmen für die Intensivierung der Gewaltprävention, des Gewaltschutzes und der Strafverfolgung in der Schweiz.

Anlässlich der Fachtagung Bedrohungsmanagement – Gewalt gegen Frauen wurde interdisziplinär zur Istanbul-Konvention sowie zu einzelnen Umsetzungsmassnahmen informiert und diskutiert. Die entsprechenden Ergebnisse bilden den Inhalt dieses Sammelbandes.

Luzia Siegrist, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich Häusliche Gewalt beim Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann, befasst sich mit den Inhalten und den Überwachungsmechanismen der Istanbul-Konvention und zeigt auf, wie die Konvention in der Schweiz umgesetzt wird.

Reinhard Brunner, Chef der Präventionsabteilung der Kantonspolizei Zürich, erläutert, welche Rolle die Istanbul-Konvention für die polizeiliche Gewaltprävention spielt und wie sich das Bedrohungsmanagement im Bereich der häuslichen Gewalt in Zürich und auf Bundesebene entwickelt hat.

Claudia Wiederkehr, leitende Staatsanwältin der Staatsanwaltschaft Limmattal / Albis, befasst sich mit der Stellung und dem Schutz von gewaltbetroffenen Frauen im Strafverfahren und zeigt auf, welche Schwierigkeiten sich im Rechtsalltag stellen.

Rosa Maria Martinez, Oberärztin Leitung Klinische Rechtsmedizin des Instituts für Rechtsmedizin, erläutert die grosse Bedeutung der klinischen Rechtsmedizin für die strafrechtlicher Verfolgung von häuslicher Gewalt und Sexualdelikten gegen Frauen sowie die sich dabei stellenden Probleme.

Regina Carstensen, eine auf Opfervertretung spezialisierte Anwältin, legt dar, welche grosse Bedeutung die Zusammenarbeit von Rechtsvertretern und Beratungsstellen bei der Betreuung von Opfern häuslicher Gewalt hat. Anhand konkreter Beispiele zeigt sie auf, welche Schwierigkeiten sich im Verfahren stellen können und wo aus Sicht der Opfer noch Verbesserungsbedarf besteht.

Rahel Ott, Co-Leiterin der Interventionsstelle gegen Häusliche Gewalt, Kantonspolizei Zürich, und Christian Schwarzenegger, Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie an der Universität Zürich, präsentieren die Ergebnisse des in Zusammenarbeit zwischen der Kantonspolizei Zürich, der Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich und dem Kriminologischen Institut der Universität Zürich entstandenen Forschungsprojekts «Polizeiliche und strafrechtliche Massnahmen gegen häusliche Gewalt – Praxis- und Wirkungsevaluation».

Irina Ruf gilt unser herzlicher Dank für die Organisation und das gute Gelingen der Tagung. Gerne möchten wir an dieser Stelle auch Vivian Stein, Noura Mourad und Sue Osterwalder für die Veröffentlichung und Gestaltung dieses Tagungsbandes danken.

Zürich, im Februar 2021

Christian Schwarzenegger/Reinhard Brunner

Inhalt

  Vorwort

  Istanbul-Konvention: Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt in der Schweiz dipl. phil. Luzia Siegrist, Wissenschaftliche Mitarbeiterin Fachbereich Gewalt, Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann EBG, Bern Luzia Siegrist

  Bedrohungsmanagement als Forderung der Istanbul-Konvention: Eine Übersicht zu den Entwicklungen in der Schweiz Hptm Reinhard Brunner, Chef Präventionsabteilung, Kantonspolizei Zürich Reinhard Brunner

  Strafrechtliche Ansätze zur Verbesserung des Schutzes gewaltbetroffener Frauen lic. iur. Claudia Wiederkehr, Leitende Staatsanwältin, Staatsanwaltschaft Limmattal/Albis Claudia Wiederkehr

  Gewalt gegen Frauen aus rechtsmedizinischer Sicht Dr. med. Rosa Maria Martinez, Oberärztin, Bereichsleiterin Klinische Rechtsmedizin, Institut für Rechtsmedizin der Universität Zürich Rosa Maria Martinez

  Zusammenarbeit einer Opferanwältin mit den Beratungsstellen lic. iur. Regina Carstensen, Rechtsanwältin, Vertretung von Opfern Häuslicher Gewalt, Zürich Regina Carstensen

  Praxis- und Wirkungsevaluation polizeilicher und strafrechtlicher Massnahmen gegen häusliche Gewalt - Ergebnisse der Strafaktenanalyse lic. phil. Rahel Ott, Co-Fachverantwortliche Interventionsstelle gegen Häusliche Gewalt, Kantonspolizei Zürich Prof. Dr. iur. Christian Schwarzenegger, Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie an der Universität Zürich Rahel Ott und Christian Schwarzenegger

  Publikationsliste

Istanbul-Konvention:
Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt in der Schweiz
dipl. phil. Luzia Siegrist, Wissenschaftliche Mitarbeiterin Fachbereich Gewalt, Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann EBG, Bern
Luzia Siegrist
Inhalt

1  Ausgangslage

2  Grundzüge der Istanbul-Konvention Struktur Präambel Koordinierte politische Massnahmen (Kapitel II) Prävention (Kapitel III) Schutz und Unterstützung (Kapitel IV) Materielles Recht (Kapitel V) Polizeiliche Ermittlungen, Strafverfolgung, Verfahrensrechte und Schutzmassnahmen (Kapitel VI) Migration und Asyl (Kapitel VII) Internationale Zusammenarbeit und Überwachungsmechanismus (Kapitel VIII und IX)

3  Angebrachte Vorbehalte der Schweiz

4  Überwachungsmechanismus

5  Umsetzung der Istanbul-Konvention in der Schweiz Gemeinsames Vorgehen von Bund und Kantonen Massnahmen in Umsetzung der Istanbul-Konvention

6  Literaturverzeichnis

7  Materialienverzeichnis

Ausgangslage

Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt sind auch in der Schweiz ein weit verbreitetes gesellschaftliches Problem. Die Polizei rückt schweizweit mehrmals pro Tag deswegen aus, so beispielsweise dreizehnmal täglich im Kanton Zürich.[1] Im Jahr 2018 wurden 18’522 Straftaten polizeilich registriert, die dem Bereich der häuslichen Gewalt zugerechnet werden konnten; das sind 38% der für den häuslichen Bereich relevanten Straftaten. 73% der geschädigten Personen waren Frauen, 76% der beschuldigten Personen waren Männer. 49% der aufgeklärten vollendeten Tötungsdelikte ereigneten sich 2018 im häuslichen Bereich, ebenso 42% der Vergewaltigungen und 48% der Tätlichkeiten. Für 27 Menschen endete die häusliche Gewalt tödlich.[2] Häusliche Gewalt kostet die Schweiz vorsichtig geschätzt mindestens 164 Mio. Franken pro Jahr, alleine die Kosten für Polizei und Justiz belaufen sich auf rund 49 Mio. Franken jährlich.[3]

 

Angesichts dieses Ausmasses und der einschneidenden individuellen und gesellschaftlichen Folgen ist das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt[4] auch für die Schweiz von grosser Relevanz. Das Abkommen wurde am 11. Mai 2011 vom Ministerkomitee des Europarats in Istanbul zur Unterzeichnung aufgelegt; es wird daher auch als Istanbul-Konvention bezeichnet.

Die Schweiz unterzeichnete das Übereinkommen am 11. September 2013, am 1. April 2018 trat es in Kraft. Aktuell haben alle Europaratsmitgliedstaaten mit Ausnahme von Aserbaidschan und Russland die Istanbul-Konvention unterzeichnet oder bereits ratifiziert. Als erste internationale Organisation hat die EU das Übereinkommen am 13. Juni 2017 unterzeichnet.[5]

Grundzüge der Istanbul-Konvention
Struktur[6]

Die Istanbul-Konvention ist das bisher umfassendste internationale Übereinkommen, das sich die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt zum Ziel gesetzt hat. Europaweit ist sie das erste bindende Instrument, das Betroffene vor jeglicher Form von Gewalt schützt.[7] Die Eckpfeiler dazu bilden die vier „P“ Prevention – Protection – Prosecution – integrated Policies, also Gewaltprävention, Opferschutz, Strafverfolgung und integrale, d.h. koordinierte und aufeinander abgestimmte politische Massnahmen. Ziel ist es, die verschiedenen nationalen Gesetzgebungen im europäischen Raum und darüber hinaus zu harmonisieren, die Gewalt gegen Frauen und die häusliche Gewalt auf einem europaweit vergleichbarem Standard zu verhüten und zu verfolgen und die Zusammenarbeit und den Informationsaustausch zwischen den Vertragsstaaten zu intensivieren und zu vereinfachen.[8] Die Konvention ist in 12 Kapitel und 81 Artikel gegliedert (Abb. 1):


Abbildung 1:Strukturelle Übersicht Istanbul-Konvention
Struktur: 12 Kapitel und 81 Artikel
I Zweck, Begriff, Gleichstellung, allg. Verpflichtungen Art. 1-6
II Koordinierte politische Massnahmen, Finanzierung, Daten Art. 7-11
III Prävention Art. 12-17
IV Schutz und Unterstützung Art. 18-28
V Materielles Recht Art. 29-48
VI Ermittlungen, Strafverfolgung, Verfahrensrecht, Schutzmassnahmen Art. 49-58
VII Migration und Asyl Art. 59-61
VIII Internationale Zusammenarbeit Art. 62-65
IX Überwachungsmechanismus Art. 66-70
X-XII Verhältnis zu anderen völkerrechtlichen Übereinkommen, Änderungen des Übereinkommens und Schlussbestimmungen Art. 71-81

Die Istanbul-Konvention findet auf alle Formen von Gewalt gegen Frauen Anwendung, einschliesslich der häuslichen Gewalt, welche Frauen unverhältnismässig stark betrifft (Art. 2 Abs. 1). Zudem will sie einen Beitrag zur Beseitigung der Diskriminierung der Frau leisten und die Gleichstellung von Frau und Mann fördern. So müssen die Vertragsstaaten namentlich psychische, physische und sexuelle Gewalt, Stalking, Zwangsheirat, die Verstümmelung weiblicher Genitalien sowie Zwangsabtreibung und Zwangssterilisierung für strafbar erklären.[9] Aber auch die Verpflichtung zu Präventiv- und Schutzmassnahmen sind enthalten. Weiter werden die Vertragsstaaten ermutigt, das Übereinkommen auf alle Opfer häuslicher Gewalt anzuwenden (Art. 2 Abs. 2), also unabhängig von Geschlecht oder sexueller Orientierung, und dies in Friedenszeiten als auch in Situationen bewaffneter Konflikte (Art. 2 Abs. 3).

Präambel

In der Präambel wird festgehalten, „dass die Verwirklichung der rechtlichen und der tatsächlichen Gleichstellung von Frauen und Männern ein wesentliches Element der Verhütung von Gewalt gegen Frauen ist“, die Tatsache anerkannt, „dass Gewalt gegen Frauen der Ausdruck von historisch gewachsener ungleicher Machtverhältnisse zwischen Frauen und Männern ist, die zur Beherrschung und Diskriminierung der Frau durch den Mann geführt haben“, sowie „dass Gewalt gegen Frauen als geschlechtsspezifische Gewalt strukturellen Charakter hat“ und „einer der entscheidenden sozialen Mechanismen ist, durch den Frauen in eine untergeordnete Position gegenüber Männern gezwungen werden“.

Koordinierte politische Massnahmen (Kapitel II)

Die Vertragsstaaten verpflichten sich, umfassende und koordinierte politische Massnahmen zu beschliessen und umzusetzen (Art. 7), angemessene finanzielle und personelle Mittel für die Umsetzung zu gewähren (Art. 8), mit im Feld aktiven nichtstaatlichen Organisationen und der Zivilgesellschaft wirkungsvoll zusammenzuarbeiten und diese zu fördern und zu unterstützen (Art. 9) sowie statistische Daten zu allen durch das Übereinkommen umfassten Gewaltformen zu sammeln und aufzuschlüsseln (Art. 11).

Prävention (Kapitel III)

Im Präventionskapitel werden sowohl Massnahmen zur Primärprävention wie allgemeine Sensibilisierungskampagnen (Art. 13), Allgemeinbildung zu Gleichstellungs- und Gewaltthemen im gesamten Bildungssystem (Art. 14) oder in den Medien (Art. 17) genannt als auch Massnahmen zur Sekundärprävention wie berufsspezifische Aus- und Weiterbildungen (Art. 15) oder Lernprogramme für Täter und Täterinnen (Art. 16).

Schutz und Unterstützung (Kapitel IV)

Unter den Schutz- und Hilfsmassnahmen sind die Vertragsstaaten aufgefordert, Opfer über Hilfseinrichtungen und Rechtswege in einer für sie verständlichen Sprache zu informieren (Art. 19), Schutzunterkünfte in ausreichender Zahl zur Verfügung zu stellen, insbesondere für Frauen und ihre Kin­der (Art. 23), eine kostenlose, rund um die Uhr verfügbare Telefonberatung einzurichten (Art. 24), spezifische Unterstützungsangebote wie beispielsweise gerichtsmedizinische Untersuchungen und Trauma­bearbeitung für Opfer sexueller Gewalt (Art. 25) sowie Schutz und Unterstützung für von häuslicher Gewalt mitbetroffene Kinder inkl. einer altersgerechten, psycho-sozialen Beratung (Art. 26) vorzusehen.

Materielles Recht (Kapitel V)

In Kapitel V werden die notwendigen Zivilverfahren und Rechtsbehelfe sowie Möglichkeiten für Schadenersatz und Entschädigungsforderungen für Opfer genannt (Art. 2930), es wird auf die Berücksichtigung von Gewaltvorfällen bei Besuchs- und Sorgerechtsentscheiden hingewiesen (Art. 31), die strafbar zu erklärenden Gewaltformen aufgezählt (Art. 3342) und weitere für das materielle Recht relevante Punkte, wie z.B. Gerichtsbarkeit und Sanktionen, geregelt (Art. 4348).

Polizeiliche Ermittlungen, Strafverfolgung, Verfahrensrechte und Schutzmassnahmen (Kapitel VI)

Die Vertragsstaaten werden zu umgehenden Schutzmassnahmen für die Opfer verpflichtet (Art. 50), zur Errichtung eines Bedrohungsmanagements, um wiederholte Gewaltvorfälle abwehren zu können (Art. 51), zur Verfolgung der Straftaten von Amtes wegen, auch wenn das Opfer seine Aussage oder Anzeige zurückzieht (Art. 55), sowie zu opferfreundlichen Massnahmen im Strafverfahren, wie beispielsweise die Einbindung der Opfer in den Prozess oder die Information über dessen aktuellen Stand (Art. 56).

Migration und Asyl (Kapitel VII)

Dem Bereich Migration und Asyl ist ein eigenes Kapitel gewidmet, wonach für Gewaltopfer bei besonders schwierigen Umständen auf Antrag ein von der Ehefrau oder dem Ehemann unabhängiges Aufenthaltsrecht gefordert wird (Art. 59), geschlechtsspezifische Gewalt als Form der Verfolgung anerkannt werden soll (Art. 60) und das Non-Refoulement-Gebot verankert ist (Art. 61).

Internationale Zusammenarbeit und Überwachungsmechanismus (Kapitel VIII und IX)

Im Kapitel über die internationale Zusammenarbeit werden die Pflichten zum Informationsaustausch über gefährdende Personen (Art. 63) und zum Datenschutz (Art. 65) ausgeführt. In Kapitel IX wird der Monitoring-Mechanismus für eine effektive Umsetzung des Übereinkommens geregelt.

Angebrachte Vorbehalte der Schweiz

Die Istanbul-Konvention eröffnet den Vertragsstaaten in Art. 78 die Möglichkeit, Vorbehalte, welche sehr restriktiv gehandhabt werden, anzubringen. Die Schweiz hat die vier folgenden Vorbehalte angebracht:

 Art. 44 Abs. 1 Bst. e – Gerichtsbarkeit bei Personen, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Schweiz haben: Im schweizerischen Strafrecht ist der gewöhnliche Aufenthalt per se kein Anknüpfungspunkt für die Ausübung der schweizerischen Gerichtsbarkeit. Massgebend sind namentlich der Ort der Begehung der Tat bzw. die Staatsangehörigkeit von Tatperson oder Opfer, weshalb hier die Schweiz von der Vorbehaltsmöglichkeit Gebrauch macht.[10]

 Art. 44 Abs. 3 – Gerichtsbarkeit für bestimmte, im Ausland begangene Straftaten: Im schweizerischen Strafrecht sieht Art. 5 StGB[11] den Verzicht auf die doppelte Strafbarkeit für bestimmte im Ausland begangene sexuelle Straftaten dann vor, wenn diese gegen Minderjährige, nicht jedoch wenn sie gegen Erwachsene gerichtet waren. Für die Tatbestände Zwangsabtreibung und Zwangssterilisation sind ebenfalls keine entsprechenden Bestimmungen im StGB vorgesehen. Deshalb nimmt die Schweiz die Vorbehaltsmöglichkeit bezüglich der Gerichtsbarkeit von im Ausland begangener sexueller Gewalt gegen Erwachsene (Art. 189 und 190 StGB) sowie Zwangsabtreibung und Zwangssterilisation (Art. 118 Abs. 2 und 122 StGB) in Anspruch.[12]

 Art. 55 – Verfahren auf Antrag und von Amtes wegen: In der Schweiz sind die gemäss Istanbul-Konvention massgeblichen Straftatbestände, mit teilweiser Ausnahme der einfachen Körperverletzung (Art. 123 StGB), als Offizialdelikte ausgestaltet. Einfache Körperverletzung wird dann von Amtes wegen verfolgt, wenn sie sich u.a. gegen ein Kind, den Ehegatten oder die Ehegattin oder den Lebenspartner oder die Lebenspartnerin richten. Somit bleibt ein Randbereich von konventionsrelevanten leichten Formen körperlicher Gewalt, die nicht von Amtes wegen verfolgt werden (z.B. einfache Körperverletzung gegen Frauen im öffentlichen Raum oder im privaten Raum unter Geschwistern), so dass die Schweiz hier von der Vorbehaltsmöglichkeit Gebrauch macht.[13]

 

 Art. 59 – Aufenthaltsstatus: Opfern einer Gewaltform der Istanbul-Konvention, deren Aufenthaltsstatus vom Zivilstand der Ehe oder eingetragener Partnerschaft abhängt, ist bei einer Auflösung dieser Ehe oder Partnerschaft eine eigene Aufenthaltsgenehmigung von begrenzter Dauer zu gewähren.[14] Bei Vorliegen wichtiger persönlicher Gründe (z.B. Opfer ehelicher Gewalt) haben Ehegattinnen und Ehegatten von Schweizer Bürgerinnen und Bürgern sowie Niedergelassenen nach Art. 50 AIG[15] einen Anspruch auf Erteilung oder Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung nach Auflösung der Familiengemeinschaft, nicht aber Ehegattinnen und -gatten von Jahres- und Kurzaufenthaltern; die Schweiz nimmt deshalb die Vorbehaltsmöglichkeit in Anspruch.[16]